RG, 04.06.1920 - VII 523/19
Werden Mängel der Urteilszustellung bei Einlegung eines Rechtsmittels durch Verabsäumung rechtzeitiger Rüge geheilt?
Tatbestand
Die Frage ist vom Berufungsgerichte verneint. Die Revision des Klägers ist zurückgewiesen. Den Tatbestand ergeben die Gründe:
Gründe
"Die Beglaubigung der Abschrift des zuzustellenden Schriftstücks ist ein wesentliches Erfordernis des Zustellungsakts (§ 170 ZPO.); ohne diese Beglaubigung ist die Zustellung unwirksam. Das ist anerkannten Rechtes. Die hier nach § 198 ZPO. zugestellte Abschrift des landgerichtlichen Urteils ist von dem zustellenden erstinstanzlichen Anwalte des Klägers nicht beglaubigt. Dieser Mangel ist in dem auf die Berufung des Klägers anberaumten Verhandlungstermin von dem Anwalte der Beklagten nicht gerügt, sondern es ist zur Sache verhandelt. Zur Entscheidung steht, ob bei dieser Sachlage die Beklagten noch nachträglich den Mangel der Zustellung geltend machen und daraus die Unzulässigkeit der klägerischen Berufung herleiten können oder ob dies nach der Bestimmung des § 295 ZPO. nicht mehr zulässig ist.
Das Berufungsgericht stellt fest, daß der erstinstanzliche Prozeßbevollmächtigte der Beklagten den Mangel bereits vor dem Verhandlungstermin erkannt hat. Es nimmt zugunsten des Klägers an, daß diese Kenntnis zur Erfüllung der Voraussetzungen des § 295 Abs. 1 genügt haben würde, wenn auch dem zweitinstanzlichen Anwalte der Beklagten von dem Mangel erst später Mitteilung gemacht sei. § 295 Abs. 1 komme aber nicht zur Anwendung. Denn es handle sich hier um die Verletzung einer Vorschrift, auf deren Befolgung eine Partei wirksam nicht verzichten könne (§ 295 Abs. 2). Der Kläger könne sich daher nicht darauf berufen, daß der Mangel der Zustellung durch die nicht erfolgte Rüge und durch die Einlassung auf die Verhandlung zur Sache geheilt sei und deshalb nachträglich nicht mehr geltend gemacht werden könne.
Zu diesem Ergebnis ist das Berufungsgericht auf Grund einer eingehenden Erörterung der in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkte gelangt. Es erwägt, daß nach § 224 Abs. 1 ZPO. durch die Vereinbarung der Parteien Notfristen weder verlängert noch verkürzt werden können. Ob die Berufungsfrist begonnen habe oder nicht, sei keine Frage, die nur das Parteiinteresse betreffe, denn davon hänge die Rechtskraft des Urteils ab. Die formelle Rechtskraft eines Urteils sei aber als Grundlage der Zwangsvollstreckung Gegenstand des öffentlichen Rechtes. Nach § 516 ZPO. beginne die Berufungsfrist mit der Zustellung des Urteils, der Rechtsakt der Zustellung habe den Beginn der Frist zur unmittelbaren Folge. Diese Folge knüpfe sich an eine gültige Zustellung. Mache der Gegner eine ungültige Zustellung durch Verzicht oder Unterlassung der Rüge gültig, so führe er damit unmittelbar den Beginn der Frist herbei. Diese unmittelbare Einwirkung des Verzichts oder der unterlassenen Rüge aber widerspreche der ausdrücklichen Ausschließung der Parteivereinbarung über die Verlängerung oder die Abkürzung der Notfristen.
Den Angriffen der Revision, welche diese Beurteilung als rechtsirrig beanstanden und Verletzung der §§ 295, 5l6, 595 ZPO. rügen, war der Erfolg zu versagen.
Das Berufungsgericht befindet sich, indem es einen wesentlichen Mangel der Zustellung bei der Einlegung eines Rechtsmittels als durch Verzicht oder Unterlassung der Rüge für nicht heilbar erachtet und deshalb die Anwendung des § 295 Abs. 1 ZPO. hier ausschließt, in Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung des Reichsgerichts. Der gleiche Grundsatz ist ausgesprochen in RGZ. Bd. 13 S. 373, Bd. 30 S. 389; Jur. Wochenschr. 1902 S. 182 Nr. 6. In der Entscheidung des I. Zivilsenats vom 17. Juni 1916 (Gruchot Bd. 60 S. 1031) ist ausgeführt, der Wille der Parteien habe halt zu machen vor Vorschriften, die nach dem Willen des Gesetzgebers zwingenden Rechtes sind. Zu ihnen gehöre die Bestimmung des § 224 ZPO., deshalb stehe es nicht im Belieben der Parteien, wesentliche Mängel der für eine Notfrist maßgebenden Zustellung durch einen Rügeverzicht zu heilen.
Diese Rechtsprechung hält der hier erkennende Senat aufrecht. Aus den ausgesprochenen Rechtsgrundsätzen ergibt sich die Folgerung, daß die Zustellung des landgerichtlichen Urteils wegen eines wesentlichen Mangels, der fehlenden Beglaubigung der zugestellten Abschrift, wirkungslos ist. Dieser Mangel war durch Verzicht der Gegenpartei nicht heilbar, die Rechtsmittelfrist ist deshalb auch bei der nicht erfolgten Rüge durch die fehlerhafte Zustellung nicht in Lauf gesetzt. Danach ist die Berufung vor der Zustellung des Urteils eingelegt. Diese Einlegung ist nach § 516 Abs. 2 ZPO. wirkungslos, das Rechtsmittel war deshalb, wie dies in der Vorinstanz geschehen ist, als unzulässig zu verwerfen." ...