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Art. 15 GG - Vergesellschaftung (Kommentar)

¹Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. ²Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Absatz 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

1. Einleitung

Art. 15 des Grundgesetzes (GG) zählt zu den am seltensten angewandten, jedoch grundlegend bedeutenden Vorschriften der deutschen Verfassung. Die Norm eröffnet dem Gesetzgeber die Möglichkeit, Boden, Naturschätze und Produktionsmittel in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft zu überführen. Art. 15 GG ist vor allem von theoretischer Relevanz für die Diskussion um Eigentum, Wirtschaftsverfassung und Gemeinwohlbindung. Die Norm stellt eine zentrale Option für eine Vergesellschaftung im Sinne einer grundlegenden Neuordnung der Eigentumsverhältnisse in der Bundesrepublik dar.

II. Systematische Stellung

Systematisch ist Art. 15 GG im Abschnitt der Grundrechte verortet, wobei er mit den Eigentumsgarantien aus Art. 14 GG in einem Spannungsverhältnis steht. Während Art. 14 Abs. 1 GG das Recht auf Privateigentum gewährleistet, bietet Art. 15 GG dem Gesetzgeber die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen das Privateigentum zu vergesellschaften. Dieses Spannungsverhältnis ist ein klassischer Ausdruck des Konflikts zwischen individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit in der deutschen Verfassungsordnung.

2. Tatbestand des Art. 15 GG

2.1. Tatbestandsvoraussetzungen der Vergesellschaftung

2.1.1. Erfasste Güter: Boden, Naturschätze und Produktionsmittel

Art. 15 GG erfasst spezifische Güter: Boden, Naturschätze und Produktionsmittel. Boden umfasst sowohl land- und forstwirtschaftlich genutzte Flächen als auch Grundstücke, die für den Bau oder andere Zwecke genutzt werden. Naturschätze beinhalten natürliche Ressourcen wie Mineralien, Wasser oder Energierohstoffe. Produktionsmittel umfassen Maschinen, Fabriken, Werkzeuge und andere materielle Mittel, die zur Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen benötigt werden. Die Gesetzgebung zur Vergesellschaftung könnte also eine Vielzahl von wirtschaftlich relevanten Objekten betreffen.

2.1.2. Zweck der Vergesellschaftung

Der Begriff „Vergesellschaftung“ in Art. 15 GG verweist auf die Überführung von privatem in gesellschaftliches Eigentum oder die Einrichtung anderer gemeinwirtschaftlicher Nutzungsformen. Der Zweck muss dabei auf das Gemeinwohl ausgerichtet sein. Im Unterschied zur Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG, die primär auf die Erfüllung spezifischer öffentlicher Aufgaben abzielt, verfolgt die Vergesellschaftung eine grundsätzlichere Neuordnung der Eigentumsverhältnisse, die auf eine gerechtere Verteilung von Ressourcen und Produktionsmitteln im Sinne der sozialen Gerechtigkeit abzielt.

2.1.3. Form der Vergesellschaftung: Gesetz

Die Überführung in Gemeineigentum oder andere gemeinwirtschaftliche Formen muss "durch ein Gesetz" erfolgen. Das Erfordernis eines Gesetzes ist Ausdruck des Parlamentsvorbehalts und stellt sicher, dass die Entscheidung über die Vergesellschaftung demokratisch legitimiert ist. Damit wird das Prinzip des Rechtsstaats gewahrt, da der Gesetzgeber durch das Gesetzgebungsverfahren an die Schranken des Grundgesetzes und die Grundrechte gebunden bleibt.

2.2. Vergesellschaftung und Enteignung im Vergleich

Art. 15 GG und Art. 14 Abs. 3 GG unterscheiden sich deutlich in ihrer Zielrichtung und ihrer normativen Ausgestaltung. Während die Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG im Einzelfall erfolgt und dem Ausgleich individueller Interessen dient, handelt es sich bei der Vergesellschaftung nach Art. 15 GG um eine kollektive, strukturverändernde Maßnahme, die auf eine grundlegende Neustrukturierung der wirtschaftlichen Ordnung zielt. Diese Unterscheidung ist wichtig, da sich aus ihr auch unterschiedliche Anforderungen an die Rechtfertigung und Durchführung ergeben.

3. Rechtsfolgen des Art. 15 GG

3.1. Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft

Art. 15 GG erlaubt die Überführung in Gemeineigentum oder "andere Formen der Gemeinwirtschaft". Diese Begrifflichkeit deutet darauf hin, dass neben der klassischen Staatswirtschaft auch Genossenschaften, Gemeindeeigentum oder andere Organisationsformen denkbar sind, die auf kollektive oder kooperative Eigentumsstrukturen setzen. Entscheidend ist, dass die überführten Güter dem Gemeinwohl dienen und die Verfügungsgewalt über diese Güter kollektiv geregelt wird.

3.2. Entschädigungsregelung

Gemäß Art. 15 Satz 2 GG gelten für die Entschädigung die Bestimmungen aus Art. 14 Abs. 3 Sätze 3 und 4 GG entsprechend. Art und Ausmaß der Entschädigung müssen also durch ein Gesetz geregelt werden, und die Entschädigung ist unter gerechter Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten zu bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner ständigen Rechtsprechung klargestellt, dass es auf die konkrete Situation ankommt und insbesondere die Sozialbindung des Eigentums eine angemessene Entschädigung rechtfertigen kann, die nicht notwendigerweise den vollen Marktwert decken muss.

4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung und Schranken

Art. 15 GG ist an die Grundsätze des Art. 20 GG und das Sozialstaatsprinzip gebunden. Diese Verfassungsprinzipien stellen sicher, dass die Vergesellschaftung nicht willkürlich erfolgt, sondern stets im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung bleibt. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer Vergesellschaftung müssen abgewogen werden, insbesondere im Hinblick auf die Freiheitsrechte der Betroffenen. Gleichzeitig darf Art. 15 GG nicht als „ultima ratio“ verstanden werden; seine Anwendung setzt jedoch voraus, dass die betroffenen Grundrechte, insbesondere Art. 14 GG, ausreichend berücksichtigt werden und die Maßnahme verhältnismäßig ist.

5. Rechtspolitische Diskussion und praktische Relevanz

Trotz seiner theoretischen Bedeutung ist Art. 15 GG bislang nicht praktisch angewandt worden. Ein Grund dafür ist die politisch und gesellschaftlich kontroverse Natur der Norm, die eine grundlegende Änderung des bestehenden wirtschaftlichen Systems erlaubt. Die Diskussion um die Vergesellschaftung von Wohnraum in Berlin zeigt jedoch, dass Art. 15 GG im Rahmen aktueller Debatten über soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Gleichheit durchaus an Relevanz gewinnt.

6. Rechtsprechung

Ein bedeutendes Urteil im Rahmen des Art. 15 GG ist das der Volkswagen-Privatisierung des Bundesverfassungsgerichts vom 17.05.1961 - 1 BvR 561/60; 1 BvR 579/60; 1 BvR 114/61.