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RG, 23.05.1917 - I 74/17

Daten
Fall: 
Erklärungsirrtum
Fundstellen: 
RGZ 90, 268
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
23.05.1917
Aktenzeichen: 
I 74/17
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG München
  • OLG München

Irrtum über den Inhalt der Willenserklärung, wenn bei einem Kaufe die Berechnung des Preises unter Annahme eines unrichtigen Gewichts der Kaufsache erfolgt ist. Schließt der Umstand, daß das Gewicht lediglich im Wege der Schätzung ermittelt worden ist, die Anfechtung der Willenserklärung wegen Irrtums aus?

Tatbestand

Die Beklagte verkaufte an die Klägerin ihr Altmetallager. Das Gewicht der einzelnen Posten war ihr unbekannt. Im Wege der Schätzung wurde von den Parteien das Gewicht nach Eisenbahnwagen bestimmt; dabei wurde ein Haufen Brockeneisen auf 40 Eisenbahnwagen geschätzt. Unter Zugrundelegung der Tagespreise für die einzelnen Metallsorten wurde der Verkaufswert des gesamten Lagers auf 35.700 M berechnet und der Gesamtpreis schließlich auf 37.000 M festgesetzt. Einige Tage später focht die Beklagte das Kaufgeschäft wegen Irrtums mit der Erklärung an, daß der Posten Brockeneisen, der den wichtigsten Teil des verkauften Lagers bilde, zufolge ihrer nachträglichen Ermittelungen 80 Wagen ausmache und auch bei den anderen Posten erheblich größere Vorräte, als beim Vertragsschluß angenommen, vorhanden seien.

Die Klägerin widersprach der Anfechtung und erhob Klage auf Duldung der Wegführung der Ware. Das Landgericht erkannte nach dem Klagantrage. Das Oberlandesgericht wies die Berufung der Beklagten zurück. Die Revision der Beklagten hatte Erfolg.

Gründe

... "Das Urteil des Berufungsgerichts beruht auf der Erwägung, daß ein Irrtum im Sinne des § 119 BGB. bei dem Kaufgeschäfte der Parteien nicht in Betracht kommen komme, da das Gewicht des verkauften Alteisens den Parteien nicht bekannt gewesen sei und der auf Grund bloßer Schätzung des Gewichts zustande gekommene Geschäftsabschluß von vornherein ein gewagtes Geschäft mit gleichem Risiko für beide Teile zum Inhalt gehabt habe. Das Wesen des rechtsgeschäftlichen Irrtums bestehe, so führt das Berufungsgericht unter Hinweis auf das Urteil des Reichsgerichts vom 15. Oktober 1914 (RGZ. Bd. 85 S. 322) weiter aus, darin, daß der Erklärende sich von der wirklichen Sachlage eine bestimmte falsche Vorstellung mache oder in einer ihm unbewußten Unkenntnis von Tatsachen sich befinde, wogegen der Irrtumsbegriff ausgeschlossen werde, wenn der Erklärende eine Tatsache, deren Annahme sich später als unrichtig herausstelle, von vornherein nur für wahrscheinlich gehalten, also den Umstand der Ungewißheit sogleich in seine Vorstellung aufgenommen habe. Dies sei bei Willenserklärungen, die auf Grund bloßer Schätzungen abgegeben würden, stets der Fall. ...

Demgegenüber macht die Revision geltend, daß die Erwägungen des Berufungsgerichts zwar richtig wären, wenn die Beklagte sich auf Grund ganz unklarer Vorstellungen oder Vermutungen zu dem Geschäft entschlossen hätte, daß es aber für die Frage des Irrtums keinen Unterschied begründen könne, ob die Vertragschließenden einen Sachverhalt in seinen Einzelheiten für genau bestimmt hielten oder ob sie, von einer Schätzung ausgehend, damit rechneten, daß der angenommene Sachverhalt innerhalb eines gewissen Spielraums von der Wirklichkeit abweichen könnte.

Dieser Auffassung ist beizupflichten. Nach § 119 BGB. kann, wer bei Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte, die Erklärung anfechten, wenn anzunehmen ist, daß er sie bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde. Auf einen solchen Irrtum über den Inhalt ihrer Willenserklärung beruft sich die Beklagte, indem sie behauptet, daß sie übereinstimmend mit dem klägerischen Geschäftsführer R. das Gewicht des Haufens Brockeneisen auf 40 Eisenbahnwagen geschätzt und diese Gewichtsmenge der Preisberechnung zugrunde gelegt habe, wahrend nachträglich das wirkliche Gewicht auf 80 Wagen ermittelt worden sei. Bei diesem Sachverhalt, der teils unstreitig teils als richtig für die Revisionsinstanz zu unterstellen ist, ist davon auszugehen, daß die Beklagte, als sie sich auf das Kaufgeschäft einließ, in sich die Vorstellung aufgenommen hatte, daß der zu verkaufende Haufen Brockeneisen etwa 40 Eisenbahnwagen ausmachen würde. Die Erwartung, daß das Gewicht von 40 Wagen sich später als genau richtig herausstellen würde, konnte sie nicht hegen, da die Gewichtsermittelung nur auf ihrer eigenen Schätzung und der des R. beruhte und ihr die Unvollkommenheit dieser Ermittelungsart nicht entgehen konnte. Das hindert aber nicht, die Vorstellung, die sie sich vom Gewichte des Eisens gebildet hattet innerhalb eines gewissen Spielraums als bestimmt anzusehen und bezüglich ihres Willensentschlusses anzunehmen, daß sie zum Abschlusse des Kaufgeschäfts nur durch die Überzeugung veranlaßt worden ist, die Abweichung des der Preisberechnung zugrunde gelegten Gewichts von dem wirklichen werde gewisse Grenzen nicht überschreiten. Wenn diese Vorstellung für die Beklagte zur Abgabe ihrer Willenserklärung bestimmend gewesen ist, und wenn sich dann später ihre Unrichtigkeit herausstellte, so folgt daraus ohne weiteres, daß die Beklagte sich über die wirkliche Sachlage eine unzutreffende Auffassung gebildet hat und dadurch in ihrer Willensfreiheit beeinträchtigt worden ist. Damit ist der Begriff des Irrtums im Sinne des § 119 BGB. erfüllt.

Nicht haltbar erscheint die Ansicht des Berufungsgerichts, daß jede auf einer Schätzung beruhende Willenserklärung von vornherein das Merkmal der Ungewißheit und der Gewagtheit aufweise und deshalb der Anfechtung wegen Irrtums nicht unterliegen könne. Diese Ansicht verkennt das Wesen der Schätzung und ihre Bedeutung für den Rechtsverkehr. Die Schätzung gehört zu den Mitteln, durch die im Rechtsleben Werte, Mengen, Gewichte, Größenverhältnisse und andere rechtserhebliche Umstände festgestellt werden. Wenn sie auch ihrem Wesen nach ein weniger zuverlässiges Ergebnis herbeiführt, als etwa das Zählen, Messen oder Wägen, so gibt es doch unzählige Fälle, in denen die Ermittelung rechtserheblicher Umstände auf keinem anderen Wege möglich ist. Sie bildet daher ein unentbehrliches Mittel für die Erforschung rechtlich bedeutsamer Verhältnisse und demgemäß auch eine ausreichende Grundlage für die Entstehung eines bestimmten Vertragswillens. Wenn bei jeder Schätzung auch mit einer gewissen Abweichung des geschätzten von dem wirklichen Sachverhalt gerechnet werden muß, so rechtfertigt dies doch keineswegs die Annahme, daß ein auf Grund einer Schätzung zustande gekommenes Geschäft den Charakter eines gewagten trage. Innerhalb welchen Spielraums bei einer Schätzung mit einer Abweichung zwischen dem geschätzten und dem wirklichen Sachverhalt zu rechnen ist, ist im einzelnen Falle Sache des tatsächlichen Ermessens. Ein gewagtes Geschäft kommt aber so lange nicht in Betracht, als der Erklärende sich auf die Richtigkeit der Schätzung verläßt und eine weitere Abweichung von der Wirklichkeit als die durch das Wesen der Schätzung begründete für ausgeschlossen hält. Erst dann wird das Geschäft zu einem gewagten, wenn der Erklärende sich über die Regeln und Grenzen einer ordnungsmäßigen Schätzung hinwegsetzt, sich auf haltlose Mutmaßungen verläßt oder Umstände berücksichtigt, deren Eintritt von zukünftigen Ereignissen abhängig ist. In derartigen Fällen kommt allerdings, wie in den vom Berufungsgericht angezogenen Urteile des Reichsgerichts vom 15. Oktober 1914 (RGZ. Bd. 85 S. 324) näher ausgeführt worden ist, eine Anfechtung wegen Irrtums nicht in Betracht, weil der Erklärende von vornherein Zweifel an der Richtigkeit seiner Annahmen und an dem Eintreffen seiner Zukunftshoffnungen gehegt hat, mithin nicht in falschen Vorstellungen über wirklich vorhandene Tatsachen befangen gewesen ist.

In jenem Urteile, das einen von dem jetzigen völlig verschiedenen Sachverhalt betraf, findet sich allerdings auch der Satz, daß Zweifel der angedeuteten Art, die der späteren Anfechtung des Geschäfts wegen Irrtums entgegenständen, insbesondere dann vorlägen, wenn Willenserklärungen auf Grund von (nicht betrüglichen) Schätzungen, Annahmen, Mutmaßungen abgegeben würden. Diese Bemerkung kann aber nicht dahin verstanden werden, daß unterschiedslos jede Willenserklärung, die auf einer Schätzung beruht, Zweifel an der Richtigkeit des Sachverhalts in sich schließe, dadurch zu einer gewagten werde und als solche der nachträglichen Anfechtung wegen Irrtums entzogen sei. Denn aus dem Zusammenhange und der Gleichstellung der Schätzungen mit Annahmen und Mutmaßungen ist zu entnehmen, daß der Ausdruck "Schätzungen" dort nur im Sinne ungewisser, des genügenden Anhalts entbehrender Vermutungen gebraucht worden ist. Auf sachverständige Schätzungen aber, wie sie im geschäftlichen Verkehr häufig als Grundlage für Vertragsschlüsse vorkommen, haben sich die Ausführungen des Urteils augenscheinlich nicht beziehen sollen. Solche Schätzungen erscheinen vielmehr, gleichviel ob sie von den Beteiligten selbst oder anderen Sachverständigen ausgehen, als ein durchaus geeignetes Mittel, um in den eine Willenserklärung abgebenden Personen bestimmte Vorstellungen über rechtserhebliche Tatsachen zu erwecken. Derart zustande gekommene Willenserklärungen sind daher auch nicht, wie das Berufungsgericht annimmt, der Anfechtung wegen Irrtums grundsätzlich entzogen.

Zu prüfen bleibt aber, ob das tatsächliche Vorbringen der Beklagten ausreicht, um die Anfechtung des Kaufgeschäfts wegen Irrtums gemäß § 119 BGB. zu begründen, insbesondere ob ein Irrtum der Beklagten über den Inhalt ihrer Willenserklärung deshalb angenommen werden kann, weil sie infolge unrichtiger Schätzung nur 40 Bahnwagen Brockeneisen der Berechnung des Kaufpreises zugrunde gelegt hat. In dieser Hinsicht ist übereinstimmend mit der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGZ. Bd. 55 S. 367, Bd. 64 S. 266, Warneyer 1909 Nr. 439) davon auszugehen, daß Versehen, die bei einer dem Vertragschlusse vorangehenden einseitigen Preisberechnung unterlaufen, nicht genügen, um einen Irrtum über den Inhalt der späteren rechtsgeschäftlichen Erklärung zu begründen. Ein derartiges Versehen bleibt außerhalb des Rahmens des eigentlichen Rechtsgeschäfts und stellt sich nur als ein unbeachtlicher Irrtum im Beweggründe dar. Anders gestaltet sich aber die Rechtslage, wenn die Preisberechnung zum Gegenstände der für den Vertragsschluß maßgebenden Verhandlungen gemacht, insbesondere wenn hierbei dem anderen Teile erkennbar wurde, daß der geforderte oder angebotene Kaufpreis auf einer bestimmten, näher dargelegten Berechnung beruhte. In einem solchem Falle ist die Preisberechnung zum Gegenstande der rechtsgeschäftlichen Erklärungen und damit zum Vertragsinhalte gemacht worden. Erweist sich demnächst die Preisberechnung, namentlich wegen Rechenfehler oder Einstellung unrichtiger Rechnungsfaktoren, als unrichtig, so liegt ein Irrtum über den Inhalt der Erklärung vor, der die Anfechtung aus § 119 Abs. 1 BGB. zu begründen geeignet ist (RGZ. Bd. 64 S. 268, Warneyer 1909 Nr. 439, Urteil vom 8. April 1910 Rep. VII. Nr. 308/09, Urteil vom 2. Oktober 1914 Rep. II. 286/1914).

Nach diesen Grundsätzen, an denen festzuhalten ist, könnte das Kaufgeschäft der Parteien der Anfechtung unterliegen, wenn festgestellt würde, daß einerseits die Gewichtsmenge von 40 Eisenbahnwagen Brockeneisen der Preisberechnung im beiderseitigen Einverständnis zugrunde gelegt worden ist, anderseits diese Gewichtsannahme so weit hinter dem wirklich vorhandenen Gewichte zurückbleibt, daß der Abschluß des Kaufgeschäfts von der Beklagten bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles vermutlich nicht vorgenommen sein würde. In ersterer Hinsicht kommt es auf die Vorgänge, die der Einigung der Parteien über das Kaufgeschäft unmittelbar vorangingen, wesentlich an. Insbesondere bleibt zu prüfen, ob die Annahme einer Gewichtsmenge von 40 Wagen Brockeneisen dadurch zum Gegenstande der rechtsgeschäftlichen Erklärungen gemacht worden ist, daß Auguste R., die der Beklagten bei den Kaufverhandlungen zur Seite stand, bei der Preisberechnung das Brockeneisen nur mit dem angegebenen Gewicht einstellte, daß der Kläger einen bei Zusammenzählung der einzelnen Rechnungsposten vorgekommenen Rechenfehler berichtigte und daß von der so ermittelten Schlußsumme ausgehend die Parteien sich auf einen Gesamtpreis von 37.000 M einigten. Schließlich bleibt zu berücksichtigen, daß die Beklagte, wenn sie die Gewichtsberechnung auf eine Schätzung stützte und sich über die rechnerisch ermittelte Schlußsumme hinaus noch einen etwas höheren Pauschalpreis ausbedang, von vornherein mit einem gewissen Spielraume zwischen dem geschätzten und dem wirklichen Gewichte gerechnet hat. Innerhalb dieses Spielraums, dessen Umgrenzung Sache tatsächlichen Ermessens ist, kommt die Anfechtung wegen Irrtums nicht in Betracht. Hierfür ist erst dann Raum, wenn der Spielraum derart überschritten wird, daß nicht angenommen werden kann, die Beklagte würde sich bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles auf den Vertragsschluß so, wie er zustande gekommen ist, eingelassen haben."