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Art. 23 GG - Europäische Union, Grundrechtsschutz, Subsidiaritätsprinzip (Kommentar)

(1) ¹Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. ²Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. ³Für die Begründung der Europäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, gilt Artikel 79 Abs. 2 und 3.

(1a) ¹Der Bundestag und der Bundesrat haben das Recht, wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts der Europäischen Union gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage zu erheben. ²Der Bundestag ist hierzu auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder verpflichtet. ³Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für die Wahrnehmung der Rechte, die dem Bundestag und dem Bundesrat in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind, Ausnahmen von Artikel 42 Abs. 2 Satz 1 und Artikel 52 Abs. 3 Satz 1 zugelassen werden.

(2) ¹In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit. ²Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten.

(3) ¹Die Bundesregierung gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union. ²Die Bundesregierung berücksichtigt die Stellungnahmen des Bundestages bei den Verhandlungen. ³Das Nähere regelt ein Gesetz.

(4) Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären.

(5) ¹Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interessen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetzgebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. ²Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbildung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren. ³In Angelegenheiten, die zu Ausgabenerhöhungen oder Einnahmeminderungen für den Bund führen können, ist die Zustimmung der Bundesregierung erforderlich.

(6) ¹Wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur oder des Rundfunks betroffen sind, wird die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen. ²Die Wahrnehmung der Rechte erfolgt unter Beteiligung und in Abstimmung mit der Bundesregierung; dabei ist die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren.

(7) Das Nähere zu den Absätzen 4 bis 6 regelt ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.

1. Allgemeines

Art. 23 des Grundgesetzes (GG) stellt die verfassungsrechtliche Grundlage der Bundesrepublik Deutschland für die Teilnahme an der Europäischen Union (EU) dar. Die Norm regelt die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration und legt dafür bestimmte verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen fest. Der Artikel wurde im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und als Reaktion auf die fortschreitende Integration innerhalb der Europäischen Union eingeführt, insbesondere im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Vertrags von Maastricht im Jahr 1992. Die Bestimmung unterstreicht die Pflicht zur Mitwirkung an der europäischen Einigung und schafft gleichzeitig Schutzmechanismen für die Souveränität und den verfassungsrechtlichen Kern der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Kommentar analysiert die verschiedenen Aspekte und Anforderungen des Art. 23 GG im Detail und stellt die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Entwicklungen, Interpretationen und Herausforderungen dar.

2. Entstehungsgeschichte und Hintergrund

Die Einführung von Art. 23 GG erfolgte durch das sogenannte "Maastricht-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1993. Die Richter betonten die Notwendigkeit eines speziellen Integrationsartikels, der die Zusammenarbeit Deutschlands mit der EU ermöglicht und gleichzeitig die deutsche Verfassungsidentität sichert. Diese Bestimmung war eine Antwort auf die Notwendigkeit, die deutsche Verfassungsordnung mit den vertraglichen Entwicklungen der EU in Einklang zu bringen und dabei die nationale Souveränität und die verfassungsrechtlichen Grundsätze zu wahren. Art. 23 GG markiert damit eine zentrale Schnittstelle zwischen der innerstaatlichen Verfassungsordnung und dem europäischen Integrationsprozess.

3. Systematik des Art. 23 GG

Art. 23 GG steht im Kontext des Abschnitts "Der Bund und die Länder" und ist maßgeblich für die Gestaltung der deutschen Beteiligung an der Europäischen Union. Die Norm regelt sowohl die institutionelle Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern als auch die Verfassungsanforderungen an die Übertragung von Hoheitsrechten an die EU. Durch die Verknüpfung mit Art. 79 Abs. 2 und 3 GG wird der "Ewigkeitsklausel" besondere Bedeutung beigemessen, um den Schutz der grundlegenden Verfassungsstrukturen zu gewährleisten.

4. Sachlicher und persönlicher Schutzbereich

4.1. Persönlicher Schutzbereich

Der persönliche Schutzbereich von Art. 23 GG umfasst den Bund, die Länder sowie die Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat. Die Norm richtet sich an die staatlichen Organe und ist nicht auf Bürgerrechte anwendbar. Sie legt vielmehr fest, wie die staatlichen Organe der Bundesrepublik Deutschland in Angelegenheiten der Europäischen Union zu handeln haben.

4.2. Sachlicher Schutzbereich

Der sachliche Schutzbereich des Art. 23 GG ist umfassend und betrifft mehrere zentrale Aspekte der Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration:

4.2.1. Verwirklichung eines vereinten Europas (Abs. 1 Satz 1)

Art. 23 GG verpflichtet die Bundesrepublik zur Mitwirkung an der Verwirklichung eines vereinten Europas. Diese Verpflichtung steht unter dem Vorbehalt, dass die Europäische Union demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderalen Grundsätzen sowie dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet bleibt. Ein wesentlicher vergleichbarer Grundrechtsschutz ist ebenfalls erforderlich. Dies verdeutlicht die Bereitschaft Deutschlands zur Integration, ohne jedoch den nationalen Verfassungsgrundsätzen Abbruch zu tun.

4.2.2. Übertragung von Hoheitsrechten (Abs. 1 Satz 2)

Hoheitsrechte können nur durch ein Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates übertragen werden. Dieses Zustimmungsgesetz erfordert eine qualifizierte Mehrheit nach Art. 79 Abs. 2 GG und darf die Verfassung nicht in ihrem Wesensgehalt (Art. 79 Abs. 3 GG) verletzen. Diese Regelung soll verhindern, dass grundlegende Verfassungsprinzipien durch Übertragung von Kompetenzen auf die EU ausgehöhlt werden.

4.2.3. Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates (Abs. 2)

Eine umfassende Unterrichtung des Bundestages und des Bundesrates über alle Vorhaben der EU ist erforderlich. Diese Informationspflicht stellt sicher, dass das Parlament sowie die Länder umfassend in den europäischen Entscheidungsprozess eingebunden sind.

4.2.4. Stellungnahme des Bundestages (Abs. 3)

Der Bundestag hat das Recht, vor der Mitwirkung der Bundesregierung an Rechtsetzungsakten der EU Stellung zu nehmen. Die Bundesregierung muss diese Stellungnahme bei ihren Verhandlungen berücksichtigen. Diese Regelung stärkt die demokratische Legitimation und parlamentarische Kontrolle der europäischen Politik.

4.2.5. Beteiligung des Bundesrates (Abs. 4 und 5)

Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit die Länder betroffen sind. Dies betrifft insbesondere die Bereiche, in denen die Länder gesetzgeberische Kompetenz haben. Damit wird die föderale Struktur Deutschlands auf die europäische Ebene übertragen und die Mitwirkung der Länder sichergestellt.

5. Verfassungsrechtliche Fragen und Probleme

5.1. Die Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten

Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ist ein zentraler Aspekt des Art. 23 GG. Hierbei ist die Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland zu wahren, wie sie in Art. 79 Abs. 3 GG verankert ist. Die sogenannten "verfassungsrechtlichen Identitätskontrolle" stellt sicher, dass die Grundlagen der Verfassung, insbesondere die Menschenwürde, das Demokratieprinzip, der Rechtsstaatsgrundsatz und die Sozialstaatsbindung, nicht durch europäische Regelungen infrage gestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung, insbesondere im "Lissabon-Urteil" von 2009, verdeutlicht, dass die europäischen Integrationsschritte den Kerngehalt der nationalen Verfassungsidentität nicht beeinträchtigen dürfen.

5.2. Der Grundsatz der Subsidiarität

Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein wesentlicher Aspekt des Art. 23 GG. Er besagt, dass Entscheidungen auf der jeweils niedrigsten möglichen Ebene getroffen werden sollen. In der Praxis bedeutet dies, dass die EU nur in den Bereichen tätig werden sollte, in denen die Mitgliedstaaten alleine nicht effektiv handeln können. Dies ist besonders in Bereichen relevant, die die Länderkompetenzen in Deutschland betreffen, wie z.B. Bildung oder Kultur.

5.3. Die Informations- und Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates

Art. 23 GG sichert umfassende Informations- und Beteiligungsrechte für Bundestag und Bundesrat. Diese Rechte sind notwendig, um eine demokratische Kontrolle und Legitimation der europäischen Politik zu gewährleisten. Insbesondere das Recht des Bundestages zur Stellungnahme und die Berücksichtigung dieser Stellungnahme durch die Bundesregierung sind wichtige Elemente der demokratischen Teilhabe. Die praktische Umsetzung dieser Regelungen bleibt jedoch eine Herausforderung, insbesondere angesichts der Dynamik und Komplexität des EU-Entscheidungsprozesses.

6. Rechtsprechung und wissenschaftliche Literatur

6.1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat sich wiederholt mit Art. 23 GG auseinandergesetzt und dessen Tragweite definiert. Besonders hervorzuheben sind das "Maastricht-Urteil" (BVerfGE 89, 155), das "Lissabon-Urteil" (BVerfGE 123, 267) und das Urteil zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) (BVerfGE 135, 317). In diesen Entscheidungen wurde klargestellt, dass die europäische Integration zwar gewollt und verfassungsrechtlich zulässig ist, aber stets unter der Bedingung steht, dass die wesentlichen verfassungsrechtlichen Grundsätze der Bundesrepublik Deutschland gewahrt bleiben.

6.2. Wissenschaftliche Kommentare

Die Kommentarliteratur zu Art. 23 GG ist umfangreich und vielfältig. Autoren wie Stern, Sachs, Maunz/Dürig und Dederer analysieren die Norm vor dem Hintergrund der fortschreitenden europäischen Integration und der Notwendigkeit, den nationalen verfassungsrechtlichen Rahmen zu wahren. Ein zentrales Thema bleibt die Balance zwischen europäischer Integration und nationaler Verfassungsidentität. Die Literatur hebt hervor, dass Art. 23 GG als "Integrationsschranke" verstanden werden kann, die den Weg für eine kontinuierliche, aber kontrollierte Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit ebnet.