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RG, 20.04.1880 - II 43/80

Daten
Fall: 
Erachtung von Sachen als gestohlen oder verloren
Fundstellen: 
RGZ 1, 255
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
20.04.1880
Aktenzeichen: 
II 43/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Handelsgericht München

Sind Sachen, welche der Eigentümer dem Gewahrsame des Faustpfandgläubigers ohne dessen Wissen und Willen entzieht, als gestohlen oder verloren im Sinne von Art. 306 Abs. 4 H.G.B. zu erachten?1

Tatbestand

Eine Ladung Bretter, welche der Holzhändler Fr. aus Tyrol auf der Bahn nach München versandt hatte, wurde bei der Ankunft daselbst dein Eisenbahngüterschaffner Sch. zur Weiterbehandlung überliefert, der Fracht, Zoll und Nachnahme, die darauf lasteten, im Betrage von 470 Mark berichtigte und die Bretter auf zwei ihm gehörige Wagen lud, die auf dem Bahnhofe stehen blieben. Fr. verkaufte die Bretter an P. und überwies ihm dieselben zur sofortigen Abfuhr vom Bahnhofe, welche dann auch ohne Wissen des Sch. stattfand. Als Sch. ermittelt hatte, wohin Wagen und Bretter gekommen waren, verlangte er beides zurück. P. lieferte die Wagen aus, verweigerte aber die Auslieferung der Bretter, weil er sie in gutem Glauben gekauft und übergeben erhalten habe. Die Klage des Sch. auf Herausgabe der Bretter oder Zahlung seiner durch dieselben gesicherten Forderung wurde abgewiesen, weil der Fall des Art. 306 Abs. 1. H.G.B. vorliege, die Ausnahme in Abs. 4 allda aber nicht gegeben sei. Dieses Urteil wurde vernichtet aus folgenden Gründen.

Gründe

"Art. 306 H.G.B. wendet für die von einem Kaufmanne in dessen Handelsbetriebe veräußerten und übergebenen beweglichen Sachen das Princip an, welches Art. 2279 Code civ. allgemein aufstellt, und hier wie dort ist eine Ausnahme gemacht für die Sachen, die gestohlen oder verloren worden sind.

Die Principien des Art. 2279 hatten unter dem Einflusse des die germanischen Rechtsideen bewahrenden droit coutumier auch schon im älteren französ. Rechte Geltung und zwar im wesentlichen in dem Sinne, daß man unterschied, ob der Besitz freiwillig ausgegeben oder wider den Willen des Besitzers verloren war, indem man, falls letzteres erwiesen werden konnte, die Vindikation zuließ, andernfalls versagte. Pothier, coutume d'Orléans t. XVI. p. 192.

Auch bei der Auslegung des Art. 2279 Code civ., namentlich der Ausdrücke "gestohlen (volé)" und "verloren (perdu)", legte man im wesentlichen diese Anschauung zu Grunde. Vgl. Aubry et Rau t. II §. 183 und die allerdings in ihren Folgerungen zu weit gehende Ansicht von Troplong, prescr. Nr. 1069.

Was nun die Bestimmungen des Art. 306 H.G.B. anbelangt, so wurden sie erst bei dritter Lesung ins Handelsgesetzbuch eingefügt, und fanden namentlich über den Sinn der betreffs gestohlener und verlorener Sachen gemachten Ausnahme eingehende Erörterungen nicht statt, jedoch erscheint zweifellos, daß man, ebenso wie in Frankreich, im wesentlichen dem deutschrechtlichen Grundsätze Geltung verschaffen wollte, gemäß dessen Sachen, die jemand freiwillig aus der Hand gegeben hat, nicht gegen dritte redliche Erwerber vindiziert werden können.

Auf diesen Sinn des Gesetzes deuten zunächst ganz entschieden folgende Worte hin, mit denen der Vorschlag, eine Ausnahme für gestohlene und verlorene (gefundene) Sachen zu machen, von demjenigen Mitgliede der Nürnberger Kommission, welches ihn vorbrachte, empfohlen wurde:

"durch dieses Amendement wird der Grundsatz zur Anwendung gebracht, daß bei einem Mißbrauche des Vertrauens derjenige, welcher sein bewegliches Gut einem anderen anvertraut hat, dem redlichen Erwerber nachsteht. In dieser Beschränkung genügt der Satz den wirklichen Bedürfnissen des rechtlichen Verkehrs - er greift dann möglichst wenig in die Landesrechte ein etc.."

Läßt sich annehmen, in dieser Äußerung, welche keinen Widerspruch erfahren hat, gebe sich der eigentliche Wille des Gesetzgebers kund, so ist klar, daß an dem bloßen Wortlaute seiner bezüglichen Bestimmung nicht festgehalten werden darf, also eine Auslegung unstatthaft erscheint, zufolge deren von den vielen Fällen, wo jemand wider seinen Willen den Besitz einer Sache verlieren kann, nur zwei einzelne - "Diebstahl" und "Verlieren", beide Worte in der engeren Bedeutung genommen - getroffen würden, alle übrigen aber ausgeschlossen blieben. Zu dem nämlichen Ergebnisse gelangt man aber auch, wenn man, absehend von besagter Äußerung, sowie von der historischen Grundlage, auf welcher die Bestimmungen des Art. 306 H.G.B. beruhen, nur diese selbst ins Ange faßt. Es kann unmöglich Wille des Gesetzes sein, daß derjenige, welcher aus Unachtsamkeit eine Sache verloren hat, günstiger gestellt sein solle, als derjenige, dem sie ganz ohne seine Schuld und gegen seinen Willen von jemandem weggenommen worden ist. Ferner erscheint unerfindlich, welche Gründe den Gesetzgeber hätten bestimmen können, nur für den Nächstliegenden Fall der diebischen Wegnahme und den entferntest liegenden Fall des Verlierens aus Unachtsamkeit Vorsorge zu treffen, alles aber, was dazwischen liegt, unberücksichtigt zu lassen.

Diese Erwägungen berechtigen zum Schlusse, daß im Sinne des Gesetzes fragliche Bestimmung mindestens alle diejenigen Fälle umfassen soll, in denen jemand wider seinen Willen und ohne sein Zuthun den Gewahrsam einer Sache verloren hat.

Allerdings ist nicht zu verkennen, daß, diesen Sinn vorausgesetzt, die Ausdrucksweise des Gesetzes, vielleicht beeinflußt durch Art. 2279 Code civ., eine nicht ganz korrekte ist, jedoch erscheint sie doch immerhin der Art, daß sich besagter Sinn ohne besonderen Zwang darin finden läßt, sei es, indem man die gebrauchten Ausdrücke, insbesondere den Ausdruck "verloren" im weiteren, jeden unfreiwilligen Verlust umfassenden Sinne nimmt, sei es, indem man mit Goldschmidt (Handelsrecht Bd. II, §. 80) davon ausgeht, das Gesetz habe nur die zwei wichtigsten und zugleich am weitesten auseinanderliegenden Fälle hervorheben wollen, es als selbstverständlich erachtend, daß auch die inmitten liegenden Fälle getroffen seien.

Eine derartige ausdehnende Auslegung erscheint um so mehr statthaft, als fragliche Schlußbestimmung des Art. 306 nicht etwa, wie in Art. 2279 Code civ., eine Ausnahme von einer allgemeinen Regel begründet, vielmehr nur eine Ausnahme, welche die vorausgehenden Bestimmungen von einer allgemeinen Regel machen, beschränkt, d.h. den Umfang bestimmt, in welchem dieselbe einzutreten habe.

Faßt man die Bestimmungen des Art. 306 H.G.B. in diesem Sinne auf, so erscheint die Rüge der Verletzung desselben begründet. Ohne Erheblichkeit ist es, daß es der Eigenthümer selbst war, welcher dem Faustpfandgläubiger die Sache wegnahm beziehungsweise wegnehmen ließ; es genügt, daß die Wegnahme wider Willen des Besitzers erfolgt ist. Ist hiernach das gesetzliche Pfandrecht des Klägers nicht erloschen, so war derselbe nach den Principien des bayr. Landrechtes (T. II. Kap. VI. §. 19 u. 22) befugt, dasselbe jedem dritten Besitzer gegenüber geltend zu machen, d. h. Rückerstattung des Besitzes oder Ersatz seines Interesses zu verlangen."

  • 1. Vgl. das unten in der Abteilung Rheinisches Recht abgedruckte Erkenntnis vom 7. Mai 1880 in S. S. w. S. D. R.