RG, 04.11.1880 - Va 321/80

Daten
Fall: 
Entschädigungsklage wegen der Enteignung von Grundeigentum
Fundstellen: 
RGZ 3, 303
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
04.11.1880
Aktenzeichen: 
Va 321/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • KreisG Glatz
  • OLG Breslau
Stichwörter: 
  • Bestimmung des zuständigen Gerichts für eine Entschädigungsklage wegen der Enteignung von Grundeigentum

1. Ist für die Entschädigungsklage im Falle der Enteignung von Grundeigentum das Gericht, in dessen Bezirk das betreffende Grundstück belegen ist, ausschließlich zuständig, so daß der in Anspruch Genommene nicht in seinem persönlichen Gerichtsstande belangt werden kann?
2. Ist die sechsmonatliche Frist zur Beschreitung des Rechtsweges gegen die Entscheidung der Bezirksregierung über die Höhe der Entschädigung bei der Enteignung von Grundeigentum eine Verjährungs- oder eine Rechtsmittelfrist?

Tatbestand

Dem Kläger sind Teile seines Grundstückes für Eisenbahnzwecke enteignet und dafür durch Beschluß des Bezirksrates zu Breslau vom 25. Juni 1878 im ganzen 11236 Mark 56 Pf. Entschädigung zugesprochen. Er verlangt 78594 Mark 16 Pf. und hat die Klage wegen seiner Mehrforderung im Dezember 1878 beim Stadtgericht zu Berlin, in dessen Bezirke die Direktion der Beklagten ihren Sitz hat, eingereicht, sich aber unterm 30. Januar 1879 mit dem Antrage der letzteren, die Sache an das Kreisgericht zu Glatz abzugeben, in dessen Bezirke die abgetretenen Grundstücke belegen sind, einverstanden erklärt. Letzteres hat die Klage abgewiesen, indem es den Einwand der Beklagten für durchgreifend erachtet hat, daß die Klage erst nach Verlauf der im §. 30 des Ges. vom 11. Juni 1874 bestimmten sechsmonatlichen Präklusivfrist dem allein kompetenten Kreisgericht zu Glatz zugegangen sei und deren frühere Einreichung beim Stadtgericht zu Berlin wegen dessen Inkompetenz keine Berücksichtigung verdiene, auch die §§. 551 flg. A.L.R. I. 9 dem Kläger nicht zur Seite ständen, da es sich um eine Rechtsmittelfrist, nicht aber um eine Verjährungsfrist handle. In zweiter Instanz ist das erste Erkenntnis abgeändert und unter Verwerfung der präjudiziellen Einrede der versäumten Beschreibung des Rechtsweges die Sache zur anderweiten Entscheidung in die erste Instanz zurückverwiesen. Infolge der von der Beklagten eingelegten Revision ist das zweite Erkenntnis abgeändert und das erste bestätigt worden aus folgenden Gründen:

Gründe

"Es kann dahingestellt bleiben, ob nach der vor dem Gesetze vom 11. Juni 1874 bestehenden Gesetzgebung, insbesondere nach den Bestimmungen der Kabinetsordre vom 1. März 1847 (G.-S. S. 112) und der Verordnung vom 2. Januar 1849 §. 9 (G.-S. S. 3) der Kläger wegen der Entschädigung für das durch Zwangsenteignung veräußerte Grundstück den Beklagten sowohl in dessen persönlichem Gerichtsstande, als auch in dem Gerichtsstande der belegenen Sache hätte belangen können. Jedenfalls kann der Ansicht des Appellationsrichters, daß die Bestimmung im Abs. 3 des §. 30 des Gesetzes vom 11. Juni 1874 (G.-S. S. 221) über die Enteignung von Grundeigentum, welche dahin lautet:

"Zuständig ist das Gericht, in dessen Bezirk das betreffende Grundstück belegen ist",

nicht eine ausschließliche Zuständigkeit habe begründen sollen, und daß der Rechtsweg gegen die Entscheidung der Bezirksregierung über die Höhe der Entschädigung im Falle der Enteignung von Grundeigentum auch durch Anstellung der Klage beim Gericht des Wohnorts des in Anspruch Genommenen mit Erfolg beschritten werden könne, nicht beigetreten werden. Schon die Fassung des Gesetzes spricht gegen diese Ansicht, indem ohne irgend eine Andeutung über die fernere Zulässigkeit der Anbringung der Klage im persönlichen Gerichtsstande die Worte: "Zuständig ist" an die Spitze gestellt sind. Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes beseitigt aber jeden Zweifel darüber, daß hier eine ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts der belegenen Sache hat bestimmt werden sollen. Die erste Vorlage des Entwurfes vom 2. November 1868 (Nr. 10 der Drucksachen des Herrenhauses) enthält im §. 25 dieselbe Bestimmung in genau derselben Fassung, welche dann wörtlich in den Entwurf des Jahres 1871 §. 28 (Nr. 6 der Drucksachen des Abgeordnetenhauses) und §. 31 der Vorlage des Jahres 1873 (Nr. 18 der Drucksachen des Abgeordnetenhauses) übergegangen ist. Die Motive zu §. 25 des Entwurfes vom Jahre 1868 sagen (S. 76) wörtlich: "Als zuständiges Forum für die Entschädigungsklage ist für die Landesteile, in welchen die Allgemeine Gerichtsordnung gilt, durch §. 9 der Verordnung vom 2. Januar 1849 und Art. II Nr. 3 des Gesetzes vom 26. April 1851 (G.-S. S. 181) und für die durch das Gesetz vom 20. September 1866 und die beiden Gesetze vom 24. Dezember 1866 einverleibten Landesteile mit Ausschluß von Hannover, der freien Stadt Frankfurt und des vormaligen Oberamtes Meisenheim und der Enclave Kaulsdorf im §. 94 des Gesetzes vom 24. Juni 1867 (G.-S. S. 885) das forum rei sitae und das persönliche forum des Unternehmers bestimmt. Da die Ausmittelung der Entschädigung die Abschätzung des Objektes erfordert, so erscheint es angemessener, die Entschädigungsklage lediglich vor das forum rei sitae zu verweisen. Dies ist im §. 25 geschehen." Und in den Motiven des Entwurfes von 1871 zu §. 28 desselben heißt es S. 65:

"Als forum für die Entschädigungsklage ist ausschließlich das Gericht der belegenen Sache bestimmt, weil die Ausmittelung der Entschädigung eine Abschätzung des Grundeigentums erfordert und diese immer nur am Orte der gelegenen Sache erfolgen kann."

Auch enthalten die Protokolle der beiden Häuser des preußischen Landtags keinerlei Bemerkung, welche dm Schluß auf eine andere als die hier festgehaltene Bedeutung der fraglichen Gesetzesstelle gestattete. Es ist überdies eine irrtümliche Ansicht des Klägers, wenn er mit Rücksicht auf §. 59 der Einleitung zum A.L.R. geltend macht, der persönliche Gerichtsstand für Klagen der vorliegenden Art sei durch das Gesetz vom II. Juni 1874 nicht ausdrücklich aufgehoben; denn der §. 57 des letzteren hebt ausdrücklich alle, den Vorschriften dieses Gesetzes entgegenstehenden Bestimmungen auf, und der Umstand, daß unter den in den Motiven der älteren Vorlage als aufgehoben angeführten Gesetzen sich die hier in Betracht kommenden Bestimmungen der früheren Gesetzgebung nicht befinden, kann deshalb nicht befremden, weil bei der Besprechung des §. 57 in der Kommission des Abgeordnetenhauses sowohl die Mitglieder dieser Kommission als die Regierungskommissare sich übereinstimmend dahin äußerten, daß von einer Aufzählung der einzelnen aufgehobenen Bestimmungen abzusehen sei wegen der Schwierigkeit, dieselben im Einzelnen zu bestimmen. (Vergl. Dr. Bähr und W. Langerhans, Das Gesetz über die Enteignung von Grundeigentum vom 11. Juni 1874 mit Erläuterungen S. 125.)

Ebensowenig kann die Ansicht des Klägers für zutreffend erachtet werden, daß im vorliegenden Falle die Anstellung der Klage im persönlichen Gerichtsstande der Beklagten deshalb gerechtfertigt erscheine, weil es sich nicht bloß um die Erstattung einer höheren Summe für den enteigneten Grund und Boden, sondern auch um die Vergütung des Minderwertes, welchen das Restgrundstück durch die Enteignung erlitten, handle; denn dieser Minderwert bildet nach §. 8 Abs. 2 des Gesetzes vom 11. Juni 1874 einen Teil der zu gewährenden Entschädigung, auf welchen also auch das Entschädigungsverfahren und insbesondere der §. 30 des Gesetzes Anwendung finden.

Ist hiernach aber das Gericht der belegenen Sache der ausschließliche Gerichtsstand, so kann die Präsentation und Einleitung der Klage bei dem vormaligen Stadtgericht zu Berlin als dem Gericht, in dessen Bezirk der Vorstand der Beklagten seinen Sitz hat, nicht für geeignet erachtet werden, die Präklusivfrist des §. 30 des Gesetzes vom 11. Juni 1874 zu wahren, vielmehr muß die erst nach Verlauf dieser Frist an das allein zuständige Gericht der belegenen Sache erfolgte Abgabe der Klage für verspätet angesehen werden.

Dem Kläger stehen auch die lediglich auf die Unterbrechung der Verjährung bezüglichen Bestimmungen der §§. 532 flg. A.L.R. I. 9 nicht zur Seite, denn die sechsmonatliche Frist des §. 30 des Gesetzes vom 11. Juni 1874 ist keine Verjährungs-, vielmehr eine Prozeßfrist. Schon in den Gründen des Plenarbeschlusses des vormaligen preußischen Obertribunals vom ß. Dezember 1858 (Entsch. Bd. 40 S. 1) ist überzeugend ausgeführt, daß die zur Ausübung oder Erhaltung gewisser Befugnisse gestatteten Fristen nicht an die Regeln von der Verjährung gebunden sein können (vergl. auch die Entsch. des vormaligen Obertribunals Bd. 6 S. 393, Bd. 9 S. 45, Bd. 14 S. 227, Bd. 26 S. 266). Wenn auch die allgemeine Definition des §. 500 A.L.R. I. 9 nicht bloß auf die Verjährung, sondern auch auf Fristen zur Ausübung irgend einer Befugnis paßt: so sind beides doch ganz verschiedene Rechtsbegriffe. Bei der Verjährung stehen sich ein materielles Recht und eine materielle Verpflichtung gegenüber, es werden schon vorher begründete Rechte und Verpflichtungen vorausgesetzt, welche eben durch den Zeitablauf als aufgehoben fingiert werden (§. 502 A.L.R. I. 9). An einer solchen Voraussetzung fehlt es bei der hier vorliegenden Präklusivfrist, innerhalb welcher die beiden Teilen zustehende prozessualische Befugnis zur Beschreitung des Rechtsweges ohne eine entsprechende Pflicht des Gegners besteht und mit deren Ablauf sie endigt. Auch das frühere Königlich preußische Obertribunal hat in dem Erkenntnis vom 16. Mai 1879 (Entsch. Bd. 83 S. 278 flg.) ausdrücklich anerkannt, daß die Präklusivfrist im §. 30 des Gesetzes vom 11. Juni 1874 nicht eine Verjährungsfrist, sondern eine Rechtsmittelfrist sei."