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BGH, 06.07.1965 - 5 StR 229/65

Daten
Fall: 
Heilung von Belehrungsmängeln
Fundstellen: 
BGHSt 20, 234; MDR 1965, 925; NJW 1965, 1870
Gericht: 
Bundesgerichtshof
Datum: 
06.07.1965
Aktenzeichen: 
5 StR 229/65
Entscheidungstyp: 
Urteil
Richter: 
Sarstedt, Koffka, Schmitt, Börker, Kersting
Instanzen: 
  • LG Lüneburg, 29.01.1965

Nachträgliche Heilung der Nichtbelehrung eines Zeugen über sein Recht, als Angehöriger des Angeklagten die Untersuchung auf seine Glaubwürdigkeit zu verweigern (Ergänzung zu BGHSt 13, 394).

Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts in Lüneburg vom 29. Januar 1965 mit den Feststellungen im Strafausspruch aufgehoben.

In diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Jugendkammer des Landgerichts in Stade zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Der Angeklagte beanstandet mit der Revision das Verfahren. Er erhebt außerdem die allgemeine Sachrüge und wendet sich mit Einzelausführungen gegen die Nichtanrechnung der Untersuchungshaft. Das Rechtsmittel hat teilweise Erfolg.

I. Verfahrensrügen

1. Die Rüge, der Angeklagte sei in der Hauptverhandlung am 27. Januar 1965 vor der Vernehmung der Zeugin Carmen L., seiner Schwiegermutter, aus dem Sitzungssaal entfernt worden, ohne daß ein Gerichtsbeschluß vorgelegen habe und ohne daß in der Begründung die näheren Tatsachen bezeichnet worden seien, greift nicht durch. Nach der Sitzungsniederschrift vom 27. Januar 1965 (Bl. 148 Rs.d.A.) hat allerdings entgegen § 247 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht das Gericht, sondern der Vorsitzende vor der Vernehmung der Zeugin angeordnet, daß der Angeklagte aus dem Sitzungssaal zu entfernen ist, weil zu befürchten sei, daß die Zeugin in Anwesenheit des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde. Dieser verfahrensrechtliche Verstoß nötigt jedoch nicht zur Aufhebung des Urteils. Denn er ist später durch einwandfreie Wiederholung des fehlerhaften Teils der Hauptverhandlung, soweit dieser wesentlich war, geheilt worden. Am 27. Januar 1965 war Frau L. nur zur Person vernommen worden; nach Belehrung gemäß § 52 Abs. 2 StPO hatte sie als Schwiegemutter des Angeklagten die Aussage verweigert (Bl. 148 Rs.d.A.). Zwei Tage später, am 29. Januar 1965, ist Frau L. erneut als Zeugin aufgerufen und, nunmehr in Gegenwart des Angeklagten, belehrt sowie zur Sache vernommen worden (Bl. 150 Rs.d.A.). Daß hierbei das Gericht die Zeugin nicht auch erneut zur Person vernommen hat, schadet nichts, da die von der Zeugin hierzu gemachten Angaben dem Angeklagten als Schwiegersohn ohnedies bekannt waren. Insoweit handelte es sich um einen unwesentlichen Teil der Hauptverhandlung. Damit entfällt eine Aufhebung gemäß § 338 Nr. 5 StPO.

2. Entgegen der Ansicht der Revision hat das Landgericht das durch Art. 10 Satz 1 GG garantierte Grundrecht des Briefgeheimnisses nicht verletzt. Während der Dauer der Untersuchungshaft unterlag ebenso wie die ausgehende Post des Angeklagten auch die für ihn eingehende Post zur Sicherung des Haftzweckes und zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefängnis gemäß § 116 Abs. 2 StPO a.F. der Überwachung durch den zuständigen Richter oder Staatsanwalt (vgl. auch Nr. 31 ff UVollzO). Da sich hierbei ergeben hatte, daß sich auch der Brief der Ehefrau Gunvor H. an den Angeklagten vom 24. Dezember 1964 mit dem gegenwärtigen Strafverfahren befaßt, durfte das Landgericht ihn nach § 94 StPO schon deshalb beschlagnahmen, weil er als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein konnte. Einen u.a. aus diesem Grund beschlagnahmten Brief in der Hauptverhandlung als Beweismittel zu verlesen, verstößt weder gegen die §§ 249, 261 StPO noch gegen eine sonstige Verfahrensvorschrift.

3. Unbegründet ist die Rüge, das Landgericht habe die Vorschriften der §§ 59 bis 61, 72, 85 StPO verletzt, weil es die Bekundungen des Sachverständigen zum Teil als Zeugenaussage gewertet habe, ohne ihn dementsprechend auch als Zeugen zu vereidigen. Die im Urteil angeführten Ausführungen des Sachverständigen (die religiösen und ethischen Vorstellungen der 14jährigen Zeugin Ilonka L. seien so weit entwickelt, daß sie einfachen Rachegelüsten keinen Raum gebe) betreffen nicht Tatsachen, die der Sachverständige zum Tatgeschehen (als sogenannte Zusatztatsachen) bekundet hat, sondern geben Erkenntnisse (sogenannte Befundtatsachen) wieder, die nur er auf Grund seiner Sachkunde und wissenschaftlichen Erfahrung gewinnen konnte (vgl. BGHSt 18,107). Seiner Vereidigung als Zeugen bedurfte es daher nicht.

4. Die Rüge wegen der nicht verlesenen ärztlichen Bescheinigung des Dr. med. H. Heitmann vom 30. September 1964 (Bl. 6 d.A.) ist offensichtlich unbegründet.

5. Die Zeugin Ilonka L. gehört als Stieftochter des Angeklagten zu den Personen, die nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO das Zeugnis verweigern dürfen. Sie hätte daher, ehe sie durch den Sachverständigen Dr. Prüter auf ihre Glaubwürdigkeit untersucht wurde, richterlich darüber belehrt werden müssen, daß sie als Angehörige des Angeklagten berechtigt war, diese Untersuchung abzulehnen (BGHSt 13, 394, 398 [BGH 14.10.1959 - 2 StR 249/59]/399). Das ist dem Beschwerdeführer zuzugeben. Trotzdem kann seine Rüge keinen Erfolg haben. Denn nach der Untersuchung ist Ilonka in der Hauptverhandlung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden. Sie hat erklärt, sie wolle aussagen, und hat das auch getan. Sie hat sich also nach Hinweis auf ihre Konfliktslage und ihr daraus folgendes Recht freiwillig als Beweismittel im Strafverfahren gegen ihren Stiefvater zur Verfügung gestellt. Wie dies erkennen läßt, hatte sie innerlich auch nichts dagegen, daß das Gericht die zur Bewertung ihrer Aussage dienenden Untersuchungsergebnisse des Sachverständigen verwendete. Wäre sie danach in der Hauptverhandlung besonders gefragt worden, so hätte sie sicherlich ausdrücklich zugestimmt. Denn wenn das Angehörigenverhältnis sie nicht bewog, überhaupt ihre Aussage zu verweigern, konnte es für sie erst recht kein Grund sein, zu verhindern, daß sich das Gericht bei der Würdigung dieser Aussage der sachkundigen Hilfe bediente, die es für nötig hielt. Aus diesen Gründen kann ihr Verhalten in der Hauptverhandlung einer nachträglichen, auf Grund besonderer Belehrung ausdrücklich erteilten Zustimmung gleichgesetzt werden. Da diese zulässig und wirksam ist (BGHSt 12, 235, 242) [BGH 08.12.1958 - GSSt - 3/58], durfte der Sachverständige in der Hauptverhandlung über den Untersuchungsbefund gehört werden.

Die Bemerkung in BGHSt 13, 394, 399 [BGH 14.10.1959 - 2 StR 249/59], die Nichtbelehrung vor der Untersuchung könne "nur" dadurch unschädlich gemacht werden, daß das Untersuchungsergebnis nicht verwertet werde, steht nicht entgegen. Denn die genannte Entscheidung betrifft den andersartigen Fall, daß der Untersuchte in der späteren Hauptverhandlung sein Zeugnis verweigert.

Da Ilonka L. zur Zeit der Vernehmung bereits 14 Jahre alt war und über normale Intelligenz verfügte, konnte das Landgericht ohne Rechtsirrtum davon ausgehen, daß sie selbst die zum Verständnis ihres Weigerungsrechts erforderliche Reife besaß, ihr gesetzlicher Vertreter also nicht zuzustimmen brauchte (vgl. BGHSt 14, 159 [BGH 02.03.1960 - 2 StR 44/60]; 19, 85) [BGH 07.08.1963 - 4 StR 270/63].

6. Ohne Erfolg rügt die Revision endlich, das Landgericht habe § 244 (nicht § 254) StPO dadurch verletzt, daß es kein amtsärztliches Gutachten über die Glaubwürdigkeit der Zeugin Ilonka L. eingeholt habe. Die Strafkammer hat den dahingehenden Beweisantrag der Verteidigung mit der Begründung abgelehnt, daß durch das Gutachten des vernommenen Sachverständigen Dr. Prüter das Gegenteil der behaupteten Beweistatsache erwiesen sei und keine der in § 244 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO bezeichneten Voraussetzungen für die Anhörung eines weiteren Sachverständigen vorliege. Das entspricht dem Gesetz. Die Nichterhebung des beantragten Beweises verstößt auch nicht gegen die dem Gericht obliegende Aufklärungspflicht.

II. Sachrügen

1. Die Nachprüfung des Urteils auf die allgemeine Sachrüge hat in der Schuldfrage keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergehen.

2. Rechtlichen Bedenken begegnen dagegen der Strafausspruch und die Nichtanrechnung der Untersuchungshaft. Die bloße Tatsache, daß der Angeklagte in der Hauptverhandlung jede Spur von Einsicht oder Reue vermissen ließ, kann noch nicht die Ablehnung der Vergünstigung des § 60 StGB rechtfertigen, weil dies bei einem Angeklagten, der seine Schuld leugnet und deshalb keine Reue zeigen kann, auf die Ausübung unzulässigen Drucks, ein Geständnis abzulegen, hinauslaufen würde. Insoweit und wegen der im übrigen bei der Entscheidung über die Anrechnung der Untersuchungshaft maßgebenden Grundsätze wird auf BGH NJW 1956, 1164 Bezug genommen.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß ein Sachzusammenhang zwischen der Nichtanrechnung und der Strafhöhe besteht, vor allem die genannte Erwägung, ohne daß es im Urteil besonders zum Ausdruck gekommen ist, auch die Strafhöhe zum Nachteil des Angeklagten beeinflußt hat. Das wäre unzulässig (vgl. BGHSt 1, 103, 105) [BGH 05.04.1951 - 4 StR 113/50]. Unter diesen Umständen kann der Strafausspruch nicht bestehenbleiben (vgl. BGHSt 7, 214,217) [BGH 25.01.1955 - 3 StR 552/54].

In der neuen Hauptverhandlung empfiehlt es sich, die Feststellungen, die dem rechtskräftigen Schuldspruch zugrunde liegen, zu verlesen. Sie brauchen jedoch im Urteil nicht wiederholt zu werden.