RG, 04.03.1880 - Va 52/79

Daten
Fall: 
Grenze zwischen einem Landsee und dem Ufergrundstücke
Fundstellen: 
RGZ 2, 316
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
04.03.1880
Aktenzeichen: 
Va 52/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Kreisgerichtsdeputation Rügenwalde
  • Appellationsgericht Köslin

Ist für die Festsetzung der anderweit nicht zu ermittelnden Grenze zwischen einem Landsee und dem Ufergrundstücke der mittlere Wasserstand des Sees entscheidend?

Tatbestand

Zwischen dem Wiesengrundstücke der Pfarre zu B. und dem Vittersee, welcher Eigentum des preußischen Fiskus ist, war die Grenze streitig.

Die Pfarre trug auf Grenzregulierung an. Die richtige Grenze war jedoch weder auf Grund des von der Klägerin in Bezug genommenen Separationsrecesses, noch sonst zu ermitteln.

Durch die in den beiden Vorinstanzen ergangenen Erkenntnisse ist darauf die Grenze verschieden festgestellt.

Auf die von der Klägerin eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde hat das Reichsgericht das Appellationserkenntnis vernichtet und erkannt, daß die fragliche Grenze durch den Wasserspiegel des Vittersees gebildet wird, soweit derselbe gegenwärtig bei mittlerem Wasserstande reicht.

Gründe

"Der Appellationsrichter stellt die anderweit nicht zu ermittelnde Grenze zwischen der klägerischen Pfarrwiese und dem dem beklagten Fiskus gehörigen Vittersee dahin fest, daß dieselbe durch die Linie des höchsten Wasserstandes, wie solcher ohne außergewöhnliche Naturereignisse regelmäßig durch die von Zeit zu Zeit, namentlich beim Eintritt des Frühjahrs, sich einstellenden größeren Wassermassen eintritt, gebildet wird.

Zu dieser Feststellung gelangt er, indem er in Erwägung zieht, wie weit bei Gewässern einerseits das Bett des Wassergrundstückes und andererseits das User des Adjacenten sich erstreckt. Er meint, daß bei dem Mangel ausreichender Bestimmungen des Allgemeinen Landrechtes sich die Beantwortung dieser Frage aus dem gemeinen Rechte ergebe, und, indem er sich auf verschiedene Gesetzesstellen in den justinianischen Rechtsbüchern beruft, gelangt er zu dem Resultate, daß die Grenze zwischen der klägerischen Wiese und dem See des Beklagten durch die Linie nicht des mittleren, sondern des höchsten Wasserstandes, wie solcher ohne außergewöhnliche Naturereignisse, z. B. Platzregen, regelmäßig eintritt, gebildet wird.

Die Nichtigkeitsbeschwerde rügt Verletzung der von dem Appellationsrichter in Bezug genommenen Vorschriften des römischen Rechtes, nämlich §. 3. Inst. de rerum devis 2. 1. der I. 12 Dig. de acquir. rer. dom. 41. 1, der 1.1 §. 5 und der I. 3 §. 1. Dig. de via publ. 43. 12, sowie der I. 112 Dig. de V. S. 50. 16, durch unrichtige Anwendung, ferner des §. 49 der Einleitung zum A.L.R., der §§. 242.247. 248 und 267 A.L.R. I. 9, des §. 41 der Wasser- und Uferordnung für den Rheinstrom in dem Herzogtum Cleve etc. vom 2. Dezember 1774 ( N. C. C. de 1775 S. 708) und des Rechtsgrundsatzes:

Als Grenze zwischen einem Landsee und dem einem anderen Eigentümer gehörigen, an den See grenzenden Lande ist in Ermangelung eines anderweit in rechtsgültiger Weise festgesetzten oder sonst feststehenden Grenzzuges der Stand des Seewasserspiegels bei mittlerem Wasserstande anzusehen.

Zur Motivierung ihrer Angriffe führt die Nichtigkeitsbeschwerde aus, daß der Appellationsrichter die Bestimmungen der justinianischen Gesetzgebung, welche überhaupt die hier vorliegende Frage in keiner Weise beträfen, zu Unrecht in Anwendung gebracht habe, weil gemäß §. 49 der Einleitung zum A.L.R. der Richter in Ermangelung eines besonderen preußischen Gesetzes nicht nach den Grundsätzen des römischen Rechtes, sondern nach den im Allgemeinen Landrechte angenommenen Grundsätzen und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen zu entscheiden habe, solche Grundsätze aber in den §§. 242 und 248 A.L.R. I. 9 und in dem §. 41 der Wasser- und Uferordnung vom 2. Dezember 1774 enthalten seien, wonach der gewöhnliche oder mittelmäßige, d. h. der mittlere Wasserstand als entscheidend anzusehen sei. Die Rüge ist begründet. Selbst wenn die Bestimmungen des allgemeinen Landrechtes ein Zurückgehen auf die Vorschriften des gemeinen Rechtes im vorliegenden Falle gestatteten, würden die von dem Appellationslichter aus den Institutionen und Pandekten angezogenen Gesetzesstellen nicht einmal geeignet sein, die Richtigkeit der von ihm vertretenen Ansicht darzuthun. Auch vom gemeinrechtlichen Standpunkte aus wird die heutige Anwendbarkeit des römischen Rechtes in der hier in Frage kommenden Materie sehr bezweifelt. (Vgl. von Holzschuher, Theorie und Kasuistik des gemeinen Rechtes B. 2 S. 105.) Die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des römischen Rechtes erheischt deshalb eine besondere Vorsicht, und direkt wird die Ansicht des Appellationsrichters durch alle Gesetzesstellen, auf welche er sich beruft, jedenfalls nicht bestätigt. Der §. 3 Inst. de rerum devis. 2. 1 handelt von der Meeresküste. I. 12 Dig. de fluminibus 43. 12 interessiert für die vorliegende Frage nicht. 1. 1. §. 5 und 1. 3. §. 1 Dig. eod. enthalten Bestimmungen über öffentliche Flüsse, welche in der fraglichen Beziehung ohne weiteres auf einen sich im Privateigentum befindlichen See umsoweniger analog angewendet werden können, als nach römischem Rechte, wie die erwähnte 1. 3 ergiebt, auch die Ufer öffentlicher Flüsse öffentlich sind. 1. 112 Dig. de V. S. 50. 16 spricht allerdings von einem See. Wenn der Appellationsrichter dieselbe aber dahin citiert: Litus publicum est eatenus, qua maxime fluctus exaestuat, idemque juris est in lacu,

so unterläßt er den einschränkenden Schlußsatz: nisi is totus privatus est, hinzuzufügen, durch welchen die Anwendung dieser Vorschrift auf einen See, welcher sich im Privateigentum befindet, ausgeschlossen wird.

Gesetzt aber auch der Appellationsrichter hätte die Vorschriften des gemeinen Rechtes für sich, so verstößt er gegen den §. 49 der Einleitung zum A.L.R. Mögen immerhin die gemeinrechtlichen Bestimmungen, insbesondere in der Art, wie sie zur Zeit der Entstehung des Allgemeinen Landrechtes aufgefaßt wurden, insofern von Wert für die Auslegung der landrechtlichen Vorschriften sein, als sich aus diesen ergiebt, daß sie nichts Neues oder Eigentümliches haben festsetzen wollen. Lediglich der Umstand, daß das Allgemeine Landrecht nach Ansicht des Richters keine ausreichende Bestimmung über eine specielle Frage enthält, berechtigt jenen noch nicht, ohne weiteres auf das gemeine Recht zurückzugehen und die Frage nach diesem zu entscheiden. Nach §. 49 a. a. O. ist der Richter gehalten, wenn er kein Gesetz findet, welches zur Entscheidung des streitigen Falles dienen könnte, nach den in dem Landrechte angenommenen allgemeinen Grundsätzen und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen seiner besten Einsicht gemäß zu erkennen. Wenn daher das Allgemeine Landrecht keine direkte Bestimmung über die vorliegende Frage enthält, hatte der Appellationsrichter zu prüfen, ob sich darin nicht Vorschriften befinden, welche durch analoge Anwendung die Entscheidung der Frage ermöglichen, und solche Vorschriften enthält das Allgemeine Landrecht allerdings.

Der §. 242 A.L.R. I. 9 schreibt vor:
So lange eine Erderhöhung in dem Flußbette eines Stromes, bei gewöhnlichem Wasserstande, mit einem gemeinen Fischernachen umfahren werden kann, ist sie als eine Insel anzusehen,

und der auf die Feststellung des Eigentums an einer im Flusse entstandenen Insel bezügliche §. 248 a. a. O. verordnet: Die Breite des Flusses wird dabei nach Linien bestimmt, die von denjenigen Punkten beiderseitiger, bei gewöhnlichem Wasserstande sichtbarer Ufer, welche den beiden Enden der Insel gegenüberliegen, quer über den Fluß gezogen werden.

Beide Paragraphen enthalten Vorschriften, bei denen es darauf ankommt, festzusetzen, bis wieweit das Flußbett reicht, und wo das Ufer anfängt, und beide bestimmen, daß dabei auf den gewöhnlichen Wasserstand Rücksicht zu nehmen ist. Sie handeln zwar zunächst nur von Flüssen, beziehungsweise dem Bette derselben, lassen aber eine analoge Anwendung auf das Bette von Landseen zu.

Der §. 242 a. a. O. ist anerkanntermaßen auf den §. 41 der vorerwähnten Wasser- und Uferordnung vom 2. Dezember 1774 zurückzuführen, welcher bereits eine ähnliche Bestimmung enthält und dabei den "mittelmäßigen Wasserstand" als den maßgebenden bezeichnet. Es entspricht danach der Absicht des Gesetzes, unter dem gewöhnlichen Wasserstande den mittleren zu verstehen, d. h. denjenigen, welcher zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Wasserstande die Mitte hält, wobei freilich außergewöhnliche Überströmungen im Sinne des §. 272 a. a. O. außer Betracht bleiben müssen. In Betracht dessen ist in dem von der Nichtigkeitsbeschwerde in Bezug genommenen Erkenntnisse des früheren Obertribunales vom 22. Oktober 1874 in Sachen Fiskus wider Schiffka zutreffend ausgeführt, daß, falls die Grenze zwischen einem Landsee, welcher sich im Privateigentum befindet, und dem angrenzenden Lande anderweit nicht ermittelt werden kann, der Wasserspiegel des Sees bei mittlerem Wasserstande als die Grenze zu betrachten ist. Dem steht auch das von dem Appellationsrichter erwähnte, mit Rücksicht auf die besonderen Umstände des damals vorliegenden Falles ergangene Erkenntnis des früheren Obertribunales vom 22. Oktober 1863 ( Striethorst, Archiv Bd. 51 S. 157) nicht entgegen. Wenn darin ausgeführt wird, daß dabei, was unter dem Flußbette zu verstehen ist, das alljährlich und von Zeit zu Zeit eintretende Hochwasser ebenfalls berücksichtigt werden müsse, so ist dies gewiß richtig, denn das regelmäßig wiederkehrende Hochwasser führt den höchsten Wasserstand herbei, und dieser ist bei Feststellung des mittleren Wasserstandes zu berücksichtigen.

Die Argumentation des Appellationsrichters, welche ihn dahin führt, behufs Ermittelung der Grenze zwischen See und Wiesengrundstück nicht den mittleren, sondern den höchsten Wasserstand des Sees für maßgebend zu erachten, verstößt somit ebenso gegen die §§. 242 und 248 A.L.R. I. 9, als gegen den §. 49 der Einleitung zum A.L.R., die Entscheidung unterliegt daher der Vernichtung.

Die freie Beurteilung der Sache anlangend, hat der erste Richter dahin erkannt, daß die Grenze zwischen der klägerischen Wiese und dem See des Beklagten da beginnt, wo das Land vom Mittelwasser bespült wird, und da endigt, wo der höchste Wasserstand ist. Dazu gelangt er, indem er unter analoger Anwendung der nach den §§. 118 und 120 A.L.R. I. 8 über Grenzraine und Winkel gegebenen Vorschriften den zwischen dem mittleren und höchsten Wasserstand des Sees belegenen Uferabschnitt für gemeinschaftliches Eigentum beider Parteien erachtet, welches nach §. 119 a. a. O. auf einseitigen Antrag nicht geteilt werden dürfe.

Zweifellos ist diese Entscheidung eine ungerechtfertigte. Ein Uferabschnitt, wie ihn der erste Richter der Beurteilung unterwirft, hat mit den Grenzrainen oder den Winkeln zwischen den Häusern, von welchen die §§. 118 und 120 a. a. O. handeln, nichts gemein. Bestimmungen, welche für diese gegeben sind, dürfen daher nicht auf jene angewendet werden. Die Annahme des ersten Richters, daß der fragliche Uferabschnitt gemeinschaftliches Eigentum sei, ist eine willkürliche, welche in dem Gesetze keinen Anhalt findet.

Darüber sind aber die Parteien einverstanden, daß für die anderweit nicht zu ermittelnde Grenze zwischen See und Wiese der Wasserspiegel des Sees maßgebend ist. Die Appellationsbeschwerde der Klägerin ist nur dagegen gerichtet, daß die Grenze nicht durch den mittleren Wasserstand des Sees festgesetzt ist, während die Appellationsbeschwerde des Beklagten dahin geht, daß die Grenze nicht durch die Linie des höchsten Wasserstandes, wie solcher ohne außergewöhnliche Naturereignisse regelmäßig durch die von Zeit zu Zeit, namentlich beim Eintritte des Frühjahres sich einstellenden größeren Wassermassen eintritt, bestimmt ist. Die Parteien sind danach nur darüber in Streit, ob für die Grenze der mittlere, oder der höchste Wasserstand des Sees maßgebend ist, und dieser Streit muß nach dem Vorangeführten zu Gunsten der Klägerin entschieden werden.

Allerdings wird dadurch nur eine Vorfrage erledigt, welche eine definitive Grenzregulierung und Fixierung der Grenze durch Grenzzeichen nach Maßgabe des zeitigen mittleren Wasserstandes des Sees nicht erübrigt. Es ist eine ungerechtfertigte Ansicht der Klägerin, daß die Festsetzung einer festen Grenze zwischen See und Wiese eine Unmöglichkeit sei, der mittlere Wasserspiegel des Sees vielmehr für alle Zeit als Grenze betrachtet werden müsse, dergestalt, daß, wenn im Laufe der Zeit der See zurücktreten und dadurch der mittlere Wasserstand desselben eine Änderung erleiden sollte, das trockengelegte Uferland in Gemäßheit des §. 225 a. a. O. ihr - der Klägerin - zuwachse. Als Eigentümer des Sees ist der Beklagte auch Eigentümer des Seebettes, soweit der See reicht. Dadurch, daß der See zurücktritt, wird in seinen Eigentumsrechten nichts geändert. Er bleibt Eigentümer auch des trockengelegten Teiles des Seebettes. Von einem Übergänge des Eigentumes daran auf die Klägerin durch Alluvion kann dabei nicht die Rede sein, weil eine solche ein allmähliches Anspülen fremder Erdtheile voraussetzt und diese Voraussetzung bei austrocknenden Seen, welche sich in dem Privateigentume einer bestimmten Person, befinden, nicht zutrifft. - Vgl. Erkenntnis des früheren Obertribunales vom 20. September 1854 (Entsch. Bd. 28 S. 312). -

Die Grenze, wie sie gegenwärtig durch den mittleren Wasserstand des Sees gebildet wird, bleibt daher unverändert, auch wenn der mittlere Wasserstand künftighin ein anderer werden sollte. Anträge auf Fixierung der Grenze sind aber von den Parteien nicht gestellt. Die Klägerin hat sogar in der Klage der Festsetzung einer festen Grenze widersprochen, und die von ihr in der Appellationsrechtfertigungsschrift abgegebene Erklärung, daß sie einverstanden sei, wenn die Festsetzung der Grenze in Übereinstimmung mit dem normalen Wasserstande der Ostsee 0,94 Meter über Null des Pegels an der Portalbrücke zu Rügenwalde erfolge, ist nur eine eventuelle, welche auf der unzutreffenden Voraussetzung beruht, daß, weil der Vittersee mit der Ostsee in Verbindung steht, der normale Wasserstand dieser, wie er durch den Pegel an der gedachten Portalbrücke angezeigt wird, stets auch der mittlere Wasserstand des Sees sein müsse, eine Voraussetzung, welche schon durch das Ergebnis der Beweisaufnahme widerlegt wird; denn der bei dieser vorgefundene, nicht mehr vom Wasser bespülte alte See- Land, läßt darauf schließen, daß die Ufer des Sees, seiner Verbindung mit der Ostsee unerachtet, im Laufe der Zeit eine Änderung erlitten haben. Unter diesen Umständen ist keine Veranlassung vorhanden, über die Anträge der Parteien hinauszugehen. Es muß diesen vielmehr mangels gütlicher Einigung überlassen werden, die Ermittelung des gegenwärtigen mittleren Wasserstandes des Vittersees und die Fixierung der Grenze nach Maßgabe dieses Wasserstandes in einem besonderen Verfahren zu beantragen."