RG, 07.10.1920 - VI 283/20
1. Inwiefern kann bei der Scheidungsklage wegen Geisteskrankheit nach § 1569 BGB. zur Frage der Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft berücksichtigt werden, daß der Kläger die Geisteskrankheit verschuldet hat?
2. Zur Anwendung der §§ 616, 623 ZPO.
Tatbestand
Die Parteien haben 1893 geheiratet, leben aber seit 1909 voneinander getrennt. Im Februar 1912 erhob der Mann gegen die Frau Klage auf Scheidung der Ehe wegen Geisteskrankheit im Sinne des § 1569 BGB. Das Landgericht gab der Klage statt. Auf die Berufung der Frau wies aber das Oberlandesgericht durch Urteil vom 7. Januar 1915 die Scheidungsklage wegen Geisteskrankheit sowie das nach der Beweisaufnahme gestellte Scheidungsbegehren wegen Verfehlungen nach § 1568 BGB. ab. Es erklärte, daß die Gutachten des Dr. O., des Dr. Bü. und des Dr. Be. bei der Annahme, daß die Eifersucht der Frau einer bloßen Wahnidee entsprungen sei, von unzutreffenden Voraussetzungen ausgingen, vielmehr hätten alle Vorgänge, die ihre geistige Erkrankung belegen sollen, ihren Grund in ihrer Eifersucht gehabt, sie habe unter der Untreue ihres Mannes schwer gelitten und ihm dies durch bloßstellende Beschimpfungen entgolten, nach dem Gutachten des Psychiaters Dr. Ga. sei die Frau, die keine Schwäche des Denkvermögens aufweise und ihrem Erwerbe nachgehe, nicht in Geisteskrankheit verfallen, ihr Verhalten sei nur die Folge ihrer Eifersucht und der daraus sich ergebenden seelischen Erregtheit, ihre Verfehlungen seien daher nicht als schwere im Sinne des § 1568 zu bewerten. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden.
Im März 1916 hat der Mann neue Scheidungsklage erhoben und sie ursprünglich nur auf Verfehlungen im Sinne des § 1568 BGB. gestützt. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. In dem Berufungsverfahren hat der Dr. O. nach einer Untersuchung der Beklagten in seinem Gutachten vom 28, April 1919 erklärt, daß die Beklagte wegen ihrer abnormen Geistes- und Gemütsverfassung, die im wesentlichen eine gleiche wie vor annähernd 10 Jahren sei, für ihre Verfehlungen nicht verantwortlich gemacht werden könne. Daraufhin hat der Kläger beantragt, die Ehe in erster Linie wegen Geisteskrankheit der Beklagten nach § 1569 zu scheiden, und seinen Scheidungsantrag aus § 1568 nur in zweiter Linie aufrecht erhalten. Auf den Antrag des Klägers ist ferner der Beklagten vom Amtsgericht der Rechtsanwalt Justizrat Sch. als Pfleger nach § 1910 Abs. 2 BGB. bestellt worden. Nach Erstattung des weiteren Gutachtens des Dr. O. vom 26. November 1919 hat dann das Oberlandesgericht die Ehe wegen Geisteskrankheit nach § 1569 geschieden, ohne auf den Scheidungsantrag aus § 1568 noch besonders einzugehen. Auf die Revision der durch ihren Pfleger vertretenen Beklagten hat das Reichsgericht die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gründe
1.
Soweit das Berufungsurteil angenommen hat, daß die Beklagte schon mindestens drei Jahre vor der letzten Berufungsverhandlung am 4. März 1920 in Geisteskrankheit verfallen war, bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Das Berufungsgericht folgt dem letzten Gutachten des Dr. O. vom 26. November 1919. Damit ist der Vorschrift des § 623 ZPO. genügt, wonach erst auf Scheidung wegen Geisteskrankheit erkannt werden darf, wenn das Gericht "einen oder mehrere Sachverständige" gehört hat. Es stand danach im Ermessen des Gerichts, sich auf das Gutachten eines einzigen Sachverständigen zu beschränken, hier des Dr. O., der auch die Beklagte am 15. April 1919 persönlich untersucht hat. Eine nochmalige Vernehmung des Dr. Ga., die die Revision verlangt, war nach § 623 ZPO. in keiner Weise geboten. Übrigens hat das Berufungsgericht die abweichende Auffassung des Dr. Ga. ausdrücklich mitberücksichtigt, aber erklärt, sie würde, wenn Dr. Ga. an ihr festhalten würde, die Darlegungen des Dr. O. nicht entkräften; das ist eine nach § 286 ZPO. nicht zu beanstandende Beweiswürdigung. - Ebensowenig ist die Rüge wegen Verletzung des § 616 ZPO. begründet. Nach dieser Vorschrift kann der mit seiner früheren Scheidungsklage aus §§ 1568, 1569 abgewiesene Kläger das Recht, die Scheidung zu verlangen, allerdings nicht mehr auf Tatsachen gründen, die er in dem früheren Rechtsstreite geltend gemacht hat oder geltend machen konnte. Aber das Gutachten des Dr. O. vom 26. November 1919 beruht keineswegs auf denselben Tatsachen, die nach dem früheren Urteile vom 7. Januar 1915 zur Bejahung einer Geisteskrankheit nicht für ausreichend befunden worden sind. Vielmehr legt der Sachverständige, indem er in zulässiger Weise dabei von dem früheren Geisteszustande der Beklagten ausgeht, das entscheidende Gewicht auf die neue Tatsache, daß der damalige Zustand der Beklagten sich seit 1915 derart verschlimmert habe, daß er nunmehr als Geisteskrankheit bezeichnet werden müsse: ihr Querulieren richte sich jetzt mit erhöhter Reizbarkeit und Erregung gegen eine größere Anzahl von Personen und ihre krankhaften Vorstellungen zeigten das Bild einer Verallgemeinerung. Dieser Auffassung des Sachverständigen konnte sich das Berufungsgericht nach § 286 ZPO. ohne weiteres anschließen, und zwar ohne durch die Vorschrift des § 616 ZPO. daran gehindert zu sein.
2.
Eine andere Frage ist aber, ob diese Geisteskrankheit, wie es §1569 verlangt, auch einen solchen Grad erreicht hat, daß die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung dieser Gemeinschaft ausgeschlossen ist.
Das Berufungsgericht glaubt diese Frage mit den Worten des Gesetzes bejahen zu dürfen, indem es hierfür, statt eine selbständige Begründung zu geben, sich lediglich die Darlegungen in dem Gutachten des Dr. O. zu eigen macht. Aber dieses Gutachten kann in keiner Weise jenen den Gesetzesworten entsprechenden Ausspruch des Berufungsgerichts rechtlich begründen. Zwar spricht der Sachverständige eingangs des Gutachtens von der Aufhebung der geistigen Gemeinschaft zwischen den Eheleuten; er versteht aber unter der geistigen Gemeinschaft nach seinen weiteren Ausführungen anscheinend bloß ein erneutes "Zusammenleben", eine "Wiederaufnahme der ehelichen Gemeinschaft", ein "friedlich gemeinschaftliches Eheleben", und hält bloß dieses infolge der Geisteskrankheit der Beklagten für aufgehoben. Darin würde eine Verkennung des im § 1569 erforderten Grades der Geisteskrankheit liegen, der nicht schon dann erreicht ist, wenn infolge der Geisteskrankheit die Herstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft aufgehoben erscheint. Vielmehr ist unter der Aufhebung der geistigen Gemeinschaft im Sinne des § 1569 die Unfähigkeit des geisteskranken Ehegatten zu verstehen, an dem, was das Leben der Eheleute erfüllt, geistigen Anteil zu nehmen und sich in dieser Hinsicht durch Handlungen, die sich als Ausfluß des gemeinsamen Denkens und Fühlens der Ehegatten darstellen, auch zu betätigen (Urteil des Senats vom 8. Januar 1920 VI 329 / 19 in Leipz.. Z. 1920 Sp. 649 Nr. 11). Hierüber gibt aber das Gutachten keine zuverlässige Aufklärung, um daraufhin feststellen zu können, daß die Beklagte, obwohl sie ihrerseits am Bestande der Ehe festzuhalten und sich die Stellung einer Ehefrau zu wahren sucht, infolge ihrer Geisteskrankheit jedes geistige Verständnis und Empfinden für die gemeinsamen Angelegenheiten des Ehelebens eingebüßt haben sollte.
Zudem fehlt für die Annahme, daß bei der Beklagten jede Aussicht auf Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft ausgeschlossen ist, eine ausreichende tatsächliche Grundlage und eine erschöpfende Würdigung des hier besonders eigenartig gelegenen Sachverhalts. Den Ausgangspunkt für die Beurteilung dieses Scheidungserfordernisses hat die von der Beklagten behauptete und auch von Dr. Ga. bestätigte Tatsache zu bilden, daß der krankhafte Zustand der Beklagten, der in den letzten drei Jahren zur Geisteskrankheit fortgeschritten ist, sich unter dem Einfluß ihrer begründeten Eifersucht über ihren ungetreuen Mann und der sich daraus ergebenden seelischen Erregung entwickelt habe. Die Revision ist der Meinung, daß dem Kläger deswegen, weil er die Geisteskrankheit der Beklagten durch sein ehebrecherisches Verhalten verschuldet habe, das Recht, auf Scheidung aus § 1569 zu klagen, überhaupt zu versagen sei; gebe auch der § 1569 selbst, der die Geisteskrankheit als absoluten Scheidungsgrund behandelt, dazu keine unmittelbare Handhabe, so sei doch zu erwägen, ob nicht der Grundgedanke des § 1565 Abs. 2. wonach die Scheidungsklage wegen Ehebruchs im Falle schuldhafter Beteiligung des Scheidungsklägers an jenem Ehebruch ausgeschlossen werde, wenigstens entsprechend anzuwenden sei, oder ob nicht sogar dem Kläger hier die auf allen Rechtsgebieten anerkannte Einrede der Arglist entgegenstehe. Diese Erwägungen können aber auf sich beruhen bleiben, da das Scheidungsbegehren des Klägers aus § 1569 hier aus anderen Gründen, die allerdings auch mit dem ehewidrigen Verhalten des Klägers eng zusammenhängen, beanstandet werden muß.
Denn die Beklagte hat dem Kläger entgegengehalten, daß sich zwischen ihnen wohl ein Einvernehmen wiederherstellen lasse, wenn der Kläger sein ehewidriges Verhalten ändern und für sie in gehöriger Weise sorgen werde. Dieser Einwand muß nach Lage der Sache durchgreifen. Dr. O. führt ausdrücklich aus, durch eine solche Umkehr des Klägers zur Beklagten könnten ihre Wahnideen, wenn auch erst nach langer Zeit, zum Einschläfern gebracht werden, sie würden aber gerade durch das Zusammenleben beider sehr bald aufs neue entflammen; und am Schlusse seines Gutachtens meint er, durch ein geändertes Verhalten des Klägers könne die Krankheit der Beklagten nicht völlig geheilt werden. Diese ärztliche Begutachtung, die das Berufungsgericht seinen Feststellungen zugrunde legt, kann jedoch die Annahme, daß danach jede Aussicht auf Wiederherstellung einer geistigen Gemeinschaft zwischen den Ehegatten ausgeschlossen sei, nicht rechtfertigen. Das Berufungsgericht nimmt selbst an, daß, wenn der Kläger sich der Beklagten in ehelicher Gesinnung wieder zuwenden würde, wenigstens eine Besserung ihres Krankheitszustandes nicht ausgeschlossen erscheint, wenn auch bei einem erneuten Zusammenleben mit Rückfällen zu rechnen und völlige Heilung nicht zu erwarten sei. Dabei wird aber übersehen, daß die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten, auf die es allein nach § 1569 ankommt, keineswegs mit einem beiderseitigen Zusammenleben zusammenzufallen braucht und an sich auch zwischen getrennt lebenden Ehegatten bestehen kann. Sodann verkennt das Berufungsgericht, daß zur Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft nicht notwendig eine völlige Heilung erforderlich ist, sondern daß auch schon eine gewisse Abschwächung des Grades der Geisteskrankheit der Beklagten ausreichen würde. Vor allem aber - und diese Erwägung gibt hier den Ausschlag - muß dem Kläger auch vom sittlichen, dem Wesen der Ehe entsprechenden Standpunk auferlegt werden, daß er, bevor seinem Scheidungsbegehren aus § 1569 stattgegeben werden könnte, seinerseits alles versucht hat, mit der durch seine eheliche Untreue schwer gekränkten und infolgedessen aus Eifersucht seelisch erkrankten Beklagten wieder ein erträgliches eheliches Verhältnis wiederherzustellen. Erst wenn diese Versuche scheitern sollten, kann zuverlässig beurteilt werden, ob wirklich jede Aussicht auf Wiederherstellung einer geistigen Gemeinschaft zwischen beiden ausgeschlossen erscheint.
Hiernach war die Sache, da auch das weitere Scheidungsbegehren des Klägers aus § 1568 noch aussteht, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.