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RG, 28.10.1880 - Va 279/80

Daten
Fall: 
Erzeugung von Gewohnheitsrecht
Fundstellen: 
RGZ 3, 210
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
28.10.1880
Aktenzeichen: 
Va 279/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • KreisG Bergen.
  • OLG Stettin.
Stichwörter: 
  • Erzeugung von Gewohnheitsrecht durch konstanten Gerichtsgebrauch eines Rechtssatzes des römischen Rechtes

Kann ein konstanter Gerichtsgebrauch, der sich für den stets angewendeten Rechtssatz, daß unständige Servituten nur durch unvordenkliche Verjährung ersessen werden können, lediglich auf mißverstandene römische Rechtsstellen stützt, partikulares Gewohnheitsrecht erzeugen?

Gründe

"Es ist zwar richtig, daß in Neuvorpommern seit langer Zeit ein durch die Entscheidungen des früheren Tribunales in Wismar und des späteren Oberappellationsgerichts zu Greifswald gebilligter Gerichtsgebrauch bestand, nach welchem stets der Grundsatz angewendet ist, daß zur Erwerbung einer unständigen Grundgerechtigkeit die 10 oder 20 jährige Ersitzung nicht genüge, sondern die unvordenkliche Verjährung erforderlich sei, sowie, daß das frühere preußische Obertribunal diesen Gerichtsgebrauch für rechtsverbindlich erachtet hat, weil er nicht gegen klare Gesetze verstoße. Vgl. Entsch. Bd. 32 S. 47 und Ferner und Mecke Bd. 8 S. 96.

Dagegen hat das preußische Obertribunal in der Erkenntnis vom 10. Juni 18751 einem gleichen in betreff der hessischen Gerichte festgestellten Gerichtsgebrauch die Kraft abgesprochen, einen verbindlichen Rechtssatz zu erzeugen, weil jener Gerichtsgebrauch sich nicht unter dem Einfluß partikulärer Normen oder Gestaltungen als Bestandteil eines besonderen Landesrecht ausgebildet habe, sondern im Anschluß an die früher gemeinrechtliche Doktrin und die Rechtsprechung des Reichskammergerichts lediglich auf irrtümlicher Auslegung des gemeinen Rechts beruhe.

Es liegt aber kein Grund vor, dem fraglichen Gerichtsgebrauch in Neuvorpommern eine höhere rechtserzeugende Kraft beizulegen, als dem in anderen Ländern Deutschlands. Denn auch hier ist nicht nachweisbar, daß derselbe eine partikuläre Rechtsüberzeugung zur Quelle habe, und davon ist auch das preußische Obertribunal in seinen Entscheidungen nicht ausgegangen, sondern es hat angenommen, daß einem Gerichtsgebrauch, der nicht wider klare Gesetze verstoße, auch ohne daß derselbe gerade mit den Erfordernissen eines partikulären Gewohnheitsrechts versehen zu sein brauche, nach den Grundsätzen des gemeinen Rechts eine verbindende Kraft beigelegt werden müsse.

Dieser Ansicht kann indes nicht beigetreten werden, und es stehen ihr auch die Meinungen der hervorragendsten gemeinrechtlichen Autoritäten entgegen - vgl. Savigny, System Bd. I. S. 149. 173; Puchta, Gewohnheitsrecht Bd. I. S. 169, Bd. II. S. 18 und Pandekten §. 13; Windscheid, Lehrbuch §.16; Unger, System Bd. I. S.44; Wächter, Württembergisches Recht Bd. I.S. 42; Gerber, System §.30.2

In der That würde auch der Grundsatz, daß ein lange Zeit hindurch festgehaltener Gerichtsgebrauch ohne Rücksicht darauf, ob er ein Gewohnheitsrecht dokumentiere oder lediglich auf einem Mißverständnis der Gesetze beruhe, stets rechtsverbindlich werde, falls nicht die mißverstandenen Gesetze klar seien, jeden Einfluß des Fortschrittes der Wissenschaft auf die Praxis ausschließen. Denn mag ein Gesetz auch noch so klar sein, so wird man immer aus dem Umstande, daß es früher mißverstanden ist, den Beweis seiner Unklarheit entnehmen, wie denn auch das preußische Obertribunal in dem gedachten Erkenntnis ausgeführt hat, daß sich von dem eine bestimmte Alternative eines kontroversen Rechtssatzes annehmenden Gerichtsgebrauch niemals behaupten lasse, daß er gegen klare Gesetze verstoße. Damit wäre denn die Änderung einer auf Rechtsirrtum beruhenden langen und konstanten Praxis überhaupt ausgeschlossen, was gegen die klare Vorschrift der 1. 39 Dig. de legib. 1. 3 verstoßen würde:

quod non ratione introductum, sed errore primum, deinde consuetudine obtentum est, in aliis similibus non obtet.

Dieser Satz folgt aus der Natur der Sache, da eine Gewohnheit, welche erweislich lediglich die Folge eines Irrtums ist, nicht Ausdruck und Kennzeichen eines gemeinsamen Rechtswillens sein kann, auf welchem doch allein ihre rechtserzeugende Kraft beruht.

Daß aber der hier in Rede stehende Satz, es könnten unständige Servituten nur durch unvordenkliche Verjährung erworben werden, aus abweichenden deutschen Rechtsanschauungen erwachsen und auf Grund derselben unabhängig vom römischen Recht zuerst eingeführt sei, davon findet sich keine Spur. Vielmehr läßt sich wohl bei wenigen Rechtssätzen so überzeugend, wie bei diesem nachweisen, daß er nicht unabhängig vom römischen Recht entstanden sein kann. Denn in Deutschland hat sich die ganze Lehre von den Servituten erst nach Einführung des römischen Rechts entwickelt, und namentlich war hier früher die Unterscheidung von servitutes continuae und diskontinuae ebenso unbekannt, wie das Institut der unvordenklichen Verjährung. Man kannte überhaupt keinen Erwerb, sondern nur eine Erlöschung von Rechten durch Verjährung von Jahr und Tag (vgl. Gerber, Privatrecht §§. 101 und 144; Eichhorn, Einleitung §. 176). Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, daß der hier streitige Grundsatz in Deutschland überhaupt erst durch das römische Recht bekannt geworden ist und seine Einführung in die Praxis lediglich der gesetzlichen Autorität desselben verdankt.

Die älteren gemeinrechtlichen Juristen berufen sich für denselben denn auch niemals auf ein deutsches Gewohnheitsrecht, sondern stets nur auf (ganz bestimmte) Stellen der römischen Gesetzbücher, namentlich auf 1. 4 pr. Dig. de servit. 8, 1; 1. 1 §. 23 und 1. 2 Dig. de aqua et aquae pluviae arc. 39, 3; 1. 26 cod. und 1. 3 §. 4 Dig. de aqua quotid. 43, 20. Auch ist es nicht gelungen, irgend eine Entscheidung des Tribunals zu Wismar zu ermitteln, welche sich auf ein partikuläres Gewohnheitsrecht stützte, vielmehr erwähnt das bei Mevius decis. Vism. P. IX dec. 164 mitgeteilte Erkenntnis jenes Gerichtshofes vom 4. März 1668 ohne irgend eine Andeutung des Daseins eines solchen Gewohnheitsrechts lediglich die gemeinrechtliche Kontroverse, und es wird der Ansicht, daß unvordenkliche Verjährung erforderlich sei, als der billigeren und von den meisten Juristen, sowie dem Reichskammergericht angenommenen, der Vorzug gegeben. Diese Begründung beweist, daß dem Tribunal zu Wismar von einem deutschen Gewohnheitsrecht nichts bekannt gewesen sein kann, da solches sonst gewiß nicht unerwähnt geblieben sein würde.

Auf ein partikuläres Gewohnheitsrecht (im Gegensatz zum gemeinen Recht) hat sich erst das spätere Appellationsgericht in Greifswald bezogen, nachdem die Unrichtigkeit der bisherigen Auslegung der römischen Stellen in der Wissenschaft allgemeine Anerkennung gefunden hatte, eine Bezugnahme auf das gemeine Recht also nicht mehr möglich war. Jene Bezugnahme beruhte aber auf der irrtümlichen Annahme, daß ein Gewohnheitsrecht sich bereits gebildet habe, und es konnte daher durch die demnächst allerdings mit Bewußtsein vom römischen Recht abweichende andauernde Gerichtspraxis ein solches nicht entstehen.

Bilden hiernach die römischen Gesetze die alleinigen Normen für die Entscheidung der vorliegenden Frage, so darf auch nur deren wahrer Sinn maßgebend sein. Es ist aber gegenwärtig, namentlich seit den Ausführungen Savigny's (System, Bd. 4 S. 480 flg.) der Wissenschaft so allgemein anerkannt, daß der hier in Rede stehende Rechtssatz durch die oben angeführten Stellen nicht nur keine Unterstützung findet, sondern im Gegenteil durch den klaren Ausspruch der von einer unständigen Servitut handelnden 1. 3 Dig. de initere 43,19 widerlegt wird, daß ein näheres Eingehen auf die Sache hier unterbleiben kann.

Hiernach erscheint der von der Nichtigkeitsbeschwerde dem Appellationsrichter gemachte Vorwurf der Verletzung der Rechtsgrundsätze, daß ein lediglich auf Mißverständnis gemeinrechtlicher Rechtsquellen beruhender, konstanter Gerichtsgebrauch partikuläres Gewohnheitsrecht zu erzeugen nicht vermöge, und daß nach dem auch in Neuvorpommern geltenden gemeinen Recht zur Ersitzung unständiger Servituten die ordentliche Verjährung von 10 resp. 20 Jahren genügt, begründet."

  • 1. Entsch. Bd. 75 S. 91. D. R.
  • 2. Vgl. a. Entsch. des R.O.H.G.'s Bd. 15 Nr. 41 S. 125; Entsch. des R.G.'s in Civils. Bd. 1 Nr. 120 S. 326. D. R.