RG, 21.06.1920 - VI 84/20
Kann sich der Eisenbahnfiskus gegenüber einem während der Fahrt verunglückten Kontrolleur der Internationalen Schlafwagengesellschaft auf § 898 RVO. berufen?
Tatbestand
Am 20. Februar 1913 fuhr der Kläger, der Schlafwagenkontrolleur der Internationalen Eisenbahnschlafwagengesellschaft zu Brüssel war, in Ausübung seines Berufs im letzten Wagen des Riviera-Expreßzugs. Auf der Strecke zwischen Kestert und St. Goarshausen fanden damals im Auftrage der Eisenbahnverwaltung Felssprengungen behufs Verlegung der Gleise statt. Dabei wurden Felsstücke gegen den Wagen geschleudert. Der Kläger erlitt einen Nervenschock, der ihn nach seiner Behauptung erwerbsunfähig macht. Er nimmt den Beklagten auf Grund des Haftpflichtgesetzes in Anspruch. Landgericht und Berufungsgericht wiesen die Klage ab, letzteres auf Grund des § 898 RVO. Die Revision hatte Erfolg.
Gründe
"Nach dem Reichshaftpflichtgesetze kommt die Eisenbahn für jeden in ihrem Betriebe Verunglückten als Betriebsunternehmer in Betracht; versicherungsrechtlich aber ist sie für den in ihrem Betriebe Verletzten nur dann "Unternehmerin", wenn der Verletzte in ihrem Dienst angestellt oder zur Zeit des Unfalls wenigstens vorübergehend auf Grund eines Arbeitsverhältnisses bei ihr beschäftigt war. Das ergibt sich aus §§ 633, 544, 546 RVO., auf die § 898 verweist. Das Berufungsgericht nimmt an, daß ein solches Dienst- oder Arbeitsverhältnis zwischen den Streitteilen bestanden habe, und zwar nicht etwa auf Grund eines dem Kläger zur Zeit des Unfalls von der Eisenbahnverwaltung für seine Person erteilten besonderen Auftrags, sondern mit Rücksicht auf seine Stellung als Schlafwagenkontrolleur. In dieser Eigenschaft war aber der Kläger nur bei der Internationalen Schlafwagengesellschaft zu Brüssel angestellt, deren Betrieb durch Beschluß des Reichsversicherungsamts vom 12. Oktober 1896 (Amtl. Nachr. 1896 S. 494), soweit er sich innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs vollzieht, als selbständiger Betrieb anerkannt und nach §§ 35 flg. und 87 flg. des damals geltenden Unfallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 der Privatbahnberufsgenossenschaft angeschlossen worden ist. Soweit dieser Beschluß über die Zugehörigkeit des versicherten Betriebs zu der bezeichneten Genossenschaft entscheidet, ist er endgültig und auch für die Gerichte bindend (RGZ. Bd. 47 S.54, Bd. 35 S.8). Der Versuch, aus dem zwischen der Schlafwagengesellschaft und den beteiligten Eisenbahnverwaltungen abgeschlossenen Vertrage vom 24. April 1911 ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Beklagten und den Angestellten der Schlafwagengesellschaft nachzuweisen, kann nicht gelingen. Allerdings haben nach Art. 16 des Vertrags die Angestellten der Gesellschaft den dienstlichen Weisungen der Stationsvorstande, Zugführer und Kontrolleure der Eisenbahnverwaltung Folge zu leisten. Aber damit sind sie nicht, wie das Berufungsgericht annimmt, "völlig in den Betrieb der Eisenbahn eingestellt". Diese Vertragsbestimmung wiederholt nur eine selbstverständliche Anordnung, die sich regelmäßig in den Fahrdienstvorschriften für das reisende Publikum findet, und will nicht etwa den genannten Vertretern der Eisenbahn die Befugnis zusprechen, Angestellte der Schlafwagengesellschaft zum Dienste auf der Lokomotive oder zu sonstigen Verrichtungen des Eisenbahndienstes heranzuziehen. Daß der Kläger für den Betrieb der Eisenbahn eine kontrollierende Tätigkeit auszuüben hatte, wird von dem Berufungsgericht offenbar nicht angenommen. Die bahnseitige Kontrolle der Fahrkarten hat nach Art. 15 Abs. 1 des Vertrags durch die Zugführer und Schaffner der Eisenbahnverwaltung zu erfolgen. Die Gesellschaft hat nur an den Abgangsstationen ihre Wagen der Eisenbahn gebrauchsfertig zur Verfügung zustellen. Während der Fahrt wird nach Art. 7 Nr. 1 des Vertrags sogar das äußerliche Reinigen der Wagen, das Nachfüllen der Achsbüchsen, das Schmieren der Schraubenkuppelungen von den Stationsbediensteten der Eisenbahnverwaltungen ausgeführt, während die Bediensteten der Gesellschaft nur im Innern des Zuges den Verrichtungen nachgehen, die das gewerbliche Unternehmen der Gesellschaft mit sich bringt, und die sich von den Dienstleistungen der Bahnangestellten wesentlich unterscheiden. Dabei ist zu beachten, daß die beiden Betriebe der Eisenbahn und der Schlafwagengesellschaft nach dem Vertrag auch wirtschaftlich selbständig nebeneinander hergehen. Jeder Reisende hat eine Fahrkarte zu lösen und an die Gesellschaft den im Tarife vorgesehenen Zuschlag zu entrichten, und beide Teile haben selbst dafür zu sorgen, wie sie dabei auf ihre Rechnung kommen.
Auf Grund welcher Vertragsbestimmungen der Österreichische Oberste Gerichtshof in seinem Urteile vom 14. März 1901 (Eger Entsch. Bd. 18 S.65) im gleichen Sinne wie das Berufungsgericht entschieden hat, ist hier nicht zu erörtern. Für den erkennenden Senat ist der vorgelegte Vertrag maßgebend.
Die Verweisungen des angefochtenen Urteils auf die dort angeführten Entscheidungen des Reichsgerichts und Eger, Haftpflichtgesetz 7. Aufl. S. 98 gehen fehl. ... Daß in den Fällen eines zwar vorübergehenden oder mittelbaren, aber immerhin bestehenden Arbeitsverhältnisses die Eisenbahn auch Arbeitern fremder Betriebe gegenüber als Unternehmerin im Sinne des § 898 RBO. angesehen werden kann, hat das Reichsgericht ständig angenommen (RGZ. Bd. 74 S. 222, Bd. 87 S. 127, Bd. 93 S. 321, Bd. 96 S. 204, Bd. 97 S. 202; Entsch. VI 348/17 vom 19. November 1917; Eger Entsch. Bd. 18 S.329). Ein solcher Fall ist aber hier nicht gegeben; denn der Kläger ist zwar in dem unter das Haftpflichtgesetz fallenden Betriebe des Beklagten verunglückt, aber versicherungsrechtlich war er im Eisenbahnbetriebe weder versichert noch beschäftigt."