EuGH, 22.05.1990 - 70/88
Leitsätze
1.Die Verträge haben ein institutionelles Gleichgewicht geschaffen, indem sie ein System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft errichtet haben, das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfuellung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist . Die Wahrung dieses Gleichgewichts gebietet es, daß jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt . Sie verlangt auch, daß eventuelle Verstösse gegen diesen Grundsatz geahndet werden können . Dem Gerichtshof obliegt es nach den Verträgen, über die Wahrung des Rechts bei deren Auslegung und Anwendung zu wachen . Er muß daher in der Lage sein, die Aufrechterhaltung des institutionellen Gleichgewichts sicherzustellen; dies schließt die richterliche Kontrolle der Beachtung der Befugnisse der verschiedenen Organe durch die geeigneten Rechtsbehelfe ein .
2.Obwohl die Verträge keine Bestimmung enthalten, die das Recht des Parlaments zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage vorsehen, verbietet es das grundlegende Interesse an der Aufrechterhaltung und Wahrung des von den Verträgen festgelegten institutionellen Gleichgewichts, daß das Europäische Parlament - im Gegensatz zu den anderen Organen - in seinen Befugnissen beeinträchtigt werden kann, ohne über eine der in den Verträgen vorgesehenen Klagemöglichkeiten zu verfügen, von der in gesicherter und wirksamer Weise Gebrauch gemacht werden kann .
Folglich kann das Parlament beim Gerichtshof eine Klage auf Nichtigerklärung einer Handlung des Rates oder der Kommission erheben, sofern diese Klage lediglich auf den Schutz seiner Befugnisse gerichtet ist und nur auf Klagegründe gestützt wird, mit denen die Verletzung dieser Befugnisse geltend gemacht wird . Unter diesem Vorbehalt unterliegt die Nichtigkeitsklage des Parlaments den Regeln, die die Verträge für die Nichtigkeitsklage der anderen Organe vorsehen .
3.Zu den Befugnissen des Parlaments gehört in den durch die Verträge vorgesehenen Fällen seine Beteiligung am Prozeß der Ausarbeitung normativer Handlungen und insbesondere seine Beteiligung an dem im EWG-Vertrag vorgesehenen Verfahren der Zusammenarbeit . Da die Frage, ob dieses Verfahren - das dem Parlament die Möglichkeit bietet, sich intensiver und aktiver als im Rahmen des Anhörungsverfahrens am Gesetzgebungsverfahren zu beteiligen - durchgeführt werden muß, von der Rechtsgrundlage abhängt, auf die die zu erlassende Handlung gestützt wird, ist eine Nichtigkeitsklage des Parlaments gegen eine vom Rat erlassene Handlung, mit der das Parlament dem Rat vorwirft, er habe die Befugnisse des Parlaments durch die Wahl einer anderen als der in den Verträgen vorgeschriebenen Rechtsgrundlage für diese Handlung beeinträchtigt, für zulässig zu erklären .
Entscheidungsgründe
1 Das Europäische Parlament hat mit Klageschrift, die am 4 . März 1988 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß den Artikeln 146 EAG-Vertrag und 173 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Nichtigerklärung der Verordnung ( Euratom ) Nr . 3954/87 des Rates vom 22 . Dezember 1987 zur Festlegung von Hoechstwerten an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln im Falle eines nuklearen Unfalls oder einer anderen radiologischen Notstandssituation ( ABl . L 371, S . 11 ).
2 Diese Verordnung, die auf Artikel 31 EAG-Vertrag gestützt ist, legt das Verfahren zur Bestimmung der Hoechstwerte an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und Futtermitteln fest, die nach einem nuklearen Unfall oder einer anderen radiologischen Notstandssituation, die zu einer erheblichen radioaktiven Kontamination von Nahrungsmitteln und Futtermitteln führen können oder geführt haben, auf den Markt gelangen können . Nahrungsmittel oder Futtermittel, bei denen die in einem gemäß den Vorschriften der angefochtenen Verordnung erlassenen Rechtsakt festgelegten Hoechstwerte überschritten werden, dürfen nicht auf den Markt gebracht werden .
3 Während des Verfahrens zur Ausarbeitung der angefochtenen Verordnung erklärte das vom Rat gemäß Artikel 31 EAG-Vertrag angehörte Parlament, es sei mit der von der Kommission gewählten Rechtsgrundlage nicht einverstanden, und ersuchte die Kommission, ihm einen neuen, auf Artikel 100 a EWG-Vertrag gestützten Vorschlag vorzulegen . Die Kommission kam diesem Ersuchen nicht nach, und der Rat erließ die Verordnung Nr . 3954/87 auf der Grundlage von Artikel 31 EAG-Vertrag . Daraufhin hat das Parlament die vorliegende Klage auf Nichtigerklärung dieser Verordnung erhoben .
4 Der Rat hat die Einrede der Unzulässigkeit gemäß Artikel 91 § 1 Absatz 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes erhoben und beantragt, über diese Einrede vorab zu entscheiden .
5 Zur Begründung der Einrede hat der Rat im schriftlichen Verfahren zu einem Zeitpunkt, als das Urteil vom 27 . September 1988 in der Rechtssache 302/87 ( Europäisches Parlament/Rat, "Ausschußwesen", Slg . 1988, 5615 ) noch nicht ergangen war, ähnliche Argumente vorgetragen, wie er sie zur Stützung seiner Unzulässigkeitseinrede in der Rechtssache 302/87 entwickelt hatte . In der mündlichen Verhandlung vom 5 . Oktober 1989 hat der Rat ausgeführt, daß der Gerichtshof im Urteil vom 27 . September 1988 die Frage der Befugnis des Europäischen Parlaments zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage eindeutig entschieden habe und daß die vorliegende Klage daher unzulässig sei .
6 Das Europäische Parlament hat beantragt, die Einrede zurückzuweisen . Es hat geltend gemacht, die vorliegende Rechtssache enthalte gegenüber der Rechtssache 302/87 ein neues Element . Der Gerichtshof habe nämlich zur Begründung seiner Weigerung, dem Europäischen Parlament die Befugnis zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage zuzuerkennen, ausgeführt, daß es gemäß Artikel 155 EWG-Vertrag Sache der Kommission sei, über die Beachtung der Prärogativen des Parlaments zu wachen und hierzu die gegebenenfalls erforderlichen Nichtigkeitsklagen zu erheben . Die vorliegende Rechtssache zeige jedoch, daß die Kommission diese Aufgabe nicht erfuellen könne, wenn sie ihren Vorschlag auf eine andere Rechtsgrundlage als diejenige gestützt habe, die das Parlament für die geeignete halte . Dieses könne folglich nicht darauf zählen, daß die Kommission seine Befugnisse mit einer Nichtigkeitsklage verteidige .
7 Das Europäische Parlament hat ferner ausgeführt, daß der Erlaß der angefochtenen Handlung durch den Rat nicht als stillschweigende Weigerung, tätig zu werden, angesehen werden könne, die dem Parlament den Weg der Untätigkeitsklage eröffnen würde . Schließlich sei der Schutz der Befugnisse des Parlaments durch Klagen von Einzelpersonen völlig vom Zufall abhängig und damit wirkungslos .
8 Demnach bestehe eine rechtliche Lücke, die der Gerichtshof dadurch fuellen müsse, daß er dem Europäischen Parlament die Befugnis zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage zuerkenne, soweit dies zum Schutz der Befugnisse des Parlaments erforderlich sei .
9 Durch Beschluß vom 13 . Juli 1988 ist die Kommission der Europäischen Gemeinschaften als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Beklagten zugelassen worden . Die Kommission beantragt zwar, die Klage als unbegründet abzuweisen, hat aber den Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung ersucht, die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen . Mit Beschluß vom 18 . Januar 1989 ist ferner das Vereinigte Königreich als Streithelfer zur Unterstützung des Beklagten zugelassen worden . Das Vereinigte Königreich hat hinsichtlich der Zulässigkeit der Klage keinen Antrag gestellt .
10 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts, des Verfahrensablaufs und des Vorbringens der Parteien wird auf den Sitzungsbericht verwiesen . Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als es die Begründung des Urteils erfordert .
11 Einleitend ist darauf hinzuweisen, daß die Zulässigkeit der Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Handlung nach dem EAG-Vertrag zu beurteilen ist, da diese Handlung auf eine Bestimmung dieses Vertrags gestützt ist .
12 Wie sich aus dem genannten Urteil vom 27 . September 1988 ergibt, verfügt das Parlament nicht über das Recht zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EWG-Vertrag oder nach Artikel 146 EAG-Vertrag, der den gleichen Inhalt hat .
13 Zum einen wird das Parlament in Absatz 1 von Artikel 173 oder von Artikel 146 nicht unter den Organen genannt, die neben den Mitgliedstaaten Nichtigkeitsklage gegen Handlungen eines anderen Organs erheben können .
14 Zum anderen kann das Parlament, da es keine juristische Person ist, den Gerichtshof nicht auf der Grundlage von Absatz 2 dieser Artikel anrufen, deren System ohnehin für eine Nichtigkeitsklage des Parlaments ungeeignet wäre .
15 Im Urteil vom 27 . September 1988 hat der Gerichtshof nach der Darlegung der Gründe, aus denen das Parlament nicht zur Klageerhebung nach Artikel 173 EWG-Vertrag befugt ist, darauf hingewiesen, daß verschiedene Rechtsbehelfe zur Verfügung stehen, um die Beachtung der Befugnisse des Parlaments zu gewährleisten . Wie in diesem Urteil festgestellt wird, verfügt das Parlament nicht nur über das Recht, eine Untätigkeitsklage zu erheben, sondern die Verträge bieten auch Möglichkeiten, den Gerichtshof gegen Handlungen des Rates oder der Kommission anzurufen, die unter Missachtung der Befugnisse des Parlaments ergangen sind .
16 Die Umstände der vorliegenden Rechtssache und ihre Erörterung haben jedoch gezeigt, daß sich diese verschiedenen im EAG-Vertrag wie im EWG-Vertrag vorgesehenen Rechtsbehelfe, so nützlich und vielfältig sie auch sein mögen, als unwirksam oder ungewiß erweisen können .
17 Zunächst kann mit einer Untätigkeitsklage nicht die Rechtsgrundlage einer schon erlassenen Handlung angefochten werden .
18 Sodann sind die Vorlage eines Ersuchens um Vorabentscheidung über die Gültigkeit einer solchen Handlung oder die Anrufung des Gerichtshofes durch einen Mitgliedstaat oder einen einzelnen mit dem Ziel, diese Handlung für nichtig erklären zu lassen, blosse Eventualitäten, auf deren Eintritt das Parlament nicht zählen kann .
19 Schließlich obliegt es zwar der Kommission, über die Beachtung der Befugnisse des Parlaments zu wachen, doch kann dieser Auftrag nicht so weit gehen, daß sie gezwungen wäre, sich den Standpunkt des Parlaments zu eigen zu machen und eine Nichtigkeitsklage zu erheben, die sie selbst für unbegründet hält .
20 Folglich genügt das Vorhandensein dieser verschiedenen Rechtsbehelfe nicht, um die gerichtliche Überprüfung einer Handlung des Rates oder der Kommission, die die Befugnisse des Parlaments missachtet, unter allen Umständen mit Gewißheit zu gewährleisten .
21 Diese Befugnisse sind jedoch Bestandteil des von den Verträgen gewollten institutionellen Gleichgewichts . Die Verträge haben nämlich ein System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft geschaffen, das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfuellung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist .
22 Die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts gebietet es, daß jedes Organ seine Befugnisse unter Beachtung der Befugnisse der anderen Organe ausübt . Sie verlangt auch, daß eventuelle Verstösse gegen diesen Grundsatz geahndet werden können .
23 Dem Gerichtshof obliegt es nach den Verträgen, über die Wahrung des Rechts bei deren Auslegung und Anwendung zu wachen . Er muß daher in der Lage sein, die Aufrechterhaltung des institutionellen Gleichgewichts und folglich die richterliche Kontrolle der Beachtung der Befugnisse des Parlaments, wenn dieses ihn zu diesem Zweck anruft, durch einen Rechtsbehelf sicherzustellen, der ihm die Erfuellung seiner Aufgabe ermöglicht .
24 Bei der Erfuellung dieser Aufgabe darf der Gerichtshof das Parlament zwar nicht zu den Organen rechnen, die eine Klage nach Artikel 173 EWG-Vertrag oder Artikel 146 EAG-Vertrag erheben können, ohne ein Rechtsschutzinteresse dartun zu müssen .
25 Es obliegt ihm jedoch, die volle Anwendung der Vertragsbestimmungen über das institutionelle Gleichgewicht sicherzustellen und dafür zu sorgen, daß das Parlament - wie die anderen Organe - nicht in seinen Befugnissen beeinträchtigt werden kann, ohne über eine der in den Verträgen vorgesehenen Klagemöglichkeiten zu verfügen, von der in gesicherter und wirksamer Weise Gebrauch gemacht werden kann .
26 Das Fehlen einer Bestimmung in den Verträgen, die das Recht des Parlaments zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage vorsieht, mag eine verfahrensrechtliche Lücke darstellen, es kann jedoch nicht schwerer wiegen als das grundlegende Interesse an der Aufrechterhaltung und Wahrung des von den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften festgelegten institutionellen Gleichgewichts .
27 Folglich kann das Parlament beim Gerichtshof eine Klage auf Nichtigerklärung einer Handlung des Rates oder der Kommission erheben, sofern diese Klage lediglich auf den Schutz seiner Befugnisse gerichtet ist und nur auf Klagegründe gestützt wird, mit denen die Verletzung dieser Befugnisse geltend gemacht wird . Unter diesem Vorbehalt unterliegt die Nichtigkeitsklage des Parlaments den Regeln, die die Verträge für die Nichtigkeitsklage der anderen Organe vorsehen .
28 Zu den Befugnissen des Parlaments gehört in den durch die Verträge vorgesehenen Fällen seine Beteiligung am Prozeß der Ausarbeitung normativer Handlungen und insbesondere seine Beteiligung an dem im EWG-Vertrag vorgesehenen Verfahren der Zusammenarbeit .
29 Im vorliegenden Fall macht das Parlament geltend, die angefochtene Verordnung sei auf Artikel 31 EAG-Vertrag gestützt, der nur die Anhörung des Parlaments vorsehe, während sie auf Artikel 100 a EWG-Vertrag hätte gestützt werden müssen, der die Durchführung des Verfahrens der Zusammenarbeit mit dem Parlament vorschreibe .
30 Daraus zieht das Parlament den Schluß, daß die Wahl der Rechtsgrundlage der angefochtenen Verordnung durch den Rat zu einer Missachtung seiner Befugnisse geführt habe, indem sie ihm die im Verfahren der Zusammenarbeit gebotene Möglichkeit genommen habe, sich intensiver und aktiver als im Rahmen des Anhörungsverfahrens an der Ausarbeitung der Verordnung zu beteiligen .
31 Da das Parlament somit eine Beeinträchtigung seiner Befugnisse infolge der Wahl der Rechtsgrundlage der angefochtenen Handlung geltend macht, ergibt sich aus dem Vorstehenden, daß die Klage zulässig ist . Die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen, und das Verfahren ist zur Hauptsache fortzusetzen .
Kostenentscheidung
Kosten
32 Die Kostenentscheidung ist vorzubehalten.
Tenor
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden :
1) Die vom Rat erhobene Einrede der Unzulässigkeit wird zurückgewiesen.