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RG, 18.02.1919 - VII 351/18

Daten
Fall: 
Armenanwalt mit Zustellung des Beiordnungsbeschlusses
Fundstellen: 
RGZ 94, 342
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
18.02.1919
Aktenzeichen: 
VII 351/18
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Köln
  • OLG Köln

Erlangt der Armenanwalt schon allgemein mit der Zustellung des Beiordnungsbeschlusses an ihn die Stellung eines Vertreters der armen Partei?

Tatbestand

Das Reichsgericht hat die Frage verneint aus folgenden Gründen:

Gründe

"Nach den Feststellungen des Vorderrichters hat der Kläger am 21. Juli 1917 auf der Gerichtsschreiberei des Oberlandesgerichts die Bewilligung des Armenrechts zwecks Einlegung der Berufung gegen das am 6. Juli 1917 zugestellte Urteil des Landgerichts beantragt und gebeten, ihm den Justizrat Dr. C. als Anwalt beizuordnen. Per Beschluß, durch den das Armenrecht bewilligt und Justizrat Dr. C. beigeordnet wurde, erging am 1. August und wurde dem Anwalt am 4. August, dem Kläger jedoch erst am 6. August nachmittags um 4 Uhr in seiner Wohnung, da er selbst abwesend war, zu Händen seiner Ehefrau zugestellt. Der beigeordnete Anwalt hat mit einem am 15. August beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatze Berufung eingelegt und gleichzeitig die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Die Begründung der Ablehnung der Wiedereinsetzung verneint zwar ein eigenes Verschulden des Klägers an der Fristversäumung, nimmt aber ein solches des Anwalts an, das der Kläger gegen sich gelten lassen müsse. Der Armenanwalt habe bereits mit der Zustellung des Armenrechtsbeschlusses an ihn die Vertretereigenschaft erlangt und sei zur Einlegung der Berufung innerhalb der Frist in der Lage und verpflichtet gewesen.

Dem Berufungsgericht ist darin beizutreten, daß den Kläger nach Lage der Sache ein eigenes Verschulden an der Fristversäumung nicht trifft. Nun ist zwar die Frage, ob ein unabwendbarer Zufall die Wahrung der Frist verhindert hat (§ 233 Abs. 1 ZPO.), nicht auf Verschulden abzustellen. Die Abwesenheit eines Verschuldens ist - abgesehen von dem hier nicht in Betracht kommenden Falle des § 233 Abs. 2 ZPO. - nur ein negatives Erfordernis für die Wiedereinsetzung. Es muß vielmehr positiv ein Ereignis die Wahrung der Frist vereitelt haben, dessen Eintritt nach den besonderen Umständen des Falles auch durch die äußerste diesen Umständen angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht hätte verhindert werden können (RGZ. Bd. 48 S. 409, Bd. 71 S. 322, Bd. 77 S. 159). Aber die Verkennung des Begriffs des unabwendbaren Zufalls führt deshalb nicht zur Aufhebung des Urteils, weil der Kläger für seine Person nach dem festgestellten Sachverhalt auch bei Aufwendung der äußersten Sorgfalt die Fristversäumung nicht mehr hätte verhindern können.

Es fragt sich daher, ob das Verhalten des beigeordneten Anwalts der Wiedereinsetzung entgegensteht.

Zutreffend nimmt der Vorderrichter an, daß in der Zeit vom 4. bis zum Ablauf des 6. August die Einlegung der Berufung möglich gewesen wäre, auch wenn man berücksichtigt, daß der 5. August ein Sonntag war. Im Armenrechtsbeschluß waren die erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten des Klägers benannt. Durch eine Anfrage bei diesen hätte der Anwalt unschwer noch am 4., jedenfalls aber am Vormittage des 6. August alles in Erfahrung bringen können, was zur rechtzeitigen Berufungseinlegung erforderlich war, insbesondere auch den Tag der Urteilszustellung. Er wäre dann in der Lage gewesen, den Berufungsschriftsatz noch am 6. August beim Berufungsgericht einzureichen. Die Unterlassung dieser Maßnahmen würde sich unbedenklich dann als ein Verschulden des Anwalts darstellen, wenn er damals bereits Vertreter der Partei und ihr gegenüber zum sofortigen Handeln vertraglich verpflichtet gewesen wäre. Der Revision kann nicht zugegeben werden, daß aus dem Umstande, daß das Berufungsgericht es unterlassen hat, auf den kurz bevorstehenden Fristablauf hinzuweisen, der Anwalt auf eine längere, gefahrlose Dauer der Frist hätte schließen dürfen. Ein solcher Hinweis durch einen entsprechenden Vermerk auf dem Beschluß wäre bei der gegebenen Sachlage gewiß angezeigt gewesen, aber seine Unterlassung könnte die Säumnis des Anwalts nicht entschuldigen.

Rechtlichen Bedenken begegnet aber die Auffassung des Oberlandesgerichts, daß Justizrat C. schon mit der Zustellung des Armenrechtsbeschlusses an ihn Vertreter des Klägers geworden sei. Der Vorderrichter meint, daß jedenfalls dann, wenn die Partei im Armenrechtsgesuche die Bitte ausgesprochen hat, ihr einen bestimmten Anwalt beizuordnen, in dieser Bitte schon die Bevollmächtigung dieses Anwalts zu finden sei. Die Richtigkeit dieser Ansicht kann aber hier unentschieden bleiben; denn auch wenn man sie billigt, so muß doch in bezug auf das Innenverhältnis zwischen Partei und Anwalt, worauf es hier allein ankommt, weiter gefordert werden, daß dem Anwalte von der Bitte der Partei um Beiordnung seiner Person, die dann zugleich den Auftrag zur Geschäftsbesorgung enthielte, Mitteilung gemacht wird. Es ist aber unter den Parteien unstreitig, daß Justizrat C. innerhalb der Berufungsfrist von jener Bitte der Partei keine Mitteilung erhalten hat.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts ließe sich daher - zunächst von der später noch zu besprechenden Frage der auftraglosen Geschäftsführung abgesehen - nur dann rechtfertigen, wenn in der Beiordnung des Armenanwalts entweder die Bestellung eines gesetzlichen Vertreters für die arme Partei zu erblicken wäre, oder verneinendenfalls, wenn ganz allgemein in jedem Armenrechtsgesuche schon die Bevollmächtigung des beizuordnenden Anwalts und der Auftrag zur Geschäftsbesorgung zu finden wäre. Daß der Armenanwalt gesetzlicher Vertreter der Partei sei, wird, soweit ersichtlich, in Rechtsprechung und Schrifttum einhellig abgelehnt. Mit Recht. Die Armenrechtsbewilligung ist ein öffentlichrechtlicher Akt der staatlichen Armenfürsorge. Der Staat will solchen Personen, die nicht in der Lage sind, ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie notwendigen Unterhalts die Kosten eines Prozesses zu bestreiten, dadurch zu Hilfe kommen, daß er ihnen die vorläufig unentgeltliche Prozeßführung ermöglicht, falls diese nicht aussichtslos oder mutwillig erscheint. Mit der Ermöglichung der unentgeltlichen Prozeßführung ist der Zweck der staatlichen Fürsorge vollkommen erreicht. Der armen Partei soll eine Vergünstigung gewährt, sie soll aber nicht in der Entschlußfreiheit, ob und wie sie den Prozeß führen und ob sie sich zur Prozeßführung des ihr beigeordneten Anwalts bedienen will, beschränkt werden. Durch die Beiordnung wird ihr ein Anwalt zur Verfügung gestellt. Ihrer freien Entschließung bleibt es vorbehalten, seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Der Anwalt hat den Weisungen der Partei in bezug auf die Prozeßführung Folge zu leisten, und die arme Partei hat das Recht, ihm jederzeit die Vertretungsmacht zu entziehen. Rechte, die grundsätzlich einer gesetzlich vertretenen Person nicht zustehen. Es ist kein Grund abzusehen, weshalb die arme Partei in den Herrschaftsrechten über den Prozeß ungünstiger zu stellen wäre als eine zahlungsfähige Partei.

Es bleibt daher noch zu erörtern, ob in dem Armenrechtsgesuch allgemein schon die Bevollmächtigung und die Auftragserteilung für den beizuordnenden Anwalt zu finden oder doch vermutlich enthalten ist. In der Rechtsprechung und dem Schrifttum sind die Meinungen geteilt.

Der erkennende Senat ist zur Verneinung gelangt. Maßgebend für diese Stellungnahme waren zunächst dieselben Gründe, aus denen oben die Annahme abgelehnt worden ist, daß der Armenanwalt durch den Armenrechtsbeschluß zum gesetzlichen Vertreter der armen Partei bestellt werde. Sie behält trotz der Armenrechtsbewilligung völlige Freiheit der Entschließung in der Auswahl ihres Prozeßvertreters. Der armen Partei kann, ebensowenig wie einer zahlungsfähigen, die Person des Anwalts gleichgültig sein. Möglicherweise bringt sie aus irgendwelchen Gründen dem ihr beigeordneten Anwalt kein Vertrauen entgegen. Es können ferner Umstände eintreten, die ihr die Prozeßführung nachträglich unnötig oder unzweckmäßig oder nicht ratsam erscheinen lassen, wenngleich das Gericht bei vorläufiger Prüfung der Sache diese für nicht völlig aussichtslos erachtet hat. Die Partei wäre dann, wenn man der gegenteiligen Ansicht folgt, auf den Widerruf der im Armenrechtsgesuche liegenden Vollmachtserteilung angewiesen. Hatte aber ein pflichteifriger Armenanwalt schon, bevor ihm der Widerruf zugeht, die Klage erhoben oder das Rechtsmittel eingelegt, vielleicht daraufhin auch schon die Gegenpartei ihrerseits einen Anwalt bestellt, so würden unnütze Kosten entstanden sein, deren Ersatz weder von der armen Partei noch auch von dem Armenanwalte zu erlangen wäre. Der einer armen Partei zu gewährende Rechtsschutz darf aber nicht so weit führen, daß die Interessen der Gegenpartei über das unbedingt erforderliche Maß hinaus beeinträchtigt werden. Anderseits erheischt auch das Interesse der armen Partei nicht die gegenteilige Annahme. Denn es kann ihr, auch wenn man nicht schon in dem Armenrechtsgesuche die Vollmachtserklärung findet, sondern es ihrer freien Entschließung überläßt, nach Beiordnung des Anwalts ihn zu ihrem Vertreter zu bestellen, ein Rechtsnachteil nicht entstehen, wenn sie mit der Sorgfalt zu Werke geht, die von jedem, der einen Rechtsstreit führen will, zu verlangen ist. Sie muß dafür Sorge tragen, daß sie, nach Zustellung, des die Armenrechtsbewilligung aussprechenden Beschlusses den ihr beigeordneten Anwalt so zeitig bevollmächtigt und mit Anweisung versieht, daß etwaige Fristen gewahrt werden können. Ist sie dazu auch bei äußerster Sorgfalt nicht mehr in der Lage, - vorausgesetzt, daß sie sich nicht durch zu späte Einreichung des Armenrechtsgesuchs selbst in diese Unmöglichkeit versetzt hat -, so gewährt ihr die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand den erforderlichen Rechtsschutz.

Dazu kommt folgende Erwägung: Der § 80 ZPO. schreibt vor daß der Bevollmächtigte seine Bevollmächtigung durch eine schriftliche Vollmacht nachzuweisen und diese zu den Gerichtsakten abzugeben hat. In amtsgerichtlichen und in Ehesachen wird dieser Nachweis von Amtswegen gefordert, in Anwaltsprozessen ist er auf Verlangen der Gegenpartei zu führen. Es ist nun allgemein anerkannt, daß die Vorschrift des § 80 auch für den Armenanwalt gilt. Diese Ansicht gründet sich darauf, daß das Gesetz keine Ausnahme macht, und in der Begründung zu § 74 Abs. 1 des Entwurfs einer ZPO. (jetzt § 80) ist ausdrücklich ausgesprochen, daß für den Armenanwalt eine Ausnahme nicht gelten solle (vgl. Hahn-Mugdan, Mot. z. ZPO. Bd. 1 S. 189). Hiermit läßt sich aber die Ansicht nicht vereinbaren, daß in dem Armenrechtsgesuche bereits die Vollmacht für den beizuordnenden Anwalt erklärt sei. Wäre dem so, dann bedürfte es für den Armenanwalt nicht mehr des Vollmachtsnachweises; denn der urkundliche Nachweis befände sich schon in Gestalt des Armenrechtsgesuchs und des darauf ergangenen Bewilligungsbeschlusses bei den Gerichtsakten.

Der erkennende Senat befindet sich mit seiner Ansicht in Übereinstimmung mit der Entscheidung des I. Zivilsenats RGZ. Bd. 89 S. 42. Dort heißt es S. 44:

"Die Zuordnung eines Pflichtanwalts steht - auch in Verbindung mit der Mitteilung des Zuordnungsbeschlusses an die Gegenpartei - der Bestellung eines Prozeßbevollmächtigten... nicht gleich",

und S. 45:

"Mit ihm (dem Beiordnungsbeschluß) erfüllt das Gericht nur seine öffentlichrechtliche Pflicht, der armen Partei einen Anwalt zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung ihrer Rechte zur Verfügung zu stellen. Er verpflichtet zugleich den Anwalt, sich ihr zur Entgegennahme der Vollmacht zur Verfügung zu halten, enthält aber keine Vollmachterteilung und begründet auch nicht die Vermutung einer solchen. Denn die arme Partei ist in ihrem Entschluß, ob sie dem ihr beigeordneten Anwalte Prozeßvollmacht geben will, völlig frei."

Die vom erkennenden Senate vertretene Auffassung steht auch, soweit erkennbar, nicht im Widerspruche mit den Entscheidungen des VI. Zivilsenats Bd. 41 S. 367 und Jur.-Wochenschr. 1904 S. 386 Nr. 12. In beiden Entscheidungen ist ausgesprochen, daß der Armenanwalt von dem Zeitpunkt ab, wo ihm seine Beiordnung bekannt geworden ist, in der Lage und veranlaßt sei, für die Partei zu handeln. Worauf der Senat die Pflicht des sofortigen Handelns damals gegründet hat, lassen die Ausführungen nicht erkennen; insbesondere nicht, ob der VI. Senat der Auffassung gewesen ist, daß in dem Armenrechtsgesuche schon die Bevollmächtigung zu finden sei, oder ob er die Veranlassung zum sofortigen Handeln etwa nur aus einer dem Armenanwalt obliegenden Anstandspflicht hergeleitet hat. Zur Herbeiführung einer Plenarentscheidung ist aber auch deshalb kein Anlaß gegeben, weil beide Entscheidungen des VI. Senats altes Recht betreffen.

Wenn hiernach im allgemeinen nicht anerkannt werden kann, daß der Armenanwalt mit der Zustellung des Beiordnungsbeschlusses schon die Eigenschaft des Vertreters der armen Partei erlangt und von da ab für ihn die Rechtspflicht besteht, für die Partei zu handeln, so soll doch anderseits nicht unausgesprochen bleiben, daß unter Umständen die Anstandspflicht ( nobile officium) vom Armenanwalte fordern kann, daß er nach Zustellung des Beiordnungsbeschlusses die Dinge nicht einfach laufen läßt und wartet, bis die Partei sich an ihn wendet, sondern daß er seinerseits alsbald die Sache in Angriff nimmt, besonders wenn Veranlassung besteht, anzunehmen, daß für die Rechte der Partei Gefahr im Verzug ist. Aber diese Anstandspflicht begründet noch nicht die Vertretereigenschaft des beigeordneten Anwalts.

Das Berufungsgericht hat nun noch einen Hilfsgrund für seine Entscheidung gegeben. Es ist der Meinung, dadurch, daß Justizrat C. am 8. August sich an die erstinstanzlichen Bevollmächtigten des Klägers wandte und dann an den Kläger schrieb, habe er für diesen als Geschäftsführer ohne Auftrag gehandelt. Diese Geschäftsführung sei durch die spätere Bevollmächtigung vom Kläger genehmigt worden. Die Genehmigung erstrecke sich auf das gesamte Handeln des Anwalts und damit auch auf sein negatives Handeln, d. h. die pflichtwidrige, weil gegen § 677 BGB. verstoßende Unterlassung der zur Wahrung der Berufungsfrist erforderlichen Maßnahmen.

Auch diese Ausführungen sind nicht frei von Rechtsirrtum. In der Tätigkeit des Anwalts am 8. August und den folgenden Tagen ist allerdings eine Geschäftsführung für die arme Partei zu finden. Es ist auch zutreffend, daß, wenn einmal der Anwalt mit der auftraglosen Geschäftsführung begonnen hat, er nichts unterlassen darf, was das Interesse der Partei zu tun gebietet, und ferner ist es richtig, daß auch solche Unterlassungen als genehmigt zu gelten haben, wenn nachträglich die ganze Geschäftsführung von der Partei schlechthin genehmigt wird. Aber die Genehmigung erstreckt sich, auch wenn sie schlechthin erteilt wird, nur auf die Übernahme der Geschäftsführung und auf diejenigen Handlungen und Unterlassungen, die nach der Übernahme liegen. Die Geschäftsführung für den Kläger ist aber, von Justizrat C. erst nach Ablauf der Berufungsfrist, am 3. August, übernommen worden. Unterlassungen, die vorher liegen, können also nicht genehmigt sein. Es ist auch ganz ausgeschlossen, daß der Kläger mit seiner späteren Vollmachtserteilung an den Anwalt die Unterlassung der rechtzeitigen Berufungseinlegung, also die Fristversäumung, hätte genehmigen wollen."