BVerfG, 22.05.1963 - 2 BvC 3/62
1. Das Bundesverfassungsgericht hat auch im Wahlprüfungsverfahren das Wahlgesetz auf seine materielle Übereinstimmung mit der Verfassung zu prüfen.
2. Die Auslese der Wahlkreiskandidaten nach dem Prinzip der relativen Mehrheit im Wahlkreis hebt den grundsätzlichen Charakter der Bundestagswahl nach dem Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 als einer Verhältniswahl nicht auf.
3. Überhangmandate sind nur insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich, als ihre Zuteilung die notwendige Folge des spezifischen Zieles der personalisierten Verhältniswahl ist. Eine über diese Besonderheit der personalisierten Verhältniswahl hinausgehende Differenzierung des Stimmgewichts ist in Anbetracht der Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit nicht zu rechtfertigen. Daher müssen im Rahmen des technisch Möglichen Wahlkreise mit annähernd gleich großen Bevölkerungszahlen gebildet werden, so daß grundsätzlich kein Bundesland infolge der unterdurchschnittlichen Größe seiner Wahlkreise mehr Wahlkreise umfaßt, als seinem Anteil an der Bevölkerung des Bundesgebietes entsprechen.
4. Eine Wahlkreiseinteilung ist verfassungswidrig, wenn offenkundig ist, daß sie die Toleranzgrenze des § 3 Abs. 3 Satz 2 Bundeswahlgesetz überschreitet und nicht mehr erwartet werden kann, daß die Diskrepanz sich wieder ausgleicht. Der Bundesgesetzgeber ist in einem solchen Fall gehalten, noch während der laufenden Legislaturperiode für eine Änderung der Wahlkreiseinteilung Sorge zu tragen.
Beschluß
des Zweiten Senats vom 22. Mai 1963
- 2 BvC 3/62 -
in dem Verfahren über die Wahlprüfungsbeschwerde des Herrn H... R..., Tübingen, ..., gegen den Beschluß des Deutschen Bundestages vom 27. Juni 1962 Az 17/61.
Entscheidungsformel:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Gründe
A.
I.
1. Der Beschwerdeführer hat gemäß § 2 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 166 - im folgenden abgekürzt: WahlprüfG) Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 4. Deutschen Bundestag vom 17. September 1961 mit der Begründung erhoben, daß die der Wahl zugrunde gelegte Wahlkreiseinteilung mit dem Verfassungssatz von der Gleichheit der Wahl nicht vereinbar gewesen sei. Grundsätzlich dürfe kein Land in mehr Wahlkreise aufgeteilt sein, als ihm nach seiner Bevölkerungszahl zukämen. Diesem Grundsatz habe der Bundesgesetzgeber nicht Rechnung getragen. Nur deshalb seien der CDU in Schleswig-Holstein drei zusätzliche Überhangmandate zugefallen.
2. Der Deutsche Bundestag hat den Einspruch in seiner 36. Sitzung am 27. Juni 1962 zurückgewiesen, weil die Wahlkreiseinteilung nicht Gegenstand eines Wahlprüfungsverfahrens sein könne. Der Bundestag habe lediglich zu untersuchen, ob die Wahl unter Beachtung der geltenden gesetzlichen Bestimmungen durchgeführt worden sei. Da die Wahlkreisordnung Teil des ordnungsmäßig zustande gekommenen Bundeswahlgesetzes vom 7. Mai 1956 (BGBl. I S. 383) in der Fassung des Gesetzes vom 23. Dezember 1956 (BGBl. I S. 1011) - im folgenden abgekürzt: BWG - sei, könne deren Vereinbarkeit mit Art. 38 Abs. 1 GG nicht geprüft werden.
Der Wahleinspruch könne auch nicht darauf gestützt werden, daß bei der angefochtenen Wahl die in § 3 Abs. 3 BWG vorgesehene Toleranzgrenze für die Abweichung von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl in mehreren Wahlkreisen überschritten gewesen sei. Diese Bestimmung enthalte lediglich eine Sollvorschrift, deren Verletzung die Gültigkeit der Wahl nicht berühre.
3. Gegen den Beschluß hat der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 15. Juli 1962, bei Gericht eingegangen am 26. Juli 1962, Beschwerde erhoben. Die Beschwerde wird von 124 Wahlberechtigten unterstützt, so daß der Vorschrift des § 48 BVerfGG Genüge getan ist.
a) Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung des Grundsatzes der gleichen Wahl. Er trägt dazu im wesentlichen vor: Gegenwärtig habe das Land Schleswig-Holstein mindestens drei Wahlkreise mehr als ihm zustünden; diese fehlten in anderen Bundesländern. Wäre Schleswig-Holstein bei der letzten Bundestagswahl nur in 11 Wahlkreise eingeteilt gewesen, so würde die CDU lediglich 10 Direktmandate gewonnen haben. Es würde dann also höchstens ein Überhangmandat in Schleswig-Holstein zu vergeben gewesen sein.
Die Beachtung des § 3 Abs. 3 BWG sei nicht in das Belieben des Deutschen Bundestages gestellt. Die Bestimmung enthalte den klaren Auftrag, die Wahlkreiseinteilung jeweils rechtzeitig an eine etwaige Bevölkerungsverschiebung anzupassen. Die Mißachtung dieses Auftrags habe am 17. September 1961 zu einer schwerwiegenden Verletzung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit geführt. Eine derartige Verfassungsverletzung müsse im Wahlprüfungsverfahren zumindest vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden können.
Auch sei es mit dem bundesstaatlichen Prinzip nicht vereinbar, daß in einzelnen Bundesländern die Zahl der Abgeordneten dem prozentualen Anteil der Landesbevölkerung an der Gesamtbevölkerung nicht mehr entsprochen habe.
b) Der Beschwerdeführer hat ferner erstmals mit Schriftsatz vom 14. März 1963, bei Gericht eingegangen am 22. März 1963, die Verfassungsmäßigkeit eines weiteren Überhangmandates in Zweifel gezogen, das die CDU anläßlich der letzten Bundestagswahl im Saarland errungen hat. Dieses Überhangmandat beruhe nicht auf der ungleichen Wahlkreiseinteilung, sondern sei eine Folge der Anwendung des d'Hondt'schen Höchstzahlverfahrens bei der Verteilung der einer Listenverbindung insgesamt zustehenden Sitze auf die an ihr beteiligten Landeslisten gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 BWG. Das d'Hondt'sche Höchstzahlverfahren bevorzuge die größeren Gruppen auf Kosten der kleineren. Es sei aber nicht sachgerecht, die Landeslisten der kleineren Bundesländer zum Vorteil der größeren zu benachteiligen. Hinzu komme, daß die Anwendung des d'Hondt'schen Höchstzahlverfahrens im Rahmen des § 7 Abs. 3 Satz 1 BWG die Entstehung von nicht gerechtfertigten Überhangmandaten begünstige und bei der letzten Bundestagswahl im Saarland auch zu einem solchen geführt habe.
II.
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundestag, dem Präsidenten des Bundestags, dem Bundesminister des Innern, dem Bundeswahlleiter und dem Landeswahlleiter des Landes Schleswig-Holstein als Beteiligten im Wahlprüfungsverfahren (§ 6 Abs. 4 WahlprüfG) Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
1. Der Bundesminister des Innern hält die Beschwerde für unbegründet.
Die Zulassung von Überhangmandaten sei eine Folge der Entscheidung des Bundesgesetzgebers für die personalisierte Verhältniswahl. Weder der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit noch die föderative Grundordnung der Bundesrepublik seien dadurch verletzt worden, daß bei der letzten Bundestagswahl die Aufteilung der Wahlkreise auf die Bundesländer nicht deren Anteil an der Gesamtbevölkerung im Jahre 1961 entsprochen habe. Nach dem im § 3 Abs. 3 Satz 3 BWG zum Ausdruck gekommenen Willen des Bundesgesetzgebers solle nicht jedes Mißverhältnis der Wahlkreiseinteilung zu der Bevölkerungsverteilung die Ungültigkeit einer Bundestagswahl zur Folge haben. Zu dem aus dem Grundsatz der gleichen Wahl folgenden Gebot, die Wahlkreise proportional auf die Länder zu verteilen, stehe die Forderung nach möglichst beständigen Wahlkreisen in einem Spannungsverhältnis. Dieses Spannungsverhältnis ergebe sich daraus, daß die von der personalisierten Verhältniswahl angestrebte persönliche Beziehung der Wahlkreisabgeordneten zu ihren Wahlkreisen eine möglichst konstante Wahlkreiseinteilung voraussetze. Dadurch werde das aus dem Grundsatz der gleichen Wahl fließende Gebot, die Aufteilung der Wahlkreiseinteilung jeweils an die Bevölkerungsentwicklung anzupassen, erheblich abgeschwächt.
Die Beibehaltung einer der Bevölkerungsdichte nicht mehr entsprechenden Wahlkreiseinteilung finde allerdings ihre Grenze in einer mißbräuchlichen Ausnutzung des Instituts der Überhangmandate durch eine passive Wahlkreisgeometrie. Davon könne jedoch keine Rede sein. Einer dahingehenden Annahme stehe schon entgegen, daß nicht eine der im Bundestag vertretenen Parteien von der ihr offenstehenden Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, einen Initiativantrag auf Änderung der Wahlkreisgrenzen einzubringen.
2. Der Bundeswahlleiter hat zwei Übersichten vorgelegt, die den Bevölkerungsstand der Wahlkreise am 1. 1. 1962 wiedergeben. Er verweist im übrigen auf den Bericht der Wahlkreiskommission aus dem Jahre 1962 (BT Drucks. IV/741), dessen Schlußfolgerung er sich als Mitunterzeichner zu eigen macht.
3. Der Landeswahlleiter von Schleswig-Holstein ist auch der Ansicht, daß auf den Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl die Ordnungsmäßigkeit des Wahlverfahrens lediglich an Hand des Wahlgesetzes zu prüfen sei. Der angefochtene Beschluß müsse schon aus diesem Grunde Bestand haben. Im übrigen seien die Wahlkreise in Schleswig-Holstein nicht kleiner bemessen worden, um den Anfall von Überhangmandaten zu begünstigen. Die unterdurchschnittliche Größe der schleswig-holsteinischen Wahlkreise beruhe vielmehr auf der seit dem Jahre 1950 in diesem Bundesland rückläufigen Bevölkerungsbewegung, die vor allem auf die Umsiedlung von Vertriebenen und Flüchtlingen zurückzuführen sei.
4. Der Beschwerdeführer hat auf mündliche Verhandlung verzichtet.
B.
I.
Soweit der Beschwerdeführer die Gültigkeit der Bundestagswahl vom 17. September 1961 mit der Behauptung anficht, daß der Grundsatz der gleichen Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) durch die gemessen an der Bevölkerungszahl verschiedene Größe der Wahlkreise verletzt worden sei, ist die Beschwerde zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben; sie ist aber nicht begründet.
1. Die Einteilung des Wahlgebietes in Wahlkreise ist als Anlage zum Bundeswahlgesetz Bestandteil dieses Gesetzes (§ 2 Abs. 2 BWG). Der Angriff des Beschwerdeführers richtet sich also mittelbar gegen das Wahlgesetz. Er rügt die Anwendung von Wahlvorschriften, die nach seiner Auffassung verfassungswidrig geworden sind. Das ist zulässig.
Es bedarf keiner Stellungnahme zu der ständigen Praxis des Bundestages, nach der er im Wahlprüfungsverfahren die Übereinstimmung der wahlgesetzlichen Bestimmungen mit dem Grundgesetz nicht zu prüfen hat. Das Bundesverfassungsgericht, das mit letzter rechtlicher Verbindlichkeit die ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen rechtlichen Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden hat, muß jedenfalls, außer im Rahmen einer Normenkontrolle, eines Verfassungsorganstreits oder einer Verfassungsbeschwerde auch im Wahlprüfungsverfahren ein Wahlgesetz auf seine materielle Übereinstimmung mit der Verfassung prüfen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht durch das Grundgesetz in das Wahlprüfungsverfahren als letzte Instanz eingeschaltet worden ist, um den fehlerfreien Ablauf der Wahlen zu kontrollieren, kann die Wahlprüfung nicht auf die Frage beschränkt werden, ob die gegebenen Wahlvorschriften richtig angewandt worden sind. Voraussetzung einer ordnungs- und gesetzmäßigen Durchführung der Wahl ist vielmehr, daß auch die für diese geltenden gesetzlichen Bestimmungen sich gegenüber dem Grundgesetz selbst als verfassungsmäßig erweisen; ohne eine Aussage über deren Verfassungsmäßigkeit läßt sich eine Entscheidung über die Gültigkeit der Wahlen nicht treffen (vgl. Entscheidung des Reichsstaatsgerichtshofs vom 22. März 1929, Lammers/Simons Bd. II S. 127 [132]; vgl. auch die herrschende Lehre: Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, Vorbem. 1 a vor § 48; Lechner, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Anm. 1 und 2 zu § 13 Nr. 3; Seifert, Das Bundeswahlgesetz, S. 335; v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. S. 925; Maunz/ Dürig, Grundgesetz, Randnummer 16 zu Art. 41).
2. Wann Ungleichheiten in der Wahlkreiseinteilung gegen den Grundsatz der gleichen Wahl verstoßen, läßt sich nicht unabhängig von dem jeweiligen Wahlsystem entscheiden. Während erhebliche Größenunterschiede der Wahlkreise bei der reinen Mehrheitswahl im Einerwahlkreis mit dem Gebot der Wahlrechtsgleichheit schlechthin nicht vereinbar sind, kommt der Größe der Wahlkreise im Rahmen des vom Bundeswahlgesetz normierten Wahlverfahrens in aller Regel eine letztlich entscheidende Bedeutung für das Wahlergebnis nicht zu.
a) Nach dem Bundeswahlgesetz vom 7. Mai 1956 werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages je zur Hälfte nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen (Wahlkreismandate) und nach Landeswahlvorschlägen (Landeslistenmandate) gewählt (§ 1 Abs. 2 BWG). Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten und eine Zweitstimme für die Wahl einer Landesliste (§ 4 BWG). Im Wahlkreis gewählt ist der Bewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt (§ 5 Satz 2 BWG). Landeslisten können nur von politischen Parteien aufgestellt werden (§ 28 Abs. 1 Satz 1 BWG). Mehrere Landeslisten derselben Partei können miteinander verbunden werden (§ 7 Abs. 1 BWG). Sie gelten dann bei der Sitzverteilung im Verhältnis zu den übrigen Listen als eine Liste (§ 7 Abs. 2 BWG). Für die Verteilung der nach den Listen zu vergebenden Sitze werden zunächst die für jede Landesliste bzw. Listenverbindung abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt (§ 6 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 7 Abs. 2 BWG). Die in § 1 Abs. 1 i.V.m. § 54 Nr. 1 BWG vorgesehene Gesamtzahl von 494 Abgeordneten wird auf die Listen oder Listenverbindungen im Verhältnis der Summen der Zweitstimmen im Höchstzahlverfahren d'Hondt verteilt (§ 6 Abs. 1 Satz 4 BWG). Dabei bleiben die Parteien unberücksichtigt, die nicht mindestens 5 vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen Zweitstimmen erhalten oder nicht in mindestens drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben (§ 6 Abs. 4 Satz 1 BWG). Die bei dieser Berechnung auf eine Listenverbindung entfallenden Sitze werden sodann auf die an ihr beteiligten Landeslisten wiederum im Verhältnis ihrer Zweitstimmen in Höchstzahlverfahren d'Hondt aufgeteilt (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BWG). Von der so für jede Landesliste ermittelten Abgeordnetenzahl wird die Zahl der von der Partei in den Wahlkreisen des betreffenden Landes errungenen Wahlkreismandate abgezogen. Die restlichen Sitze werden aus der Landesliste in der dort festgelegten Reihenfolge besetzt (§ 6 Abs. 2 Satz 1 und 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 Satz 2 BWG). Hat eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreismandate errungen, als ihr nach dem Verhältnis der Summen der Zweitstimmen in diesem Land zustehen, so verbleiben ihr die Sitze als Überhangmandate (§ 6 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 7 Abs. 3 Satz 2 BWG). Dadurch erhöht sich die Gesamtzahl der Mitglieder des Bundestages entsprechend (§ 6 Abs. 3 Satz 2 BWG).
b) Die gegenwärtige Wahlkreiseinteilung stammt aus dem Jahre 1949. Sie ist von den Wahlgesetzen vom 8. Juli 1953 (BGBl. I S. 470) und vom 7. Mai 1956 (BGBl. I S. 383) unverändert übernommen worden. Danach entfallen auf Schleswig- Holstein 14 Wahlkreise. Die Bevölkerung Schleswig-Holsteins ist jedoch seit dem Jahre 1950 vor allem durch die Umsiedlung von Vertriebenen und Flüchtlingen erheblich zurückgegangen. Infolge dieses Bevölkerungsrückganges wären am 1. Januar 1962 bei einer der Bevölkerungszahl entsprechenden Verteilung auf dieses Bundesland nur noch 11 Wahlkreise entfallen. Infolgedessen wichen nach dem Stand vom 1. Januar 1962 die Wahlkreise bis auf einen, der geringfügig über dem Bundesdurchschnitt lag (7,4 v. H.), nach unten von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise ab, und zwar drei Wahlkreise um weniger als 20 v. H., vier Wahlkreise um 20-33 1/3 v. H. und sechs Wahlkreise um mehr als 33 1/3 v. H. Dadurch hat sich das dem System des Bundeswahlgesetzes zugrunde gelegte Verhältnis der Wahlkreissitze zu den Listensitzen von 1:1 (§ 1 Abs. 2 BWG) in Schleswig-Holstein zuungunsten der letzteren verschoben. Dieses Mißverhältnis hat es der CDU, da sie über eine relative Mehrheit an Erststimmen in nahezu allen Wahlkreisen verfügte, bei den Bundestagswahlen 1957 und 1961 ermöglicht, drei zusätzliche Überhangmandate zu erzielen. Bei 11 statt 14 Wahlkreisen hätte die CDU 1961 in Schleswig-Holstein nicht 13, sondern nur 10 Wahlkreismandate erringen können, da der etwas zu große Wahlkreis Kiel, der als Verwaltungseinheit i.S. des § 3 Abs. 3 Satz 1 BWG auch bei rechtzeitiger Reduzierung der Wahlkreise hätte bestehen bleiben müssen, in jedem Fall an die SPD gefallen wäre. Auf Grund der Zweitstimmen standen der CDU in Schleswig-Holstein aber nur 9 Mandate zu. Damit würde die CDU in Schleswig-Holstein nicht 4, sondern lediglich ein Überhangmandat, also statt 13 nur 10 Mandate erhalten haben.
3. a) Der Grundsatz der gleichen Wahl besagt, daß jedermann sein Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können (BVerfGE 12, 73 [77] mit weiteren Nachweisen). Er verlangt, daß jeder nach den allgemeinen Vorschriften Wahlberechtigte seine Stimme wie jeder andere abgeben darf und daß die gültig abgegebene Stimme ebenso bewertet wird wie die anderen Stimmen; alle Wähler sollen mit den Stimmen, die sie abgeben, den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis haben (BVerfGE 1, 208 [246]; 7, 63 [70]). Während im reinen Mehrheitswahlsystem mit gleich großen Wahlkreisen das Gewicht der einzelnen Wählerstimme dann gleich ist, wenn alle Stimmen den gleichen Zählwert haben, erfordert die Wahlgleichheit beim Verhältniswahlsystem, daß jeder Stimme auch der gleiche Erfolgswert zukommt (BVerfGE 13, 243 [246] mit weiteren Nachweisen).
b) Diesem Gebot des grundsätzlich gleichen Erfolgswertes jeder Wählerstimme als der spezifischen Ausprägung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erhalten hat, ist auch dann Genüge getan, wenn die Verhältniswahl in der Weise mit Elementen der Mehrheitswahl verbunden wird, wie dies im Bundeswahlgesetz vorgesehen ist. Durch die im § 6 Abs. 2 Satz 1 BWG vorgeschriebene Verrechnung der Wahlkreismandate mit den Sitzen, die jeder Partei auf Grund der Zweitstimmen in einem Bundesland zustehen, wird die Gesamtzahl der Sitze - unbeschadet der vorgeschalteten Mehrheitswahl - so auf die Parteien verteilt, wie es dem Verhältnis der Zweitstimmen entspricht. Die Auslese der Wahlkreiskandidaten nach dem Prinzip der relativen Mehrheit im Wahlkreis hebt also den grundsätzlichen Charakter der Bundestagswahl als einer Verhältniswahl nicht auf (BVerfGE 6, 84 [90]; 13, 127 [129]). Demnach ist, wenn die Wahlkreismandate im Rahmen des Verhältnisausgleichs von der proportionalen Sitzzuteilung auf Grund der Zweitstimmen aufgezehrt werden, die verschiedene Größe der Wahlkreise und demgemäß das verschiedene Gewicht, das die einzelnen Wahlstimmen bei der Feststellung haben, welcher der von den Parteien benannten Wahlbewerber im Wahlkreis zum Zuge kommt, für die Frage, ob der Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt worden ist, nicht von Belang (BVerfGE 13, 127 [129]).
c) Der Erfolgswert der Wählerstimmen wird zwar durch den Anfall von Überhangmandaten, wie er in § 6 Abs. 3 BWG vorgesehen ist, bis zu einem gewissen Grade differenziert. Die mit der Zulassung von Überhangmandaten verbundene Differenzierung des Stimmgewichts von Wählern, deren Parteien keine Überhangmandate erzielen, und Wählern solcher Parteien, denen dies gelingt, ist aber in Anbetracht der Formalisierung, die die Wahlrechtsgleichheit unter dem Verhältniswahlsystem erfährt, nicht unbeschränkt zulässig.
Sie ist vielmehr nur insoweit mit dem Grundsatz der gleichen Wahl vereinbar, als sie die notwendige Folge des besonderen Charakters der personalisierten Verhältniswahl ist. Das Bundeswahlgesetz hat vor den Verhältnisausgleich eine Personenwahl nach relativer Mehrheit in den Wahlkreisen gesetzt. Durch die Vorschaltung der Mehrheitswahl soll eine engere persönliche Beziehung der Wahlkreisabgeordneten zu dem Wahlkreis, in dem sie gewählt worden sind, geknüpft werden. In diesem besonderen Anliegen der personalisierten Verhältniswahl findet die aus der Zulassung von Überhangmandaten sich ergebende Modifizierung der Erfolgswertgleichheit ihre Rechtfertigung (BVerfGE 7, 63 [74 f.]). Überhangmandate sind daher nur insoweit verfassungsrechtlich unbedenklich, als ihre Zuteilung die notwendige Folge des spezifischen Zieles der personalisierten Verhältniswahl ist. Eine über diese Besonderheit der personalisierten Verhältniswahl hinausgehende Differenzierung des Stimmgewichts ist in Anbetracht der Formalisierung der Wahlrechtsgleichheit daher nicht zu rechtfertigen.
Aus diesem Grunde müssen im Rahmen des technisch Möglichen Wahlkreise mit annähernd gleich großen Bevölkerungszahlen gebildet werden, so daß grundsätzlich kein Bundesland infolge der unterdurchschnittlichen Größe seiner Wahlkreise mehr Wahlkreise umfaßt, als seinem Anteil an der Bevölkerung des Bundesgebietes entspricht. Sind alle Wahlkreise etwa gleich groß, so ist deren angemessene Verteilung auf die Bundesländer gewährleistet und damit der Anfall von Überhangmandaten auf das verfassungsrechtlich zulässige Mindestmaß beschränkt.
Auch die Vorschrift des § 6 Abs. 4 BWG, nach der Parteien am Verhältnisausgleich teilnehmen, die zwar nicht 5. v. H. der Zweitstimmen, wohl aber 3 Wahlkreismandate errungen haben, geht davon aus, daß alle Wahlkreise annähernd gleich groß sind.
Andererseits muß nach dem Bundeswahlgesetz jeder Wahlkreis zugleich ein abgerundetes zusammengehöriges Ganzes bilden, und die historisch verwurzelten Verwaltungsgrenzen sollen sich nach Möglichkeit mit den Wahlkreisgrenzen decken. Auch bleibt die Bevölkerungsverteilung nicht konstant. Sie ist vielmehr dauernden Wandlungen unterworfen. Das verfassungsrechtliche Gebot, die Wahlkreise bevölkerungsmäßig an dem Prinzip der Gleichheit der Wahl zu orientieren, läßt sich daher nur unvollkommen verwirklichen. Der Bundesgesetzgeber trägt diesen in der Natur der Sache begründeten Schwierigkeiten in § 3 Abs. 3 Satz 2 BWG Rechnung, indem er die äußerstenfalls zulässige Abweichung von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise auf 33 1/3 v. H. nach unten und oben begrenzt. Damit ist der Grundsatz der gleichen Wahl für diesen Bereich unter Beachtung der der Freiheit des Gesetzgebers gezogenen Grenzen verfassungskonform konkretisiert.
4. Aus der Tatsache, daß die Größe der Wahlkreise bei den letzten Bundestagswahlen nicht mehr in vollem Umfang dem Erfordernis der Wahlrechtsgleichheit Rechnung getragen hat, folgt aber nicht, daß die Wahlkreiseinteilung zu jenem Zeitpunkt schon verfassungswidrig geworden war.
a) Nach dem Bericht der Wahlkreiskommission vom 4. September 1962 (BT Drucks. IV/741) hatten am 1. Januar 1962 37 Wahlkreise die mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit noch vereinbare Toleranzgrenze des § 3 Abs. 3 Satz 2 BWG überschritten. Zum gleichen Zeitpunkt waren in Schleswig-Holstein drei, in Niedersachsen vier und in Bayern ebenfalls vier Wahlkreise überzählig, von denen sieben in Nordrhein-Westfalen, einer in Rheinland-Pfalz und drei in Baden-Württemberg fehlten. Da sich diese Ungleichheiten bei der letzten Bundestagswahl in Schleswig-Holstein erneut in einer Differenzierung des Stimmgewichts ausgewirkt haben, die nicht mehr ignoriert werden kann, darf die Wahlkreiseinteilung in ihrer bisherigen Form der nächsten Bundestagswahl nicht mehr zugrunde gelegt werden. Die Wahlkreiseinteilung ist verfassungswidrig geworden, weil offenkundig ist, daß sie mit der gegenwärtigen Bevölkerungsverteilung nicht mehr in Einklang steht und nicht mehr erwartet werden kann, daß die heutige Diskrepanz sich wieder ausgleicht. Der Bundesgesetzgeber ist daher gehalten, noch während der laufenden Legislaturperiode für eine Änderung der Wahlkreiseinteilung Sorge zu tragen, indem er die Abweichungen der Einwohnerzahlen der Wahlkreise vom Bundesdurchschnitt auf das verfassungsrechtlich zulässige Maß zurückführt und die Verteilung der Wahlkreise auf die einzelnen Länder wieder deren Anteil an der Gesamtbevölkerung anpaßt.
b) Die Verfassungswidrigkeit der Wahlkreiseinteilung war jedoch am 17. September 1961 noch nicht so eindeutig erkennbar, daß diese auch schon zu jenem Zeitpunkt als ungültig angesehen werden muß.
Die gegenwärtige Wahlkreiseinteilung stammt aus dem Jahre 1949. Sie ist von den Wahlgesetzen vom 8. Juli 1953 und vom 7. Mai 1956 unverändert übernommen worden. Lediglich das Saarland ist nach seinem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland durch das Gesetz vom 23. Dezember 1956 (BGBl. I S. 1011) in 5 weitere Wahlkreise eingeteilt worden. Seit 1949 haben sich die Bevölkerungszahlen der Länder sowohl absolut wie im Verhältnis zueinander mehr und mehr verschoben. Dabei haben sich die größten Unterschiede zwischen den Ländern herausgebildet, die vornehmlich von der Umsiedlung der Vertriebenen und von der Binnenwanderung als Folge der verschiedenen wirtschaftlichen Entwicklung betroffen waren. Dieser Prozeß hat sich nur allmählich und nicht immer geradlinig vollzogen.
Die Schwierigkeit, die darin besteht, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die ursprünglich verfassungsmäßig gewesene Wahlkreiseinteilung verfassungswidrig geworden ist, beruht im vorliegenden Fall vor allem darauf, daß diese Entwicklung von fließenden Übergängen gekennzeichnet und ihr "Trend" in den Einzelheiten nicht mit genügender Sicherheit vorauszusehen war. In Anbetracht dieser Umstände, die auch eine - wenigstens teilweise - rückläufige Entwicklung nicht von vornherein ausschlossen, fehlte dem Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit vor den letzten Bundestagswahlen noch die Evidenz, die erforderlich gewesen wäre, um der Wahlkreiseinteilung schon zu jener Zeit ihre Geltungskraft zu nehmen. Zwar war bereits in dem Bericht der Wahlkreiskommission vom 20. Juni 1958 (BT Drucks. III/ 677) deutlich geworden, daß die Wahlkreiseinteilung schon damals - wenn auch in einem viel bescheideneren Ausmaß - nicht mehr dem Maßstab des § 3 Abs. 3 Satz 2 BWG gerecht wurde. Auch waren schon bei der Bundestagswahl am 15. September 1957 drei Überhangmandate angefallen, die bei einer rechtzeitigen Anpassung der Wahlkreiseinteilung an die inzwischen erfolgten Bevölkerungsverschiebungen hätten vermieden werden können. Da diese Überhangmandate aber nur durch das Zusammentreffen zweier Faktoren, der unterdurchschnittlich kleinen Wahlkreise in Schleswig-Holstein einerseits und der relativen Mehrheit an Erststimmen einer Partei in allen Wahlkreisen dieses Bundeslandes andererseits, zustande gekommen waren, kann nicht behauptet werden, daß mit einer Wiederholung des Zusammentreffens dieser beiden Vorgänge bei den letzten Bundestagswahlen von 1961 gerechnet werden mußte.
c) Der Beschwerdeführer sieht in der dem Bevölkerungsstand nicht mehr entsprechenden Verteilung der Wahlkreise ferner einen Verstoß gegen das bundesstaatliche Prinzip. Er glaubt, auch daraus die Verfassungswidrigkeit der gegenwärtigen Wahlkreiseinteilung herleiten zu können. Diesem Gesichtspunkt kommt jedoch im vorliegenden Zusammenhang neben dem Grundsatz der gleichen Wahl keine Bedeutung zu. Der Bundesgesetzgeber ist bei der Wahl zum Bundestag als dem unitarischen Verfassungsorgan des Bundes nicht gehalten, föderative Gesichtspunkte zu berücksichtigen (BVerfGE 6, 84 [99]).
5. Da der Verstoß der Wahlkreiseinteilung gegen den Grundsatz der gleichen Wahl am 17. September 1961 noch nicht so evident war, daß er deren Verfassungsmäßigkeit zu jener Zeit in Frage zu stellen vermocht hätte, kann nicht von einem Wahlfehler gesprochen werden, der die Wahlen von 1961 in verfassungswidriger Weise beeinflußt habe. Der Bundestag hat demnach den auf die Verfassungswidrigkeit dieser Wahlkreiseinteilung gestützten Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahlen zum Vierten Deutschen Bundestag im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Die Beschwerde kann deshalb insoweit keinen Erfolg haben.
II.
Soweit der Beschwerdeführer die Gültigkeit der letzten Bundestagswahl auch mit der Begründung in Zweifel zieht, daß die sachlich nicht gebotene Anwendung des d'Hondt'schen Höchstzahlverfahrens im Rahmen des § 7 Abs. 3 Satz 1 BWG zu einem ungerechtfertigten Überhangmandat im Saarland geführt habe, ist die Beschwerde unzulässig.
Diese mit Schriftsatz vom 14. März 1963 erstmals vorgebrachte Rüge kann schon deshalb nicht berücksichtigt werden, weil sie nicht Gegenstand des Wahlprüfungsverfahrens vor dem Bundestag gewesen ist.
Die Rüge wäre auch sachlich nicht begründet. Es trifft zwar zu, daß das d'Hondt'sche Höchstzahlverfahren nicht immer zu völlig proporzgerechten Ergebnissen führt. Andererseits besteht aber Einigkeit darüber, daß es - bei beweglichen Wahlquotienten - ein exakteres praktisch durchführbares System, das zu gerechteren Ergebnissen führen würde, nicht gibt (vgl. dazu Bay VerfGH, VGHE N. F. 14 II S. 17 ff. mit weiteren Nachweisen). Unter diesen Umständen kann die Gültigkeit einer Bundestagswahl durch die auf der Anwendung des d'Hondt'schen Höchstzahlverfahrens beruhende Ungenauigkeit nicht in Frage gestellt werden, und zwar auch dann nicht, wenn diese ausnahmsweise zu einem Überhangmandat geführt hat, wie dies bei den letzten Bundestagswahlen im Saarland tatsächlich der Fall war.