RG, 12.11.1917 - IV 347/17
Unfallversicherung. Geht der Entschädigungsanspruch des Verletzten gegen einen Dritten nur insoweit auf die Berufsgenossenschaft über, als diese dem Verletzten tatsächlich Leistungen gewährt? Bedeutung der gesetzlichen Bestimmung, daß von den im Jahre 1909 durch die Post verauslagten Entschädigungsbeträgen zwei Fünftel das Reich trägt.
Tatbestand
Die Entschädigungen, die die Berufsgenossenschaften auf Grund der Gesetze über die Unfallversicherung zu zahlen hatten und jetzt auf Grund des 3. Buches der Reichsversicherungsordnung zu zahlen haben, wurden und werden auf Anweisung des Genossenschaftsvorstandes durch die Post bewirkt. Bis zum 1. Januar 1910 hatte die Post die Beträge vorzuschießen, während die Berufsgenossenschaften der Post die in einem Jahre vorgeschossenen Beträge erst im Laufe des folgenden erstatteten. In dieser Beziehung trat zufolge Art. I § 6 des Gesetzes, betr. Änderungen im Finanzwesen vom 15. Juli 1909, mit dem 1. Januar 1910 eine Änderung ein (vgl. Art. VI). Seitdem müssen die Berufsgenossenschaften der Post die Beträge zur Auszahlung der Entschädigungen vorschießen. Die Entschädigungsbeträge, die die Post im Jahre 1909 für die Berufsgenossenschaften verauslagt hat, sind in eine schwebende Schuld verwandelt, die mit 3 1/2 % zu verzinsen und mit 3 1/2 % zuzüglich der ersparten Zinsen zu tilgen ist, so jedoch, daß 2/5 dieser Beträge an Zinsen und Tilgung das Reich tragt (vgl. §§ 728, 779 RVO.).
Die preußische Staatseisenbahnverwaltung hatte die Beträge, die sie für das Jahr 1909 der beklagten Berufsgenossenschaft auf Grund des § 98 UVG. und des § 140 GewUVG. (vgl. § 1542 RVO.) zahlen mußte, in vollem Umfange gezahlt. Sie war der Ansicht, daß sie, da die Beklagte nur 3/5 diese: Beträge zu erstatten habe, 2/5 ohne rechtlichen Grund geleistet habe, und forderte deshalb von der angeblich zu viel bezahlten Summe mit der Klage 4500 M zurück. Die Klage wurde in beiden Instanzen abgewiesen. Auch die Revision wurde zurückgewiesen, aus folgenden
Gründe
1.
"Die Entscheidung hängt in erster Linie von der Auslegung des § 98 Satz 2 UVG. und des § 140 Satz 2 GewUVG. ab. Die Revision will diese Gesetzesstellen so verstanden wissen, daß der Anspruch, der den gegen Unfall Versicherten auf Ersatz des ihnen entstandenen Schadens gegen Dritte zusteht, auf die Berufsgenossenschaft nur insoweit übergehe, als sie im Rahmen ihrer durch die Unfallversicherungsgesetzgebung begründeten Entschädigungspflicht tatsächlich dem Entschädigungsberechtigten Leistungen gewährt hat. Sie beruft sich hierfür auf das Urteil in RGZ. Bd. 24 S. 126. Jedoch mit Unrecht. Dort findet sich allerdings ein Satz, der auf den ersten Blick für die Revision sprechen könnte, indem gesagt wird, die Berufsgenossenschaft könne von dem Dritten Ersatz verlangen,
"soweit sie dem Entschädigungsberechtigten Leistungen gewährt hat oder wenigstens ihre Verpflichtung hierzu in ordnungsmäßiger Weise festgestellt worden ist."
Dort ist auch die Begründung zu § 98 UVG. mitgeteilt, worin es heißt, selbstverständlich habe die Forderung des Entschädigungsberechtigten gegen den Dritten insoweit auf die Genossenschaft überzugehen, als der Entschädigungsberechtigte von der Genossenschaft "Leistungen empfängt". Allein wie jener Satz gemeint war, ergibt sich einmal aus dem mit "oder wenigstens" eingeleiteten Satzteile, sodann aber mit voller Sicherheit daraus, daß unmittelbar vorher ausgeführt ist, das Fehlen der Worte "in Höhe der geleisteten Unterstützung", die sich in § 57 Abs. 4 KrankVG. fänden, habe anscheinend darin seinen Grund, daß die Geltendmachung der Ersatzforderung nicht auf die einzelnen bereits bezahlten Renten beschränkt, sondern der Übergang der Forderung im ganzen auf die Berufsgenossenschaft insoweit habe vorgesehen werden sollen, als dem Ansprüche des Entschädigungsberechtigten durch Zuerkennung einer Rente genügt worden sei. Im übrigen handelte es sich damals weniger um den Umfang, als um die Frage, in welchem Zeitpunkte der Anspruch des Verletzten auf Ersatz des ihm entstandenen Schadens gegen den entschädigungspflichtigen Dritten auf die Berufsgenossenschaft übergeht. Diese Frage wurde allerdings damals dahin entschieden, daß der Übergang nicht schon im Augenblicke der Entstehung des Anspruchs, sondern erst dann erfolge, wenn die Entschädigungspflicht der Berufsgenossenschaft dem Versicherten oder seinen Hinterbliebenen gegenüber festgestellt ist. Allein an jener Ansicht hat das Reichsgericht später nicht festgehalten; seit dem Urteile des VI. Zivilsenats vom 26. Januar 1905 (Bd. 60 S. 200) steht vielmehr fest (vgl. Bd. 76 S. 218), daß die Forderung gegen den Dritten allerdings zunächst in der Person des Verletzten zur Entstehung gelangt, aber unmittelbar nach der Entstehung durch die Person des Verletzten hindurch auf die Berufsgenossenschaft übergeht, indem Entstehung und Übergang sich zeitlich berühren. Diese neuere Auffassung des Reichsgerichts, der der Gesetzgeber inzwischen durch die von ihm gewählte Fassung des § 1542 RVO. ("Leistungen zu gewähren haben") Anerkennung verschafft hat (vgl. Kommissionsbericht V S. 27), trifft auch schon für das Unfallversicherungsgesetz zu. Ist das aber der Fall, dann kann keine Rede davon sein, daß der Entschädigungsanspruch des Verletzten nur insoweit auf die Berufsgenossenschaft überginge, als diese hinterher dem Entschädigungsberechtigten tatsächlich Leistungen gewährt. Der Umfang, in dem der Übergang stattfindet, bemißt sich nicht nach dem, was die Berufsgenossenschaft dem Verletzten tatsächlich gewährt, sondern nach dem, was sie ihm, solange ihre Verpflichtung besteht (vgl. RGZ. Bd. 72 S. 434; Bd. 89 S. 236), auf Grund der Unfallversicherungsgesetzgebung zu gewähren rechtlich verpflichtet ist. Das ergibt wie der Wortlaut so der Sinn des § 98 UVG. und des § 140 GewUVG.; es konnte um so unbedenklicher bestimmt werden, als dafür Sorge getragen ist, daß der Verletzte das, was ihm die Berufsgenossenschaft zu gewähren rechtlich verpflichtet ist, von ihr auch tatsächlich erhält.
Von diesem Standpunkt aus ist es grundsätzlich gleichgültig, inwieweit die beklagte Berufsgenossenschaft die Beträge, die sie im Jahre 1909 durch die Post als ihre Zahlstelle an Versicherte hat auszahlen lassen, der Post aus eigenen Mitteln zu erstatten hat und inwieweit sich infolge des Gesetzes vom 15. Juli 1909 das Reich an der Erstattung beteiligt.
2.
Die Revision verkennt aber auch die Bedeutung, die diesem Gesetze zukommt. Schon vorher war das Reich an den Kosten der Unfallversicherung in nicht unerheblichem Maße dadurch beteiligt, daß die Post die sehr beträchtlichen Vorschüsse, die sie gemäß § 69 UVG. und § 97 GewUVG. den Berufsgenossenschaften leistete, nicht bloß ohne jedes Entgelt für ihre Mühewaltung, sondern auch völlig zinsfrei leistete, obgleich die Erstattung erst nach geraumer Zeit (vgl. §§ 70, 75 UVG., §§ 98, 106 GewUVG.) der Verauslagung folgte. Die Revision behauptet, von dieser Zinsfreiheit hätten auch die ersatzpflichtigen Dritten insofern Vorteil gehabt, als die Berufsgenossenschaften wie mit der Post so auch mit ihnen erst im Laufe des folgenden Jahres abgerechnet hätten. Ob die Behauptung richtig ist, kann dahingestellt bleiben. Selbst wenn die Berufsgenossenschaften tatsächlich so verfahren sein sollten, hatten doch die Dritten keineswegs einen rechtlichen Anspruch auf eine solche Behandlung. Das Gegenteil ergibt sich auch nicht daraus, daß nach § 98 UVG., § 140 GewUVG. der Anspruch, der dem Verletzten gegen den Dritten zu steht, auf die Berufsgenossenschaft nur im Umfang ihrer "durch dieses Gesetz" begründeten Entschädigungspflicht übergeht. Denn die durch die Unfallversicherungsgesetzgebung begründete Entschädigungspflicht, d. h. die Pflicht der Berufsgenossenschaft, den Versicherten zu entschäbigen, entsteht, soweit sie überhaupt entsteht, sofort mit dem Unfalle; sie ist eine Zahlungspflicht und keineswegs eine bloße Verpflichtung, die Post mit Zahlungsanweisung zu versehen. Ebenso entsteht der Anspruch des Verletzten gegen den Dritten alsbald mit dem Unfall. Er geht, wie gezeigt, unmittelbar nach seiner Entstehung auf die Berufsgenossenschaft über; diese ist also berechtigt, ihn sofort geltend zu machen, und war, solange die Vorschußpflicht der Post bestand, rechtlich nicht verpflichtet, den Dritten an den Vorteilen, die ihr durch sie erwuchsen, teilnehmen zu lassen. Die Vorschußpflicht war nur zugunsten der Berufsgenossenschaften eingeführt, nicht aber, auch nicht mittelbar, zugleich zugunsten derjenigen, gegen die den Versicherten nach sonstigen gesetzlichen Vorschriften ein Anspruch auf Ersatz des durch den Unfall entstandenen Schadens zusteht.
Die durch die Postvorschüsse und ihre Zinsfreiheit dem Reiche entstandenen Kosten wuchsen mit dem Steigen der von den Trägern der Unfallversicherung zu leistenden Entschädigungen ständig und betrugen in den Jahren 1904 bis 1906 durchschnittlich rund 4,4 Millionen Mark (vgl. die Verh. des Reichstags Bd. 255 S. 8851 und 8813). Das Reich suchte deshalb die Vorschußpflicht zu beseitigen. Nachdem ein erster, bei der Einbringung des Entwurfs des Gesetzes, betr. die Abänderung der Unfallversicherungsgesetze vom 30. Juni 1900 (BGBl. S. 335) unternommener Versuch an dem Widerstande des Reichstags gescheitert war (Verh. des Reichstags Bd. 177 S. 4495), gelang 1909 ein zweiter Versuch, indem durch Art. I § 6 des Gesetzes vom 15. Juli 1909 die Träger der Unfallversicherung vom 1. Januar 1910 ab verpflichtet wurden, auf Verlangen der Post, das alsbald gestellt wurde, in vierteljährlichen oder monatlichen Teilbeträgen einen zur Deckung der Post ausreichenden "Betriebsfonds" im voraus einzuzahlen. Es wäre nun eine Härte gewesen, wenn den Berufsgenossenschaften gleichzeitig die Rückzahlung der für das letzte Jahr geleisteten Vorschüsse und die Abführung von Betriebsfonds auferlegt worden wäre. Lediglich zur Vermeidung dieser Härte (vgl. Verh. des Reichstags Bd. 255 a. a. O) wurde bestimmt, daß die Entschädigungsbeträge, die die Post 1909 für die Träger der Unfallversicherung verauslagt hat, nicht, wie nach den bisherigen Bestimmungen erforderlich gewesen wäre, in einer Summe zurückzuzahlen, sondern als schwebende Schuld zu behandeln seien, die mit 3 1/2 % zu verzinsen und mit 3 1/2 % zuzüglich der ersparten Zinsen zu tilgen sei, so daß sich eine 20jährige Tilgungszeit ergab. Wenn zugleich verordnet wurde, daß 2/5 der Beträge an Zinsen und Tilgung das Reich zu tragen habe, so sollte diese Teilnahme des Reiches an Zinsen und Tilgung, wie die verbündeten Regierungen in der Reichstagskommission ausdrücklich erklären ließen (vgl. Bd. 255 S. 8314), eine Ablösung des durch die frühere Gesetzgebung den Berufsgenossenschaften gewährten Rechtes auf die Vorschußleistungen der Post darstellen. Der Beteiligungsmaßstab wurde, während nach dem ursprünglichen Antrage das Reich die Hälfte tragen sollte, schließlich so gewählt, daß das, was das Reich zu leisten hat (auf 20 Jahre jährlich rund 4,6 Millionen Mark), ungefähr dem entspricht, was es bis dahin jährlich geleistet hatte, wobei zu berücksichtigen ist, daß das Reich infolge der Vorschußpflicht der Berufsgenossenschaften nunmehr seinerseits auch noch Zinsvorteile hat. Die anderweite Regelung des früheren Zustandes erfolgte im Interesse des Reiches. Ob das Gesetz daneben, wie ihm vielfach, schon in der Kommission und in den Verhandlungen des Reichstags (Bd. 237 S. 9264 bis 9265), vorgeworfen wurde, für die an den Berufsgenossenschaften hauptsächlich beteiligte Großindustrie einen durch seinen Zweck nicht gerechtfertigten Vorteil brachte, braucht nicht erörtert zu werden. Denn keinesfalls sollte es den ersatzpflichtigen Dritten irgendeinen rechtlichen Vorteil bringen und zugleich ihnen eine Erleichterung verschaffen. Sie waren zu alsbaldiger Zahlung verpflichtet und blieben es. Auch für das Jahr 1909 trat zu ihren Gunsten keinerlei Änderung in dem bisherigen Rechtszustand ein.
Hiernach trifft es nicht zu, daß bei Eisenbahnfiskus, indem er die Beträge für 1909 an die Berufsgenossenschaft nicht bloß zu 3/5, sondern voll zahlte, eine Nichtschuld bezahlt hätte. Diese hat durch die Vollzahlung auch sonst nichts auf Kosten des Klägers ohne rechtlichen Grund erlangt. Seine Klage ist daher mit Recht abgewiesen worden." ...