RG, 10.05.1917 - IV 104/17

Daten
Fall: 
Abfindung eines unehelichen Kindes mit dem Pflichtteilsbetrag
Fundstellen: 
RGZ 90, 202
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
10.05.1917
Aktenzeichen: 
IV 104/17
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Berlin
  • KG Berlin

1. Abfindung des unehelichen Kindes mit dem Pflichtteilsbetrage nach § 1712 Abs. 2 BGB.
2. Steht das Recht zur Abfindung dem Erben zu, auch wenn für den Nachlaß ein Testamentsvollstrecker ernannt ist?
3. Verhältnis des dem unehelichen Kinde zustehenden Anspruchs auf den Pflichtteilsbetrag zu den Ansprüchen der wirklichen Pflichtteilsberechtigten.

Tatbestand

Der am 11. September 1915 verstorbene Offizierstellvertreter Ernst S., Sohn der Kläger, setzte in seinem Testamente vom 13. August 1915 die Beklagte zur Erbin seines Vermögens ein; er bezeichnete sie darin als seine Verlobte und erklärte, daß er die Vaterschaft über das Kind, das sie bis zum Juni 1916 zur Welt bringen sollte, anerkenne und daß er Mutter und Kind dem Wohlwollen seiner Eltern empfehle. Die Beklagte hat am 2. April 1916 ein Kind geboren und erklärte dessen Vormunde, daß sie das Kind mit dem Pflichtteilsbetrage nach § 1712 Abs. 2 BGB. abfinden werde. Der Testamentsvollstrecker berechnete darauf die Abfindungssumme auf 21.294,55 M, behandelte diesen Anspruch des Kindes als Nachlaßforderung und berechnete demgemäß den Pflichtteil eines jeden der beiden Kläger auf 5.323.52 M. Die Klägerin meinen, der § 1712 BGB. müsse im vorliegenden Falle ausscheiden, dem Kinde stehe nur ein Unterhaltsanspruch von 360 M jährlich zu. Sie verlangten daraufhin, daß der Pflichtteil für jeden der Kläger auf 10.579 M festgestellt werde. Die Klage wurde in allen Instanzen abgewiesen, vom Reichsgericht aus folgenden Gründen:

Gründe

"Unehelichen Kindern ist gegen ihren Vater ein Erbrecht nicht gewährt, und streng genommen müßte ihr Unterhaltsanspruch wegen seiner familienrechtlichen Natur mit dem Tode des Vaters erlöschen. Um jedoch das uneheliche Kind beim Tode des Vaters nicht leer ausgehen zu lassen, wurde der Ausweg gewählt, die Unterhaltspflicht auf die Erben des Vaters übergehen zu lassen. Damit wurde die Unterhaltspflicht als gewöhnliche Nachlaßverbindlichkeit anerkannt. Die Bedenken, daß bei dieser Regelung die ehelichen Kinder unter Umständen weniger als das uneheliche Kind oder vielleicht gar nichts aus dem väterlichen Nachlaß erhalten würden, wurden hierbei nicht verkannt; die Erwägungen, die dahin gingen, den pflichtteilsberechtigten Erben des unehelichen Vaters jedenfalls den Pflichtteil zukommen zu lassen, wie wenn der Unterhaltsanspruch des unehelichen Kindes nicht bestände, oder doch den Unterhalt des Kindes auf Verlangen des Erben auf denjenigen Betrag zu beschränken. welcher dem Kinde als Pflichtteil zukommen würde, wenn es ehelich wäre, wurden abgelehnt. Hiernach ist nach § 1712 Abs. 1 BGB. die Unterhaltspflicht des unehelichen Vaters auf seine Eiben übergegangen (Motive Bd. 4 S. 902 bis 904).

Dieser unbeschränkt auf dem Nachlasse des unehelichen Vaters lastenden Verbindlichkeit im Sinne des § 1967 BGB. hat aber die Kommission bei der zweiten Lesung in dem zugefügten § 1712 Abs. 2 BGB. das Recht des Erben gegenüberstellt, das uneheliche Kind mit dem Pflichtteilsbetrag abzufinden, der ihm gebühren würde, wenn es ehelich wäre (Prototolle Bd. 4 S. 684). Auch dieses Recht ist gesetzlich an keine Beschränkung gebunden worden. Der Erbe braucht nicht erst darzutun, daß er sonst ungünstiger gestellt sein würde als das uneheliche Kind oder daß das uneheliche Kind mehr als den einem ehelichen Kinde zukommenden Pflichtteil erhalten würde. Das Abfindungsrecht steht frei von jeder Voraussetzung im Ermessen des Erben. Es kommt rechtlich nicht darauf an, ob der zur Abfindung dienende Pflichtteilsbetrag dem Unterhaltsanspruche des unehelichen Kindes gleichwertig, höher oder niedriger ist. Aus dem vom Gesetze gebrauchten Ausdruck "abfinden", auf den die Revision für die Auslegung Gewicht legt, folgt in dieser Hinsicht nichts. Vielmehr hat der Erbe kraft der Unbeschränktheit dieses Rechtes freie Hand, ob er sein und des Nachlasses Interesse vorwiegen lassen oder ob er aus anderen Erwägungen persönlicher und sittlicher Art das uneheliche Kind mit dem Pflichtteilsbetrage reichlicher abfinden will, als es dem Werte des Unterhaltsanspruchs entspricht, so daß insoweit der Nachlaß mit einer höheren Schuld als vordem belastet wird.

Was nun die Ausübung des Abfindungsrechts durch die Beklagte betrifft, so bestreitet die Revision mit Unrecht ihre Befugnis, indem sie meint, diese Befugnis komme nur dem Testamentsvollstrecker zu (§§ 2205, 2206, 2211, 2212 BGB.). Der § 1712 Abs. 2 BGB. spricht das Abfindungsrecht ausdrücklich dem Erben zu. Danach steht die Abfindungserklärung der Beklagten zu, während es Sache des Testamentsvollstreckers ist, das Kind nach Maßgabe dieser Erklärung mit dem Pflichtteilsbetrage tatsächlich abzufinden. Aber selbst wenn man annehmen wollte, daß dem Testamentsvollstrecker die Geltendmachung des Abfindungsrechts zukäme, würde die Rüge der Revision gegenstandslos sein. Denn hier hat der Testamentsvollstrecker die Abfindungserklärung der Beklagten ausdrücklich den Klägern gegenüber als berechtigt aufrecht erhalten, wodurch er sich deren Erklärung selber zu eigen gemacht hat. ...

Weiter vertritt die Revision den Standpunkt, es dürfe durch die Abfindung des unehelichen Kindes mit dem Pflichtteilsbetrage nicht der Pflichtteil der Kläger beeinträchtigt werden. Diese Auffassung ist nicht begründet. Der Unterhaltsanspruch des unehelichen Kindes lastet als reine Nachlaßverbindlichkeit auf dem väterlichen Nachlasse. An dieser Rechtsnatur des Anspruchs wird dadurch nichts geändert, daß das Kind nach § 1712 Abs. 2 BGB. mit dem Pflichtteilsbetrag abgefunden werden soll. Das Kind rückt dadurch keineswegs in die rechtliche Stellung eines Pflichtteilsberechtigten ein, sondern es bleibt Nachlaßgläubiger. Als Nachlaßgläubiger hat aber das Kind auch wegen des ihm zugewendeten Abfindungsbetrags ein stärkeres Recht auf Befriedigung aus dem Nachlaß als die Kläger, die wegen ihres wirklichen Pflichtteils Befriedigung erst aus dem schuldenfreien Nachlasse verlangen können; ebenso sind nach der Gläubiger-Rangordnung des § 226 KO. im Nachlaßkonkurse die im § 228 Abs. 2 Nr. 4 KO. angeführten Verbindlichkeiten gegenüber Pflichtteilsberechtigten erst nach allen übrigen Verbindlichkeiten zu berichtigen. Hiernach können die Kläger der vorgängigen Befriedigung des unehelichen Kindes gemäß der Berechnung des Testamentsvollstreckers nicht widersprechen.

Vergeblich berufen sich die Kläger in dieser Hinsicht auf § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB., wonach ihr Pflichtteil nach Bestand und Wert des Nachlasses zur Zeit des Erbfalls zu berechnen ist, und meinen, hieran könnten die beiden erst später eingetretenen Tatsachen, die Geburt des unehelichen Kindes und die nach § 1712 Abs. 2 BGB. abgegebene Abfindungserklärung nichts ändern. Die Revision übersieht dabei, daß trotz der späteren Geburt des Kindes der Nachlaß des Vaters bereits im Zeitpunkte seines Todes mit dem Unterhaltsanspruche des damals noch ungeborenen Kindes belastet war. Dies folgt zwar nicht aus dem angeführten § 1923 Abs. 2 BGB., der sich bloß auf die Erbfähigkeit eines Ungeborenen erstreckt, also auf die ihrem Vater gegenüber erbrechtslosen unehelichen Kinder überhaupt nicht anwendbar ist. Vielmehr ist die hier entscheidende Bestimmung im § 1712 Abs. 1 Satz 2 enthalten, wonach der Unterhaltsanspruch dem Kinde auch dann zustehen soll, wenn der Vater vor der Geburt des Kindes gestorben ist. Mit der Geburt des Kindes ist sein Unterhaltsanspruch zur unbedingten Nachlaßverbindlichkeit geworden. Dieser veränderten Rechtslage entsprechend war daher nach § 2313 Abs. 1 Satz 3 BGB. der festgestellte Nachlaßwert auszugleichen und demgemäß auch nach § 2311 Abs. 1 BGB. der Pflichtteil der Kläger entsprechend zu berechnen.

Was sodann die Abfindungserklärung nach § 1712 Abs. 2 BGB. betrifft, so hat diese nicht, wie die Revision meint, erst eine selbständige Nachlaßverbindlichkeit begründet, die, weil sie erst nach dem Erbfall entstanden sei, bei der Berechnung des Pflichtteils der Kläger nach § 2311 Abs. 1 BGB. auszuscheiden sei. Denn der Unterhaltsanspruch des Kindes, der zur Zeit des Erbfalls bereits an sich bestand, war bloß hinsichtlich der Höhe seines Betrags und der Zahlungsweise davon abhängig, wie die Beklagte ihr Wahlrecht nach § 1712 Ws. 2 BGB. ausüben und sich entscheiden werde, ob das Kind nach § 1708 BGB: unterhalten oder nach § 1712 Abs. 2 BGB. mit dem Pflichtteilsbetrag abgefunden werden soll. Nachdem die Beklagte sich dann für die Abfindung des Kindes erklärt hatte, wurde der Unterhaltsanspruch des Kindes auch insoweit ein unbedingter, als nunmehr der zu seiner Abfindung dienende Pflichtteilsbetrag entsprechend dieser Rechtslage ebenfalls nach § 2313 Abs. 1 Satz 3 BGB. bei der Feststellung des Nachlaßwerts zur Ausgleichung zu bringen, also auch nach § 2311 Abs. 1 Satz 1 BGB. bei der Berechnung des Pflichtteils der Kläger zu berücksichtigen ist.

Die Revision war somit als unbegründet zurückzuweisen."