BVerfG, 16.06.1965 - 1 BvR 124/65
Gegen die Beschlüsse des Ausschusses nach § 93 a Abs. 2 und 3 BVerfGG ist weder eine Verfassungsbeschwerde noch ein sonstiger Rechtsbehelf an den Senat gegeben.
§ 93 a Abs. 2 und 3 BVerfGG ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Beschluß
des Ersten Senats vom 16. Juni 1965
- 1 BvR 124/65 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Diplom-Volkswirts ... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte ... - gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Mai 1964 - 2 AZR 244/63.
Entscheidungsformel:
Der Antrag vom 21. Dezember 1964 wird verworfen.
Gründe
I.
Der nach § 93a Abs. 2 BVerfGG vom Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts berufene Ausschuß (kurz: Ausschuß) hat am 12. November 1964 die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom 1. Juli 1964 gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Mai 1964 als "offensichtlich unbegründet" nicht zur Entscheidung angenommen. Hiergegen hat sich der Beschwerdeführer mit einem als "Verfassungsbeschwerde" bezeichneten Schriftsatz vom 21. Dezember 1964 gewandt mit dem Begehren, den Beschluß aufzuheben, der Verfassungsbeschwerde Fortgang zu geben und über sie eine Entscheidung des zuständigen Senats des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen.
Er führt aus: Über seine Verfassungsbeschwerde sei "noch nicht grundgesetzmäßig entschieden worden". Art. 93 Abs. 2 GG übertrage dem Bundesverfassungsgericht die Entscheidung "in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen", also auch über die durch § 90 BVerfGG eingeführte Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht bestehe aber in jedem Senat aus acht Richtern; die Regelungsbefugnis des Art. 94 Abs. 2 GG erlaube dem einfachen Gesetzgeber nicht, "das Bundesverfassungsgericht als solches in seinem Entscheidungsrecht und seiner Entscheidungspflicht zu beschränken" und dem aus acht Richtern bestehenden Senat eine Vorinstanz, nämlich den aus drei Richtern bestehenden Ausschuß, "vorzuordnen". Auch würden die Richter des Bundesverfassungsgerichts nach § 5 Abs. 1 BVerfGG je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt; diese Parität sei bei dem aus drei Richtern bestehenden Ausschuß nicht möglich. Die erforderliche Entlastung des Bundesverfassungsgerichts könne es vielleicht rechtfertigen, daß der Ausschuß allein die rein formelle Frage entscheide, die Verfassungsbeschwerde sei formwidrig, unzulässig oder verspätet. Keinesfalls aber dürfe die Bejahung der materiellen Frage, daß die - formgerechte, zulässige und rechtzeitige - Verfassungsbeschwerde "offensichtlich unbegründet" sei, dem aus acht Richtern bestehenden Senat entzogen werden. Eine so weit gehende Ausschaltung des Senats führe zur Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz: dann werde entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG der Beschwerdeführer seinem gesetzlichen Richter entzogen; weiter werde ihm das rechtliche Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG versagt, das ihm vor "dem gesamten zuständigen Senat" gewährt werden müsse. Auch der Gesetzgeber habe durch die Novelle vom 3. August 1963 die materielle Entscheidungskompetenz, die dem Ausschuß nach dem früheren § 91a BVerfGG zugestanden habe, von dem Vorprüfungsausschuß auf den Senat verlagern wollen, wie sich aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. IV/1224 S. 6) ergebe.
Im übrigen beruft sich der Beschwerdeführer auf seine Ausführungen, mit denen er in der ursprünglichen Verfassungsbeschwerde das Urteil des Bundesarbeitsgerichts als verfassungswidrig bekämpft hatte, und führt dazu noch aus, daß der Begriff der Offensichtlichkeit in § 93a Abs. 3 BVerfGG verfassungskonform jedenfalls dahin ausgelegt werden müsse, niemand, der mit der Rechtslage vertraut sei, dürfe vernünftigerweise an der Unbegründetheit der Verfassungsbeschwerde zweifeln, diese müsse "auf den ersten Blick" unbegründet erscheinen. Dies treffe bei der sehr eingehend begründeten ursprünglichen Verfassungsbeschwerde keinesfalls zu.
Der nach § 14 Abs. 5 BVerfGG gebildete Ausschuß hat den Ersten Senat für das vorliegende Verfahren für zuständig erklärt.
II.
Mit seinem Antrag vom 21. Dezember 1964 erstrebt der Beschwerdeführer inhaltlich, daß der zuständige Senat in voller Besetzung über seine Verfassungsbeschwerde vom 1. Juli 1964 entscheide.
1. Diesen Antrag als eine neue Verfassungsbeschwerde, und zwar gegen den Beschluß des Ausschusses vom 12. November 1964, aufzufassen, geht nicht an. Denn eine solche Verfassungsbeschwerde wäre unstatthaft.
Die Entscheidungen der Senate des Bundesverfassungsgerichts gehören nicht zu den Akten der öffentlichen Gewalt, die § 90 Abs. 1 BVerfGG meint; ihre Überprüfung unter dem Gesichtspunkt einer Grundrechtsverletzung würde dem Wesen dieser Entscheidungen widersprechen (BVerfGE 1, 89 [90]). Dasselbe muß aber auch für die Entscheidungen der Ausschüsse nach § 93 a Abs. 2 und 3 BVerfGG gelten. Diese stellen im Rahmen ihrer Zuständigkeit ebenso das Bundesverfassungsgericht dar wie die Senate (BVerfGE 7, 239 [243]; 18, 37 [38] und 440); ihre Entscheidungen sind daher gleichfalls einer Nachprüfung auf die Verletzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG angeführten Grundrechte und grundrechtsähnlichen Rechte im Wege der Verfassungsbeschwerde nicht zugänglich. Zudem wäre zur Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde, die auf die Verletzung von Art. 101 und 103 GG gestützt ist, der Zweite Senat zuständig; niemals kann aber ein Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Entscheidung des anderen Senats nachprüfen oder gar aufheben (BVerfGE 1, 89; 7, 17).
2. Dem Begehren des Beschwerdeführers kann das Bundesverfassungsgericht nur gerecht werden, wenn es seinen Antrag als eine an den Senat gerichtete "Gegenvorstellung" gegen den Beschluß des Ausschusses vom 12. November 1964 ansieht.
a) Der Beschwerdeführer meint, die Ablehnungskompetenz des Ausschusses nach § 93a Abs. 3 BVerfGG sei überhaupt oder mindestens insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar, als sie auch "offensichtlich unbegründete" Verfassungsbeschwerden umfaßt.
Träfe diese Auffassung zu, so wäre allerdings das Verfahren über die Verfassungsbeschwerde vom 1. Juli 1964 durch den Beschluß des Ausschusses vom 12. November 1964 nicht endgültig abgeschlossen und der Entscheidung durch den Senat noch zugänglich.
Die Ablehnungskompetenz des Ausschusses steht jedoch in dem vollen, in § 93a Abs. 3 BVerfGG bestimmten Umfange mit dem Grundgesetz in Einklang. Das Grundgesetz enthält - von Art. 94 Abs. 1 abgesehen - keine Bestimmungen über die Organisation des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere weder über die Spruchkörper, durch die es entscheidet, noch über die Zahl der zur Mitwirkung bei der einzelnen Entscheidung berufenen Richter; es überläßt vielmehr die Regelung der Verfassung und des Verfahrens (des Bundesverfassungsgerichts) dem Gesetzgeber (Art. 94 Abs. 2 GG). Die Bestimmung, daß die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt werden müssen (Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG), besagt nicht, daß diese paritätische Zusammensetzung auch für den einzelnen, jeweils tätig werdenden Spruchkörper gewahrt sein müsse; für eine so weitgehende Auslegung des § 5 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, der als einfaches Recht vom Gesetzgeber geändert werden kann, gibt der Wortlaut der Bestimmung keinen Anhalt.
Bei dieser Verfassungslage ist der Gesetzgeber, der durch einfaches Gesetz ohne einen bindenden Auftrag des Grundgesetzes die Verfassungsbeschwerde eingeführt und damit die Arbeitslast des Bundesverfassungsgerichts wesentlich erweitert hat, auch berechtigt, das Verfahren zur Erledigung der Verfassungsbeschwerden abweichend von den sonst geltenden Bestimmungen zu regeln; er konnte deshalb auch, um die Senate von der Bearbeitung aussichtsloser Verfassungsbeschwerden zu entlasten, eine Vorprüfung durch einen Ausschuß einführen sowie diesem die Kompetenz zur Ablehnung der Annahme einer Verfassungsbeschwerde aus den in § 93a Abs. 3 BVerfGG bezeichneten Gründen erteilen (BVerfGE 18, 440 [441]). Der klare Wortlaut des § 93a Abs. 3 BVerfGG erstreckt die Ablehnungskompetenz des Ausschusses auch auf den Fall, daß er die Verfassungsbeschwerde materiell für offensichtlich unbegründet ansieht, und nimmt daher den gegenteiligen Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren die ihnen vom Beschwerdeführer beigelegte Bedeutung.
Hiernach tritt der Ausschuß im Rahmen seiner Kompetenz an die Stelle des Senats und ist insoweit der gesetzliche Richter. Das rechtliche Gehör ist dem Beschwerdeführer gewährt, wenn er dem Ausschuß sein Anliegen vortragen kann.
b) Die vorstehenden Ausführungen ergeben, daß es gegen die Entscheidungen des Ausschusses nicht nur keine Verfassungsbeschwerde, sondern auch keinen sonstigen Rechtsbehelf irgendwelcher Art an den Senat geben kann (BVerfGE ebenda). Durch die Eröffnung eines solchen "Beschwerdeweges" würde der Zweck der Tätigkeit des Ausschusses vereitelt werden; er soll die von vornherein aussichtslosen Verfassungsbeschwerden dem Senat fernhalten und so verhindern, daß dieser infolge der gerade durch die Einführung der Verfassungsbeschwerde entstandenen erheblichen Mehrbelastung außerstande gesetzt wird, die wichtigeren, ihm vom Grundgesetz unmittelbar übertragenen Aufgaben zu erfüllen.