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EuGH, 28.02.1991 - C-234/89

Daten
Fall: 
Delimitis / Henninger Bräu
Fundstellen: 
EuGH Slg. 1991, I-935; NJW 1991, 2204; DNotZ 1991, 662
Gericht: 
Europäischer Gerichtshof
Datum: 
28.02.1991
Aktenzeichen: 
C-234/89
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Frankfurt/Main, 10.02.1988 - 6 O 270/87
  • OLG Frankfurt, 13.07.1989 - 6 U 69/88
Stichwörter: 
  • Wettbewerb - Bierlieferungsverträge - Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels - Gruppenfreistellung - Befugnisse der nationalen Gerichte.

Leitsätze

1. Ein Bierlieferungsvertrag ist nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag verboten, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfuellt sind. Erstens muß unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände des streitigen Vertrags der nationale Markt für den Absatz von Bier in Gaststätten für Mitbewerber, die auf diesem Markt Fuß fassen oder ihren Marktanteil vergrössern könnten, schwer zugänglich sein. Daß der streitige Vertrag zu einem Bündel gleichartiger Verträge auf diesem Markt gehört, die sich kumulativ auf den Wettbewerb auswirken, ist nur einer unter mehreren Faktoren, anhand deren zu beurteilen ist, ob dieser Markt tatsächlich schwer zugänglich ist. Zweitens muß der streitige Vertrag in erheblichem Masse zu der Abschottungswirkung beitragen, die das Bündel dieser Verträge aufgrund ihres wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhangs entfaltet. Die Bedeutung des Beitrags des einzelnen Vertrags hängt von der Stellung der Vertragspartner auf dem relevanten Markt und von der Vertragsdauer ab.

2. Ein Bierlieferungsvertrag mit einer Öffnungsklausel, der also dem Wiederverkäufer den Bezug von Bier aus anderen Mitgliedstaaten erlaubt, ist nicht geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, wenn über diese Erlaubnis hinaus für einen inländischen oder ausländischen Lieferanten auch eine tatsächliche Möglichkeit besteht, diesen Wiederverkäufer mit Bieren aus anderen Mitgliedstaaten zu beliefern. Ob diese Möglichkeit besteht, ist anhand des Wortlauts der Klausel zu prüfen, wobei freilich auch der konkreten Wirkung sämtlicher Vertragsklauseln unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände Rechnung zu tragen ist.

3. Ein Bierlieferungsvertrag erfuellt nicht die Voraussetzungen, von denen gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1984/83 eine Gruppenfreistellung für diese Vertragsart abhängt, wenn die von der Alleinbezugsbindung erfassten Getränke nicht im Vertragstext selbst aufgeführt sind, sondern vereinbart ist, daß sie sich aus der jeweils gültigen Preisliste der Brauerei oder ihrer Tochtergesellschaften ergeben.

4. Wenn ein Bierlieferungsvertrag, der sich auf eine vom Lieferanten dem Wiederverkäufer verpachtete oder anderweitig zur Benutzung überlassene Gaststätte bezieht und eine Bezugsbindung hinsichtlich anderer Getränke als Bier enthält, deshalb nicht für eine Gruppenfreistellung nach der Verordnung Nr. 1984/83 in Betracht kommt, weil die Voraussetzung des Artikels 8 Absatz 2 Buchstabe b dieser Verordnung betreffend die Möglichkeit des Wiederverkäufers, diese anderen Getränke in bestimmten Fällen von dritten Unternehmen zu beziehen, nicht erfuellt ist, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, daß der gesamte Vertrag gemäß Artikel 85 Absatz 2 EWG-Vertrag nichtig wäre; ein solcher Vertrag kann nämlich gegebenenfalls unter einem anderen Gesichtspunkt freigestellt werden. Eine etwaige Nichtigkeit erfasst nur die nach Artikel 85 Absatz 1 verbotenen Teile des Vertrags. Der gesamte Vertrag ist nur dann nichtig, wenn sich diese Teile nicht von den übrigen Teilen des Vertrags trennen lassen.

5. Sowohl die Artikel 85 Absatz 1 und 86 EWG-Vertrag als auch die Bestimmungen der Freistellungsverordnungen erzeugen unmittelbare Wirkungen in den Beziehungen zwischen einzelnen und lassen unmittelbar in deren Person Rechte entstehen, die die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben. Dies berechtigt diese Gerichte jedoch nicht, den Geltungsbereich der Gruppenfreistellung nach der Verordnung Nr. 1984/83 auf Bierlieferungsverträge auszudehnen, die die Freistellungsvoraussetzungen dieser Verordnung nicht vollständig erfuellen; ebensowenig können sie Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag gemäß Artikel 85 Absatz 3 für unanwendbar auf einen solchen Vertrag erklären. Sie können jedoch gemäß Artikel 85 Absatz 2 die Nichtigkeit dieses Vertrags feststellen, wenn sie die Gewißheit erlangt haben, daß der Vertrag nicht Gegenstand einer Freistellungsentscheidung nach Artikel 85 Absatz 3 sein kann. Im übrigen haben sie stets die Möglichkeit, entweder auf das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zurückzugreifen oder Kontakt mit der Kommission aufzunehmen, die aufgrund ihrer Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit mit den Gerichten der Mitgliedstaaten, die für die Anwendung und Wahrung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der nationalen Rechtsordnung Sorge zu tragen haben, ihnen die wirtschaftlichen und rechtlichen Auskünfte erteilen wird, die sie ihnen liefern kann und deren die Gerichte zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits bedürfen.

Entscheidungsgründe

1 Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat mit Beschluß vom 13. Juli 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung des Artikels 85 EWG-Vertrag und der Verordnung (EWG) Nr. 1984/83 der Kommission vom 22. Juni 1983 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Alleinbezugsvereinbarungen (ABl. L 173, S. 5) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Stergios Delimitis, ehemaliger Pächter einer Gastwirtschaft in Frankfurt am Main (nachstehend: Gastwirt), und der Bierbrauerei Henninger Bräu AG (nachstehend: Brauerei) mit Sitz in Frankfurt am Main. In dem Rechtsstreit geht es um den Geldbetrag, den der Gastwirt nach der Kündigung des am 14. Mai 1985 zwischen den Parteien geschlossenen Pachtvertrags der Brauerei angeblich schuldet.

3 Nach Ziffer 1 dieses Vertrags verpachtet die Brauerei an den Gastwirt eine Gaststätte. Gemäß Ziffer 6 des Vertrags ist der Gastwirt verpflichtet, seinen Bedarf an Bieren in Faß, Flasche und Dose mit den Produkten und Handelswaren der Brauerei und seinen Bedarf an alkoholfreien Getränken bei den Tochtergesellschaften der Brauerei zu decken. Das Sortiment ergibt sich aus den jeweils gültigen Preislisten der Brauerei und ihrer Tochtergesellschaften. Der Gastwirt darf jedoch Biere und alkoholfreie Getränke von Unternehmen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten beziehen.

4 Der Gastwirt hat nach Ziffer 6 ausserdem jährlich mindestens 132 hl Bier zu beziehen. Im Falle des Minderbezugs hat er Schadensersatz wegen Nichterfuellung zu leisten.

5 Der Vertrag wurde von dem Gastwirt am 31. Dezember 1986 gekündigt. Die Brauerei war daraufhin der Ansicht, daß der Gastwirt ihr noch 6 032,15 DM (Miete, Pauschalbetrag wegen Nichterfuellung der Mindestbezugsverpflichtung und verschiedene Nebenkosten) schulde. Diesen Betrag verrechnete sie mit der Pachtkaution, die der Gastwirt ihr gestellt hatte.

6 Der Gastwirt hielt diese Verrechnung für unzulässig und erhob gegen die Brauerei vor dem Landgericht Frankfurt am Main Klage auf Rückzahlung der einbehaltenen Summe. Zur Begründung seiner Klage machte er unter anderem geltend, der Vertrag sei gemäß Artikel 85 Absatz 2 EWG-Vertrag nichtig. Mit Urteil vom 10. Februar 1988 wies das Landgericht die Klage ab. Es war der Auffassung, der Vertrag beeinträchtige nicht den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Artikel 85 Absatz 1, da er insbesondere dem Gastwirt die Möglichkeit belasse, seinen Bedarf in anderen Mitgliedstaaten zu decken; es sei daher unerheblich, daß der Vertrag nicht die Voraussetzungen für eine Gruppenfreistellung nach der Verordnung Nr. 1984/83 erfuelle.

7 Gegen das Urteil des Landgerichts legte der Gastwirt Berufung beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main ein. Dieses war der Auffassung, der Gerichtshof müsse um Vorabentscheidung über die Vereinbarkeit der Bierlieferungsverträge mit den gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften ersucht werden. Es hat ihm deshalb folgende Fragen vorgelegt:

A - 1) Kann ein einzelner Bierlieferungsvertrag mit einer Alleinbezugsvereinbarung wie der Vertrag zwischen den Parteien geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EWG-Vertrag spürbar zu beeinträchtigen, weil er zu einem "Bündel" gleichartiger Bierlieferungsverträge - unabhängig von welcher Brauerei - in dem Mitgliedstaat gehört und sich die Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels nach den Marktauswirkungen dieses "Vertragsbündels" beurteilt?

2) Falls Frage 1 zu bejahen ist:
Wie hoch muß der Bindungsgrad in einem Mitgliedstaat sein, damit eine spürbare Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels vorliegt; würde dazu der von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften für die Bundesrepublik angenommene Bindungsgrad in Höhe von ca. 60 % ausreichen?

3) Falls Frage 1 zu verneinen ist:
Sind die kumulativen Marktauswirkungen der Gesamtheit aller in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Bierlieferungsverträge mit einer Ausschließlichkeitsbindung und/oder der Beitrag des konkreten Vertragswerkes hierzu anhand einer umfassenden Prüfung der jeweiligen Umstände festzustellen; welche Kriterien sind für diese Prüfung maßgeblich, und kommt es insbesondere auf die folgenden Gesichtspunkte an:

- Grösse der bindenden Brauerei,
- Umfang des von einem einzelnen Vertrag erfassten Absatzes,
- Umfang des "gebündelten" Absatzes,
- Zahl, Dauer und Umfang der bestehenden Bindungen und das Verhältnis zu den Absatzmengen freier Verkäufer,
- Bindung des Gastwirtes durch die Brauerei, den Getränkehändler oder den Hauswirt im Rahmen des Mietvertrages,
- Umfang der Gaststättenbelieferung durch nicht gebundene Großhändler,
- Umfang der Bindungen an ausländische Produzenten,
- Dichte der Bindungen in bestimmten geographischen Bereichen,
- Vergleich mit dem Absatz ausserhalb von Schankstätten, Tendenz des Absatzes in diesen Bereichen,
- Möglichkeit, neue Absatzstätten zu errichten oder aufzukaufen?

4) Falls Frage 1 oder Frage 3 zu bejahen ist:
Ist ein Bierbezugsvertrag, der dem Gastwirt den Bezug von Bier aus anderen Mitgliedstaaten ausdrücklich freistellt (Öffnungsklausel), grundsätzlich ungeeignet, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen, oder hängt dies auch davon ab, ob und in welchem Umfang eine Mindestabnahmemenge vereinbart ist und wie bei einem Minderbezug die Rechte der Brauerei (Schadensersatz, Kündigung) geregelt sind?

B - 1) Sind die Voraussetzungen der Artikel 1 und 6 Absatz 1 der Gruppenfreistellungsverordnung (EWG) Nr. 1984/83 erfuellt, wenn die von der Bezugsbindung erfassten Getränke nicht im Vertragstext aufgeführt sind, sondern vereinbart ist, daß sich das Sortiment aus der jeweils gültigen Preisliste der Brauerei ergibt?

2) Ist ein Bierbezugsvertrag insgesamt nicht mehr durch die Verordnung Nr. 1984/83 vom Verbot des Artikels 85 Absatz 1 EWG-Vertrag freigestellt, wenn er eine Bezugsbindung hinsichtlich alkoholfreier Getränke ohne eine Meistbegünstigungsklausel im Sinne des Artikels 8 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1984/83 enthält, wie es Artikel 2 Absatz 1 dieser Verordnung im Zusammenhang mit Ziffer 17 der Bekanntmachung zu den Verordnungen (EWG) Nr. 1983/83 und Nr. 1984/83 der Kommission vom 22. Juni 1983 nahelegen könnte, oder führt dies gemäß Artikel 85 Absatz 2 EWG-Vertrag nur zur Nichtigkeit dieser Bezugsbindung, weil sie nach Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1984/83 an sich noch zulässig ist?

C - Bedarf ein Bierbezugsvertrag, der unter Artikel 85 EWG-Vertrag fällt und nicht die Voraussetzungen der Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 1984/83 erfuellt, immer einer Einzelfreistellung oder ist das nationale Gericht befugt, in Fällen, in denen eine unwesentliche Abweichung von der Gruppenfreistellungsverordnung vorliegt, den Vertrag als wirksam zu behandeln?

8 Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens, des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

9 Mit seinen ersten drei Fragen unter A möchte das vorlegende Gericht wissen, anhand welcher Kriterien zu prüfen ist, ob ein Bierlieferungsvertrag mit Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag vereinbar ist. Die vierte Frage unter A geht im Kern dahin, ob sich an diesen Kriterien etwas ändert, wenn der Bierlieferungsvertrag eine Öffnungsklausel enthält, die es dem Gastwirt ausdrücklich freistellt, seinen Bedarf in anderen Mitgliedstaaten zu decken. Die Fragen unter B betreffen die Auslegung der Verordnung Nr. 1984/83, insbesondere der Artikel 6 und 8. Gegenstand der letzten Frage (unter C) ist die Befugnis der nationalen Gerichte zur Anwendung des Artikels 85 EWG-Vertrag auf einen Bierlieferungsvertrag, der die Freistellungsvoraussetzungen nach der Verordnung Nr. 1984/83 nicht erfuellt.

Zur Vereinbarkeit der Bierlieferungsverträge mit Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag

10 Bierlieferungsverträge sehen in der Regel vor, daß der Lieferant dem Wiederverkäufer bestimmte wirtschaftliche und finanzielle Vorteile einräumt, indem er ihm unter anderem Darlehen zu günstigen Bedingungen gewährt, Räumlichkeiten für den Betrieb der Gaststätte verpachtet und technische Anlagen, Mobiliar sowie andere für den Gaststättenbetrieb notwendige Einrichtungsgegenstände zur Verfügung stellt. Als Gegenleistung für diese Vergünstigungen verpflichtet sich der Wiederverkäufer normalerweise, für einen bestimmten Zeitraum Vertragswaren nur vom Lieferanten zu beziehen. Diese Alleinbezugspflicht ist im allgemeinen mit dem Verbot, in der vom Lieferanten verpachteten Gaststätte Konkurrenzprodukte zu vertreiben, verbunden.

11 Der Abschluß dieser Verträge bietet dem Lieferanten insoweit den Vorteil einer gewissen Absatzgarantie, als der Wiederverkäufer aufgrund seiner Verpflichtung zum Alleinbezug und des ihm auferlegten Wettbewerbsverbots seine Verkaufsbemühungen auf den Absatz der Vertragswaren konzentriert. Die Verträge bewirken ausserdem eine Zusammenarbeit mit dem Wiederverkäufer, die es dem Lieferanten ermöglicht, den Verkauf seiner Waren während der Vertragsdauer zu planen sowie Produktion und Vertrieb effizient zu organisieren.

12 Bierlieferungsverträge sind auch für den Wiederverkäufer vorteilhaft, soweit sie ihm den Zugang zum Markt für den Vertrieb von Bier unter günstigen Bedingungen und mit einer Bezugsgarantie ermöglichen. Das gemeinsame Interesse des Wiederverkäufers und des Lieferanten an der Förderung des Absatzes der Vertragswaren gibt dem Wiederverkäufer darüber hinaus die Gewähr, daß der Lieferant ihn dabei unterstützt, die Qualität der Waren und den Kundendienst sicherzustellen.

13 Wenngleich derartige Vereinbarungen keine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 bezwecken, ist doch zu prüfen, ob sie nicht eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bewirken.

14 In dem Urteil vom 12. Dezember 1967 in der Rechtssache 23/67 (Brasserie De Hächt, Slg. 1967, 543) hat der Gerichtshof entschieden, daß bei der Beurteilung der Wirkungen einer solchen Vereinbarung der wirtschaftliche und rechtliche Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen ist, in dem die Vereinbarung steht und zusammen mit anderen zu einer kumulativen Auswirkung auf den Wettbewerb führen kann. Aus jenem Urteil geht weiter hervor, daß die kumulative Wirkung mehrerer gleichartiger Vereinbarungen einer unter mehreren Umständen ist, die bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind, ob der Wettbewerb gestört und dadurch der Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt werden kann.

15 Im vorliegenden Fall ist somit zu prüfen, wie sich ein Bierlieferungsvertrag in Verbindung mit anderen gleichartigen Verträgen auf die Möglichkeiten der inländischen Mitbewerber oder der Mitbewerber aus anderen Mitgliedstaaten, auf dem Markt des Bierkonsums Fuß zu fassen oder ihren Anteil an diesem Markt zu vergrössern, und folglich auf das Sortiment der den Verbrauchern angebotenen Waren auswirkt.

16 Diese Prüfung setzt zunächst eine Abgrenzung des relevanten Marktes voraus. Der relevante Markt bestimmt sich erstens nach der Art der jeweiligen Wirtschaftstätigkeit, hier dem Absatz von Bier. Dieser erfolgt sowohl über den Einzelhandel als auch in Gaststätten. Aus der Sicht des Verbrauchers unterscheidet sich der Gaststättensektor, der insbesondere Schankwirtschaften und Speiselokale umfasst, vom Einzelhandelssektor, da der Absatz in Gaststätten nicht nur im Verkauf einer Ware besteht, sondern auch mit einer Dienstleistung verbunden ist, und der Bierverbrauch in Gaststätten nicht wesentlich von wirtschaftlichen Erwägungen abhängt. Diese Besonderheit des Absatzes in Gaststätten wird dadurch bestätigt, daß die Brauereien spezielle Vertriebssysteme für diesen Sektor organisiert haben, die besondere Einrichtungen erfordern, und daß die in diesem Sektor praktizierten Preise in der Regel über den Einzelhandelspreisen liegen.

17 Sachlich relevanter Markt ist daher im vorliegenden Fall der Markt für den Vertrieb von Bier in Gaststätten. Dagegen spricht nicht der Umstand, daß zwischen beiden Vertriebsnetzen insoweit eine gewisse Wechselbeziehung besteht, als neue Mitbewerber durch den Absatz über den Einzelhandel die Möglichkeit erhalten, ihre Marken bekanntzumachen und aufgrund ihres guten Rufes Zugang zum Gaststättenmarkt zu finden.

18 Der relevante Markt ist ausserdem räumlich abzugrenzen. Insoweit ist festzustellen, daß Bierlieferungsverträge noch ganz überwiegend auf nationaler Ebene geschlossen werden. Deshalb ist bei der Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften auf den nationalen Markt für den Vertrieb von Bier in Gaststätten abzustellen.

19 Zur Klärung der Frage, ob das Bestehen mehrerer Bierlieferungsverträge den Zugang zu dem so abgegrenzten Markt beeinträchtigt, sind sodann Art und Bedeutung des betreffenden Vertragsnetzes zu prüfen. Hierzu gehören alle gleichartigen Verträge, die eine bedeutende Zahl von Verkaufsstellen an einige inländische Erzeuger binden (Urteil vom 18. März 1970 in der Rechtssache 43/69, Bilger, Slg. 1970, 127). Der Einfluß dieser Vertragsnetze auf den Marktzugang hängt namentlich ab von der Zahl der auf diese Weise an die inländischen Erzeuger gebundenen Verkaufsstellen im Verhältnis zu der Zahl der nichtgebundenen Gaststätten, von der Dauer der eingegangenen Verpflichtungen, von der durch diese Verpflichtungen erfassten Biermenge sowie von dem Verhältnis zwischen dieser Menge und derjenigen, die über nichtgebundene Vertriebsstellen abgesetzt wird.

20 Das Bestehen eines Bündels gleichartiger Verträge kann jedoch, selbst wenn es die Möglichkeiten des Marktzugangs wesentlich beeinflusst, für sich allein noch nicht die Feststellung einer Abschottung des relevanten Marktes rechtfertigen, da es im Hinblick auf die wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände, in deren Zusammenhang ein Vertrag bei seiner Beurteilung betrachtet werden muß, nur einen unter mehreren Faktoren darstellt (Urteil vom 12. Dezember 1967 in der Rechtssache 23/67, a. a. O.). Was die übrigen Faktoren betrifft, so sind zunächst diejenigen zu berücksichtigen, die ebenfalls die Möglichkeiten des Marktzugangs beeinflussen.

21 In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob ein neuer Mitbewerber wirkliche und konkrete Möglichkeiten besitzt, sich durch den Erwerb einer auf dem Markt bereits tätigen Brauerei zusammen mit ihrer Kette von Verkaufsstellen in das Vertragsnetz einzugliedern oder aber dieses durch die Eröffnung neuer Gaststätten zu umgehen. Hierbei sind die Regelungen und die Vereinbarungen über den Erwerb von Gesellschaften und die Errichtung von Verkaufsstellen sowie die für den rentablen Betrieb eines Vertriebssystems notwendige Mindestzahl von Verkaufsstellen zu berücksichtigen. Die Existenz von Biergroßhändlern, die nicht an auf dem Markt tätige Erzeuger gebunden sind, stellt ebenfalls einen Faktor dar, der den Zugang eines neuen Erzeugers zu diesem Markt erleichtern kann, da dieser Erzeuger für den Vertrieb seines eigenen Bieres auf die Absatzwege dieser Großhändler zurückgreifen kann.

22 Zweitens ist zu berücksichtigen, unter welchen Bedingungen der Wettbewerb auf dem relevanten Markt stattfindet. Hierbei geht es nicht nur um die Zahl und die Grösse der auf dem Markt tätigen Erzeuger, sondern auch um den Sättigungsgrad dieses Marktes und die Treue der Verbraucher zu bestehenden Marken, denn es ist im allgemeinen schwieriger, auf einem gesättigten Markt Fuß zu fassen, der durch die Treue der Verbraucher zu wenigen grossen Erzeugern gekennzeichnet ist, als auf einem stark expandierenden Markt mit sehr vielen kleinen Erzeugern, die über keine bedeutenden Marken verfügen. Die Entwicklung des Bierabsatzes im Einzelhandel gibt nützliche Hinweise auf die Entwicklung der Nachfrage und stellt somit ein Indiz für den Sättigungsgrad des gesamten Biermarktes dar. Die Analyse dieser Entwicklung hat ausserdem eine gewisse Bedeutung dafür, wie die Treue des Verbrauchers zu den verschiedenen Marken einzuschätzen ist. Eine stetige Zunahme des Absatzes neuer Biermarken kann nämlich den Inhabern dieser Marken ein Ansehen verschaffen, von dem sie für den Zugang zum Gaststättenmarkt profitieren können.

23 Ergibt die Prüfung der Gesamtheit aller auf dem relevanten Markt bestehenden gleichartigen Verträge sowie der übrigen wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände des fraglichen Vertrags, daß diese Verträge nicht die kumulative Wirkung haben, neuen inländischen und ausländischen Mitbewerbern den Zugang zu diesem Markt zu verschließen, dann können die einzelnen Verträge, aus denen das Vertragsbündel besteht, den Wettbewerb nicht im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag beschränken. Sie fallen daher nicht unter das in dieser Bestimmung ausgesprochene Verbot.

24 Ergibt diese Prüfung hingegen, daß der relevante Markt schwer zugänglich ist, so ist zu untersuchen, inwieweit die Verträge der betroffenen Brauerei zu der kumulativen Wirkung beitragen, die alle auf diesem Markt festgestellten gleichartigen Verträge in dieser Hinsicht entfalten. Diese Marktabschließungswirkung ist nach den gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften denjenigen Brauereien zuzurechnen, die dazu in erheblichem Masse beitragen. Die Bierlieferungsverträge von Brauereien, deren Beitrag zu der kumulativen Wirkung unerheblich ist, fallen deshalb nicht unter das Verbot des Artikels 85 Absatz 1.

25 Zur Beurteilung der Bedeutung des Beitrags der Bierlieferungsverträge einer Brauerei zu der vorerwähnten kumulativen Abschottungswirkung ist die Stellung der Vertragspartner auf dem Markt zu berücksichtigen. Diese Stellung hängt nicht nur vom Marktanteil der Brauerei oder der Gruppe ab, der die Brauerei gegebenenfalls angehört, sondern auch von der Zahl der an die Brauerei oder deren Gruppe gebundenen Verkaufsstellen im Verhältnis zur Gesamtzahl der auf dem relevanten Markt festgestellten Gaststätten.

26 Der Beitrag der einzelnen Verträge einer Brauerei zur Abschottung dieses Marktes hängt ausserdem von der Vertragsdauer ab. Ist diese Dauer, gemessen an der durchschnittlichen Dauer der auf dem relevanten Markt allgemein geschlossenen Bierlieferungsverträge, offensichtlich unverhältnismässig lang, so fällt der einzelne Vertrag unter das Verbot des Artikels 85 Absatz 1. Eine Brauerei mit verhältnismässig geringem Marktanteil, die ihre Verkaufsstellen für viele Jahre an sich bindet, kann nämlich zu einer ebenso erheblichen Marktabschließung beitragen wie eine Brauerei mit verhältnismässig starker Marktstellung, die ihre Verkaufsstellen normalerweise in kürzeren Zeitabständen aus der Bindung entlässt.

27 Auf die ersten drei Vorlagefragen ist somit zu antworten, daß ein Bierlieferungsvertrag nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag verboten ist, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfuellt sind. Erstens muß unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände des streitigen Vertrags der nationale Markt für den Absatz von Bier in Gaststätten für Mitbewerber, die auf diesem Markt Fuß fassen oder ihren Marktanteil vergrössern könnten, schwer zugänglich sein. Daß der streitige Vertrag zu einem Bündel gleichartiger Verträge auf diesem Markt gehört, die sich kumulativ auf den Wettbewerb auswirken, ist nur einer unter mehreren Faktoren, anhand deren zu beurteilen ist, ob dieser Markt tatsächlich schwer zugänglich ist. Zweitens muß der streitige Vertrag in erheblichem Masse zu der Abschottungswirkung beitragen, die das Bündel dieser Verträge aufgrund ihres wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhangs entfaltet. Die Bedeutung des Beitrags des einzelnen Vertrags hängt von der Stellung der Vertragspartner auf dem relevanten Markt und von der Vertragsdauer ab.

Zur Vereinbarkeit eines mit einer Öffnungsklausel versehenen Bierlieferungsvertrags mit Artikel 85 Absatz 1

28 Ein Bierlieferungsvertrag, der eine Öffnungsklausel enthält, unterscheidet sich von den anderen Bierlieferungsverträgen allgemeiner Art dadurch, daß er dem Wiederverkäufer den Bezug von Bier aus anderen Mitgliedstaaten erlaubt. Diese Öffnung schränkt zugunsten der Biere anderer Mitgliedstaaten den Geltungsbereich des Wettbewerbsverbots ein, das im Rahmen eines klassischen Bierlieferungsvertrags neben die Alleinbezugspflicht tritt. Die Bedeutung der Öffnungsklausel ist unter Berücksichtigung ihres Wortlauts sowie ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände zu beurteilen.

29 Zum Wortlaut der Klausel ist zu bemerken, daß diese nur einen sehr geringen Grad der Öffnung bietet, wenn man davon ausgeht, daß sie dem Wiederverkäufer lediglich gestattet, Konkurrenzbiere in anderen Mitgliedstaaten selbst zu kaufen. Ihr Öffnungsgrad ist hingegen grösser, wenn sie dem Wiederverkäufer auch den Verkauf von Bieren gestattet, die dritte Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten einführen.

30 Was die wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände der Klausel anbelangt, so ist für den Fall, daß wie hier eine der anderen Vertragsklauseln eine Mindestabnahmemenge an Vertragsbieren vorschreibt, die Bedeutung dieser Menge im Verhältnis zum üblichen Bierumsatz in der fraglichen Gaststätte zu prüfen. Ergibt diese Prüfung, daß die vorgeschriebene Menge verhältnismässig groß ist, so verliert die Öffnungsklausel ihre wirtschaftliche Bedeutung, und das Verbot des Verkaufs von Konkurrenzbieren kommt wieder voll zum Tragen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Mindestabnahmepflicht nach dem Vertrag sanktionsbewehrt ist.

31 Ergibt die Auslegung des Wortlauts der Öffnungsklausel oder die Prüfung der konkreten Wirkung sämtlicher Vertragsklauseln unter Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände, daß die Einschränkung des Geltungsbereichs des Wettbewerbsverbots rein hypothetischer Natur oder wirtschaftlich bedeutungslos ist, so ist der betreffende Vertrag einem klassischen Bierlieferungsvertrag gleichzustellen. Er ist somit im Hinblick auf Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag ebenso zu behandeln wie die Bierlieferungsverträge im allgemeinen.

32 Etwas anderes gilt für den Fall, daß die Öffnungsklausel einem inländischen oder ausländischen Lieferanten von Bieren aus anderen Mitgliedstaaten die Gewähr bietet, die betreffende Verkaufsstelle tatsächlich beliefern zu können. Ein Vertrag, der eine solche Klausel enthält, ist grundsätzlich nicht geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 zu beeinträchtigen, so daß er nicht unter das in dieser Bestimmung ausgesprochene Verbot fällt.

33 Auf die vierte Frage des Oberlandesgerichts ist deshalb zu antworten, daß ein Bierlieferungsvertrag, der dem Wiederverkäufer den Bezug von Bier aus anderen Mitgliedstaaten erlaubt, nicht geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen, wenn über diese Erlaubnis hinaus für einen inländischen oder ausländischen Lieferanten auch eine tatsächliche Möglichkeit besteht, diesen Wiederverkäufer mit Bieren aus anderen Mitgliedstaaten zu beliefern.

Zur Auslegung von Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1984/83

34 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob ein Bierlieferungsvertrag den Schutz der Gruppenfreistellung gemäß der Verordnung Nr. 1984/83, insbesondere des Artikels 6 Absatz 1, genießt, wenn sich das Sortiment, das Gegenstand der dem Wiederverkäufer auferlegten Alleinbezugsbindung ist, nicht aus dem Vertragstext, sondern aus der vom Lieferanten in regelmässigen Zeitabständen aufgestellten Sortiments- und Preisliste ergibt.

35 Die Verordnung Nr. 1984/83 sieht besondere Regeln für die Gruppenfreistellung von Bierlieferungsverträgen vor. Diese Regeln, die von den allgemeinen Vorschriften über die Alleinbezugsvereinbarungen abweichen, finden sich in den Artikeln 6, 7 und 8 der Verordnung.

36 Aus Artikel 6 Absatz 1 dieser Verordnung geht eindeutig hervor, daß sich die Alleinbezugspflicht des Wiederverkäufers ausschließlich auf bestimmte Biere oder bestimmte Biere und bestimmte andere Getränke bezieht, die in der Vereinbarung genannt werden. Durch dieses Spezifizierungserfordernis soll verhindert werden, daß der Lieferant den Geltungsbereich der Alleinbezugspflicht einseitig ausdehnt. Ein Bierlieferungsvertrag, der hinsichtlich der von der Alleinbezugsbindung erfassten Waren auf eine Preisliste verweist, die der Lieferant einseitig ändern kann, wird diesem Erfordernis nicht gerecht und genießt somit nicht den Schutz des Artikels 6 Absatz 1.

37 Auf die fünfte Vorlagefrage ist deshalb zu antworten, daß die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1984/83 nicht erfuellt sind, wenn die von der Alleinbezugsbindung erfassten Getränke nicht im Vertragstext selbst aufgeführt sind, sondern vereinbart ist, daß sie sich aus der jeweils gültigen Preisliste der Brauerei oder ihrer Tochtergesellschaften ergeben.

Zur Auslegung von Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 1984/83

38 Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1984/83 bestimmt unter anderem, daß der Bierlieferungsvertrag, falls er sich auf eine Gaststätte bezieht, die der Lieferant dem Wiederverkäufer verpachtet oder anderweitig zur Benutzung überlässt, für den Wiederverkäufer das Recht vorsehen muß, die aufgrund des Vertrags gelieferten anderen Getränke als Bier von dritten Unternehmen zu beziehen, wenn diese sie zu günstigeren Bedingungen anbieten und der Lieferant nicht in diese Bedingungen eintritt. Die sechste Frage des vorlegenden Gerichts geht dahin, ob ein Vertrag, der diesem Erfordernis nicht entspricht, insgesamt nicht mehr unter die Gruppenfreistellung nach der Verordnung fällt oder ob die Folgen dieser Unvereinbarkeit mit der vorerwähnten Bestimmung auf die Vertragsklausel beschränkt bleiben, die es dem Wiederverkäufer untersagt, andere Getränke als Bier von dritten Unternehmen zu beziehen.

39 Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem Wortlaut von Artikel 8 der Verordnung Nr. 1984/83. Artikel 8 Absatz 1 bestimmt ausdrücklich, daß die Gruppenfreistellung für Bierlieferungsverträge keine Anwendung findet, wenn bestimmte Vertragsklauseln die Handlungsfreiheit des Wiederverkäufers einschränken und die Laufzeit der Vereinbarung übermässig lang ist. Artikel 8 Absatz 2 enthält zusätzliche besondere Voraussetzungen für Verträge, die sich auf verpachtete oder anderweitig zur Benutzung überlassene Gaststätten beziehen. Die in Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung vorgesehene Gruppenfreistellung für Bierlieferungsverträge findet somit insgesamt keine Anwendung mehr, wenn diese Voraussetzungen nicht erfuellt sind.

40 Wenn ein Bierlieferungsvertrag die Voraussetzungen für eine Gruppenfreistellung nicht erfuellt, bedeutet dies jedoch nicht zwangsläufig, daß der gesamte Vertrag gemäß Artikel 85 Absatz 2 EWG-Vertrag nichtig wäre. Nichtig sind nur die nach Artikel 85 Absatz 1 verbotenen Teile der Vereinbarung. Die gesamte Vereinbarung ist nur dann nichtig, wenn sich diese Teile nicht von den übrigen Teilen der Vereinbarung trennen lassen (Urteil vom 30. Juni 1966 in der Rechtssache 56/65, Société Technique Minière, Slg. 1966, 282).

41 Im übrigen können die Parteien einer Vereinbarung, die nicht den Schutz einer Gruppenfreistellungsverordnung genießt, immer noch bei der Kommission eine Einzelfreistellung beantragen oder geltend machen, daß die Voraussetzungen einer anderen Freistellungsverordnung für andere Gruppen von Vereinbarungen erfuellt sind (Urteil vom 18. Dezember 1986 in der Rechtssache 10/86, VAG France, Slg. 1986, 4071).

42 Auf die sechste Vorlagefrage ist mithin zu antworten, daß die Gruppenfreistellung nach der Verordnung Nr. 1984/83 auf einen Bierlieferungsvertrag, der sich auf eine vom Lieferanten dem Wiederverkäufer verpachtete oder anderweitig zur Benutzung überlassene Gaststätte bezieht und eine Bezugsbindung hinsichtlich anderer Getränke als Bier enthält, keine Anwendung findet, wenn dieser Vertrag nicht dem Erfordernis des Artikels 8 Absatz 2 Buchstabe b dieser Verordnung entspricht.

Zur Befugnis des nationalen Gerichts zur Anwendung von Artikel 85 auf eine Vereinbarung, die nicht den Schutz einer Freistellungsverordnung genießt

43 Mit seiner letzten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, wie es nach den gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften eine Vereinbarung zu beurteilen hat, die nicht die Voraussetzungen der Verordnung Nr. 1984/83 erfuellt. Diese Frage wirft ein allgemeines verfahrensrechtliches Problem in bezug auf die jeweiligen Befugnisse der Kommission und der nationalen Gerichte zur Anwendung dieser Vorschriften auf.

44 Hierzu ist zunächst festzustellen, daß die Kommission für die Durchführung und die Ausrichtung der Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft verantwortlich ist. Sie hat vorbehaltlich der Nachprüfung durch das Gericht erster Instanz und den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Einzelfallentscheidungen nach den geltenden Verfahrensregelungen zu treffen und Freistellungsverordnungen zu erlassen. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe ist notwendigerweise mit komplexen Beurteilungen wirtschaftlicher Art verbunden, insbesondere wenn zu beurteilen ist, ob eine Vereinbarung unter Artikel 85 Absatz 3 fällt. Gemäß Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, der ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 EWG-Vertrag (ABl. 1962, S. 204), ist ausschließlich die Kommission zum Erlaß von Entscheidungen zur Durchführung des Artikels 85 Absatz 3 EWG-Vertrag befugt.

45 Dagegen verfügt die Kommission nicht über die ausschließliche Befugnis zur Anwendung der Artikel 85 Absatz 1 und 86. Sie teilt insoweit die Befugnis zur Anwendung dieser Bestimmungen mit den nationalen Gerichten. Wie der Gerichtshof nämlich in dem Urteil vom 30. Januar 1974 in der Rechtssache 127/73 (BRT, Slg. 1974, 51) ausgeführt hat, erzeugen die Artikel 85 Absatz 1 und 86 in den Beziehungen zwischen einzelnen unmittelbare Wirkungen und lassen unmittelbar in deren Person Rechte entstehen, die die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben.

46 Dies gilt auch für die Bestimmungen der Freistellungsverordnungen (Urteil vom 3. Februar 1976 in der Rechtssache 63/75, Fonderies Roubaix, Slg. 1976, 111). Die unmittelbare Anwendbarkeit dieser Bestimmungen kann jedoch nicht dazu führen, daß die nationalen Gerichte die Tragweite der Freistellungsverordnungen ändern, indem sie ihren Geltungsbereich auf Vereinbarungen ausdehnen, die nicht darunter fallen. Eine solche Ausdehnung wäre nämlich unabhängig von ihrem Gewicht ein Eingriff in die Rechtsetzungsbefugnis der Kommission.

47 Sodann ist zu prüfen, welche Folgen diese Zuständigkeitsverteilung für die konkrete Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsvorschriften durch die nationalen Gerichte hat. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, daß die Gefahr besteht, daß diese nationalen Gerichte Entscheidungen erlassen, die im Gegensatz zu denjenigen stehen, die die Kommission zur Anwendung der Artikel 85 Absatz 1 und 86 wie auch des Artikels 85 Absatz 3 getroffen hat oder zu treffen beabsichtigt. Solche gegensätzlichen Entscheidungen stuenden im Widerspruch zu dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit. Sie sind daher zu vermeiden, wenn die nationalen Gerichte über Vereinbarungen oder Praktiken befinden, zu denen noch eine Entscheidung der Kommission ergehen kann.

48 Nach ständiger Rechtsprechung können die nationalen Gerichte, solange die Kommission keine Entscheidung aufgrund der Verordnung Nr. 17 getroffen hat, nicht gemäß Artikel 85 Absatz 2 die Nichtigkeit von Vereinbarungen feststellen, die bereits vor dem 13. März 1962, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung, bestanden haben und ordnungsgemäß angemeldet worden sind (Urteil vom 6. Februar 1973 in der Rechtssache 48/72, Brasserie de Hächt, Slg. 1973, 77; Urteil vom 14. Dezember 1977 in der Rechtssache 59/77, De Bloos, Slg. 1977, 2359). Diese Vereinbarungen sind nämlich, solange die Kommission keine Stellungnahme abgegeben hat, vorläufig gültig (Urteil vom 10. Juli 1980 in der Rechtssache 99/79, Lancôme, Slg. 1980, 2511).

49 Der Vertrag, um den es im Ausgangsverfahren geht, wurde am 14. Mai 1985 geschlossen. Nach der Aktenlage deutet nichts darauf hin, daß dieser Vertrag inhaltlich genau einem vor dem 13. März 1962 geschlossenen, ordnungsgemäß angemeldeten Vertrag entspräche (Urteil vom 30. Juni 1970 in der Rechtssache 1/70, Rochas, Slg. 1970, 515). Der Vertrag ist somit offenbar nicht vorläufig gültig. Das nationale Gericht kann jedoch, um die Notwendigkeit einer Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen mit seiner Pflicht zur Entscheidung über das Begehren der sich auf die Nichtigkeit des Vertrags berufenden Prozesspartei in Einklang zu bringen, bei der Anwendung des Artikels 85 folgende Erwägungen heranziehen.

50 Sind die Voraussetzungen des Artikels 85 Absatz 1 offensichtlich nicht erfuellt und besteht somit kaum die Gefahr einer anderslautenden Entscheidung der Kommission, so kann das nationale Gericht das Verfahren fortsetzen und über den streitigen Vertrag entscheiden. Ebenso verhält es sich, wenn die Unvereinbarkeit des Vertrags mit Artikel 85 Absatz 1 ausser Zweifel steht und unter Berücksichtigung der Freistellungsverordnungen und der bisherigen Entscheidungspraxis der Kommission für den Vertrag keinesfalls eine Freistellungsentscheidung gemäß Artikel 85 Absatz 3 in Betracht kommt.

51 Hierzu ist zu bemerken, daß ein Vertrag nur dann Gegenstand einer solchen Entscheidung sein kann, wenn er angemeldet wurde oder nicht anmeldungsbedürftig ist. Eine Vereinbarung ist nach Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 von der Anmeldepflicht befreit, wenn an ihr nur Unternehmen aus einem Mitgliedstaat beteiligt sind und die Vereinbarung nicht die Ein- oder Ausfuhr zwischen Mitgliedstaaten betrifft. Ein Bierlieferungsvertrag kann diese Voraussetzungen auch dann erfuellen, wenn er zu einem Netz gleichartiger Verträge gehört (Urteil vom 18. März 1970 in der Rechtssache 43/69, Bilger, Slg. 1970, 127).

52 Stellt das nationale Gericht fest, daß der streitige Vertrag diesen formellen Erfordernissen genügt, und gelangt es unter Berücksichtigung der Verordnungs- und Entscheidungspraxis der Kommission zu der Auffassung, daß dieser Vertrag gegebenenfalls durch Entscheidung freigestellt werden kann, so kann es beschließen, nach Maßgabe seines nationalen Verfahrensrechts das Verfahren auszusetzen oder einstweilige Maßnahmen zu treffen. Eine Aussetzung des Verfahrens oder der Erlaß einstweiliger Maßnahmen kommt auch in Betracht, wenn im Rahmen der Anwendung der Artikel 85 Absatz 1 und 86 die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen besteht.

53 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß das nationale Gericht nach Maßgabe des einschlägigen nationalen Verfahrensrechts und vorbehaltlich des Artikels 214 EWG-Vertrag stets die Möglichkeit hat, sich bei der Kommission nach dem Stand des von dieser gegebenenfalls eingeleiteten Verfahrens sowie danach zu erkundigen, ob die Kommission möglicherweise offiziell gemäß der Verordnung Nr. 17 über den streitigen Vertrag entscheidet. Das nationale Gericht kann unter denselben Voraussetzungen Kontakt mit der Kommission aufnehmen, wenn die konkrete Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 oder des Artikels 86 besondere Schwierigkeiten bereitet, um die wirtschaftlichen und rechtlichen Auskünfte zu erlangen, die die Kommission ihm erteilen kann. Die Kommission ist nämlich nach Artikel 5 EWG-Vertrag zu loyaler Zusammenarbeit mit den Gerichten der Mitgliedstaaten verpflichtet, die für die Anwendung und Wahrung des Gemeinschaftsrechts im Rahmen der nationalen Rechtsordnung Sorge zu tragen haben (Beschluß vom 13. Juli 1990 in der Rechtssache C-2/88 Imm., Zwartveld, Slg. 1990, I-3365, Randnr. 18).

54 Schließlich kann das nationale Gericht in jedem Fall das Verfahren aussetzen und den Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag um Vorabentscheidung ersuchen.

55 Auf die letzte Frage des Oberlandesgerichts ist daher zu antworten, daß ein nationales Gericht den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1984/83 nicht auf Bierlieferungsverträge ausdehnen kann, die die Freistellungsvoraussetzungen dieser Verordnung nicht vollständig erfuellen. Ebensowenig kann das nationale Gericht Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag gemäß Artikel 85 Absatz 3 für unanwendbar auf einen solchen Vertrag erklären. Es kann jedoch gemäß Artikel 85 Absatz 2 die Nichtigkeit dieses Vertrags feststellen, wenn es die Gewißheit erlangt hat, daß der Vertrag nicht Gegenstand einer Freistellungsentscheidung nach Artikel 85 Absatz 3 sein kann.

Kostenentscheidung

Kosten
56 Die Auslagen der Regierung der Französischen Republik und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor

Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluß vom 13. Juli 1989 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

1) Ein Bierlieferungsvertrag ist nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag verboten, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfuellt sind. Erstens muß unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und rechtlichen Begleitumstände des streitigen Vertrags der nationale Markt für den Absatz von Bier in Gaststätten für Mitbewerber, die auf diesem Markt Fuß fassen oder ihren Marktanteil vergrössern könnten, schwer zugänglich sein. Daß der streitige Vertrag zu einem Bündel gleichartiger Verträge auf diesem Markt gehört, die sich kumulativ auf den Wettbewerb auswirken, ist nur einer unter mehreren Faktoren, anhand deren zu beurteilen ist, ob dieser Markt tatsächlich schwer zugänglich ist. Zweitens muß der streitige Vertrag in erheblichem Masse zu der Abschottungswirkung beitragen, die das Bündel dieser Verträge aufgrund ihres wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtzusammenhangs entfaltet. Die Bedeutung des Beitrags des einzelnen Vertrags hängt von der Stellung der Vertragspartner auf dem relevanten Markt und von der Vertragsdauer ab.

2) Ein Bierlieferungsvertrag, der dem Wiederverkäufer den Bezug von Bier aus anderen Mitgliedstaaten erlaubt, ist nicht geeignet, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen, wenn über diese Erlaubnis hinaus für einen inländischen oder ausländischen Lieferanten auch eine tatsächliche Möglichkeit besteht, diesen Wiederverkäufer mit Bieren aus anderen Mitgliedstaaten zu beliefern.

3) Die Voraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1984/83 der Kommission vom 22. Juni 1983 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Alleinbezugsvereinbarungen sind nicht erfuellt, wenn die von der Alleinbezugsbindung erfassten Getränke nicht im Vertragstext selbst aufgeführt sind, sondern vereinbart ist, daß sie sich aus der jeweils gültigen Preisliste der Brauerei oder ihrer Tochtergesellschaften ergeben.

4) Die Gruppenfreistellung nach der Verordnung (EWG) Nr. 1984/83 findet auf einen Bierlieferungsvertrag, der sich auf eine vom Lieferanten dem Wiederverkäufer verpachtete oder anderweitig zur Benutzung überlassene Gaststätte bezieht und eine Bezugsbindung hinsichtlich anderer Getränke als Bier enthält, keine Anwendung, wenn dieser Vertrag nicht dem Erfordernis des Artikels 8 Absatz 2 Buchstabe b dieser Verordnung entspricht.

5) Ein nationales Gericht kann den Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1984/83 nicht auf Bierlieferungsverträge ausdehnen, die die Freistellungsvoraussetzungen dieser Verordnung nicht vollständig erfuellen. Ebensowenig kann das nationale Gericht Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag gemäß Artikel 85 Absatz 3 für unanwendbar auf einen solchen Vertrag erklären. Es kann jedoch gemäß Artikel 85 Absatz 2 die Nichtigkeit dieses Vertrags feststellen, wenn es die Gewißheit erlangt hat, daß der Vertrag nicht Gegenstand einer Freistellungsentscheidung nach Artikel 85 Absatz 3 sein kann.