RG, 03.03.1919 - VI 326/18
Zugehörigkeit einer Schienenanlage zum Fabrikbetriebe im Sinne des § 2 des Haftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871. Voraussetzungen der Schadenshaftung aus dem Verschulden der dort genannten Personen.
Tatbestand
Am 12. September 1911 hatten mehrere Schulknaben in Antonienhütte einen mit Räumasche beladenen Kippwagen, der auf einem von der Liebe-Hoffnungs-Zinkhütte über den dortigen Wochenmarkt nach den sogenannten Hüttenteichen führenden Schienenweg unbeaufsichtigt stand, in der Richtung nach den Hüttenteichen in Bewegung gesetzt. Die Liebe-Hoffnungshütte gehört den Beklagten. Der 5 Jahre alte Kläger, der sich auf den vorderen Puffer des Kippwagens gestellt hatte, sprang von dem noch in Bewegung befindlichen Wagen ab und wurde überfahren, wodurch er eine erhebliche Verletzung erlitt. Er verlangt von den Beklagten Schadensersatz auf Grund des Haftpflichtgesetzes (der Anspruch auf Schmerzensgeld nach BGB. § 847 wurde in den Vorinstanzen rechtskräftig abgewiesen).
Das Landgericht erklärte den Klaganspruch, soweit er auf das Haftpflichtgesetz gestützt wird, dem Grunde nach für gerechtfertigt. Das Oberlandesgericht stellte fest, daß die Beklagten als Gesamtschuldner dem Kläger den Schaden aus dem Unfalle vom 12. September 1911 (mit Ausnahme des Schmerzensgeldes) zu ersetzen haben. Die Revision der Beklagten wurde zurückgewiesen aus folgenden Gründen:
Gründe
"Die Annahme des Berufungsgerichts, daß die Liebe-Hoffnungshütte (Zinkhütte) der Beklagten eine Fabrik im Sinne des § 2 HaftpflG. darstelle, ist rechtlich nicht zu beanstanden und wird, auch von der Revision nicht angegriffen. Dagegen bestreitet die Revision die Richtigkeit der weiteren Annahme des Vorderrichters, daß die zwischen der Hütte und den nahen Hüttenteichen befindliche Schienenanlage zum Fabrikbetriebe gehört, einen Teil der Fabrik gebildet habe. Diese Auffassung läßt jedoch einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Allerdings war die Errichtung der Schienenanlage mehrere Jahre vor dem Unfalle des Klägers dadurch veranlaßt worden, daß der Amtsvorsteher die H. v. D.sche Generaldirektion aufforderte, dem Übelstande, daß den Hüttenteichen übelriechende, gesundheitsgefährliche Ausdünstungen entströmten, abzuhelfen, und daß die Generaldirektion sich entschloß, dieser Auflage im Wege der Zufüllung der Hüttenteiche mit Räumasche, die sich aus dem Betriebe der Zinkhütte ergab, nachzukommen. Allein auf den Anlaß, aus dem das Gleis errichtet, und auf den Zweck, der mit der Abladung der Räumasche in die Hüttenteiche erstrebt wurde, kommt es bei der Frage, ob die Schienenanlage zum Fabrikbetriebe gehört habe, nicht entscheidend an. Entscheidend ist vielmehr, daß die Anlage dazu bestimmt war und während mehrerer Jahre ausschließlich dazu verwendet wurde, die jeweils sich ergebende Räumasche aus dem Hüttenwerke fortzuschaffen. Damit war ein so naher Zusammenhang zwischen der auch räumlich unmittelbar an die Hütte sich anschließenden Schienenanlage und dem Hüttenbetriebe hergestellt, daß es sich rechtfertigt, die Anlage samt dem auf ihr stattfindenden Beförderungsbetrieb als zum Fabrikbetriebe gehörend anzusehen. Diese Annahme wird unterstützt durch die Feststellungen des Berufungsgerichts, wonach zufolge einer Anordnung der Generaldirektion der Beklagten der Beförderungsbetrieb stets durch Beamte und Arbeiter der Liebe-Hoffnungshütte erledigt und durch die Abbeförderung der Räumasche nach den Teichen eine für den Hüttenbetrieb vorteilhafte Entlastung der bei den Hüttengebäuden befindlichen Aschenhalden erzielt wurde. An der Zugehörigkeit der Schienenanlage und des Beförderungsbetriebes zur Hütte (Fabrik) wird dadurch nichts geändert, daß zur Zeit des Unfalls des Klägers die Zuschüttung der Teiche schon im wesentlichen vollendet war; denn geringere Mengen von Räumasche wurden auch um jene Zeit noch abbefördert, und eine solche Beförderung fand - wie das Berufungsgericht feststellt - noch am Unfallstage selbst statt. Es ist auch nicht behauptet oder gar festgestellt, daß die Schienenanlage vor dem Unfalle des Klägers einem anderen, von dem Hüttenbetriebe völlig losgelösten Verwendungszwecke dienstbar gemacht worden wäre. Dauerte aber, wie auch das von der Revision angezogene Gutachten des Sachverständigen J. annimmt, die ursprüngliche Zweckbestimmung der Anlage (Abbeförderung von Räumasche zur Auffüllung der Hüttenteiche) zur Zeit des Unfalls noch fort, so ergibt sich nach dem oben Ausgeführten eben daraus ihre fortdauernde Zugehörigkeit zum Betriebe der Liebe-Hoffnungshütte. Mit Unrecht beruft sich die Revision, um die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu entkräften, darauf, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen Unfall und Fabrikbetrieb regelmäßig dann verneint werde, wenn sich der Unfall außerhalb der Fabrikräume bei der Beförderung der fertigen Ware nach ihrem anderweiten Bestimmungsort ereigne. Solche Fälle sind ganz anders geartet als der vorliegende. Denn hier handelt es sich darum, durch die Entfernung der Asche ein der eigentlichen Fabrikationstätigkeit früher oder später durch Eintritt von Platzmangel sich entgegenstellendes Hindernis zu verhüten oder zu vermindern, während in den von der Revision herangezogenen Fällen das fertige Erzeugnis der die Stoffe verarbeitenden oder bearbeitenden Tätigkeit, die Ware, einem für die Verwertung geeigneten Orte entgegengeführt werden soll, für den Transport also der endliche, merkantile Zweck des Unternehmens der herrschende ist. In Fällen der letzteren Art ist, wie ohne weiteres einleuchtet, der Zusammenhang mit dem Fabrikationsbetrieb als solchem viel loser als da, wo Abraum, der sich bei der Fabrikationstätigkeit ergibt, von der Fabrik weggeschafft wird. Die Tatsache, daß der Kläger außerhalb des eigentlichen Hüttenbetriebes verunglückt ist, steht gerade wegen der Zugehörigkeit der Schienenanlage zum Hüttenwerk der Annahme des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Unfall und Fabrikbetrieb nicht entgegen.
Auch die Ausführungen des Berufungsgerichts, die dem Nachweis dienen, daß eine zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter der Beklagten angenommene Person durch ein Verschulden in Ausführung ihrer Dienstverrichtungen die Körperverletzung des Klägers herbeigeführt habe (§ 2 HaftpflG.), sind frei von Rechtsirrtum. Insbesondere konnte ein Verschulden des Hütteninspektors N. und des mit der Aufsicht über die Zuschüttung der Teiche betrauten Zinkmeisters Kr. unbedenklich darin gefunden werden, daß sie es unterließen, dem Arbeiter Ja., der die mit Räumasche beladenen Kippwagen von der Hütte nach den Teichen zu schaffen hatte, die erforderlichen Anweisungen zu geben, um eine Gefährdung Dritter, namentlich auch spielender Kinder, durch ungesichert auf dem Gleise stehende Wagen nach Möglichkeit auszuschließen. Der Unfall des Klägers ist aber dadurch herbeigeführt worden, daß Ja., der nach der Feststellung des Berufungsgerichts jedenfalls keine ausreichenden Anweisungen bezüglich der Festlegung auf dem Gleise stehen bleibender Wagen erhalten hatte, den hier fraglichen Wagen nur durch einige vor die Räder geschüttete Schaufeln Asche befestigt hat. Ungerechtfertigt ist auch die Auffassung der Revision, es bedeute eine Überspannung der Anforderungen an die zu beobachtende Sorgfalt, daß eine ganz besondere Befestigungsart hätte vorgeschrieben werden sollen. Dies ist um so weniger zutreffend, als die Erteilung bestimmter Anweisungen über die Art der Befestigung für die Betriebsleiter der Beklagten das einfachste und zugleich wirksamste Mittel war, derartigen Unfällen vorzubeugen. Im übrigen vermißt das Berufungsgericht eine Anweisung des Ja. darüber, in welcher Art der Wagen hätte befestigt oder beaufsichtigt werden müssen, um zu verhindern, daß spielende Kinder Zutritt zu ihm hatten und ihn ohne weiteres in Bewegung setzen konnten. Auch die Anordnung hinreichender Beaufsichtigung der auf dem Gleise stehenden Kippwagen hätte hiernach, wie der Berufungsrichter annimmt, genügt, um ein Verschulden der Betriebsleiter auszuschließen.
Endlich rügt die Revision, daß sich das Berufungsgericht mit seiner Annahme, die Angestellten N. und Kr. hätten die erforderliche Unterweisung des Ja. schuldhaft unterlassen, in Widerspruch setze mit der an anderer Stelle, bei Erörterung des Anspruchs auf Schmerzensgeld, getroffenen Feststellung, die von den Beklagten für die Leitung der Hütte angestellten Personen seien bei der Auswahl der Unterangestellten und bei der ihnen über diese obliegenden "Aufsichtsführung" mit der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verfahren. Ein Widerspruch mag hier vorliegen für den Fall, daß die Aufsichtsführung, von der das Berufungsgericht bei Erörterung der Ersatzpflicht der Beklagten aus § 831 BGB. spricht, auch die Verpflichtung zur Erteilung der erforderlichen Anweisungen an die Unterangestellten umfassen soll. Es braucht jedoch auf den Sinn, den das Berufungsgericht mit der - im § 831 gar nicht erwähnten - "Aufsichtsführung" verbunden hat, nicht eingegangen zu werden. Denn Voraussetzung der Anwendung des § 2 HaftpflG., bei dem es stets auf die Umstände des einzelnen Falles ankommt, ist nur, daß einer der dort genannten Personen (Betriebsleiter) ein Verschulden in Ausführung ihrer Dienstverrichtungen zur Last fällt, durch das der Tod oder die Körperverletzung eines Menschen herbeigeführt ist. Ohne Belang ist dagegen, ob die Aufsichtsperson (der Betriebsleiter) sorgfältig ausgewählt und ihrerseits von einem übergeordneten Angestellten sorgfältig beaufsichtigt war. Wie oben dargelegt, hat aber der den fraglichen Wagen führende Arbeiter Ja. überhaupt von keiner Seite Anweisungen erhalten, wie es deren zur Sicherheit mit den Wagen in Berührung kommender Dritter bedurfte. Keinenfalls kann der angebliche Widerspruch zur Aufhebung des Urteils führen. Denn die Begründung des vom Berufungsgerichte für gerechtfertigt erklärten Anspruchs aus § 2 HaftpflG. - und nur mit diesem Anspruch ist das Revisionsgericht befaßt - ist in sich schlüssig und weist keinerlei Widerspruch auf. Die Rechtsbeständigkeit dieser Begründung wird aber nicht dadurch erschüttert, daß bei Erörterung eines anderen, rechtlich anders gearteten Anspruchs, gegen dessen auch in zweiter Instanz erfolgte Abweisung Revision nicht eingelegt wurde, eine Feststellung getroffen ist, die mit einer in den Ausführungen über § 2 HaftpflG. enthaltenen Feststellung nicht im Einklange stehen soll. Die Begründung des Anspruchs aus § 2 HaftpflG. läßt keinen Zweifel darüber, daß die Angestellten R. und Kr., mögen sie vielleicht auch sonst bei der Überwachung der Arbeiter mit der erforderlichen Sorgfalt verfahren sein, es doch dem Arbeiter Ja. gegenüber an der Erteilung ausreichender Anweisungen haben fehlen lassen."