RG, 15.04.1889 - VI 41/89
Kommen bei einem Anspruche auf wiederkehrende Leistungen für die Berechnung der Revisionssumme die nach der Klagezustellung fällig gewordenen Leistungen als Rückstände – im Sinne des Beschlusses der vereinigten Civilsenate vom 28. September 1887 – in Betracht?
Tatbestand
Durch das angefochtene Urteil wurde, der primären Klagebitte nahezu entsprechend, Beklagte für schuldig erklärt, an die Klägerin vom 4. Oktober 1686 (d. i. dem Tage der Klagezustellung) ab für die Lebenszeit des am 9. April 1886 verunglückten Arbeiters W. S. in H. eine wöchentliche Rente von 2,30 M zu zahlen. Mit der Mehrforderung (von 20 Pf. für die Woche) ist Klägerin abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat Beklagte Revision verfolgt, mit dem Antrage, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen. Revisionsbeklagte beantragte primär die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Aus den Gründen
"Die Berechnung des Wertes des Beschwerdegegenstandes bemißt sich nach §. 508 Abs. 2 C.P.O. und, da es sich hier um ein Vermögensrecht auf wiederkehrende Leistungen handelt, nach §. 9 C.P.O. Der künftige Wegfall jenes auf die Lebensdauer des W. S. gestellten Bezugrechtes ist gewiß, die Zeit solchen Wegfalles dagegen ungewiß; mithin berechnet sich der Wert des Beschwerdegegenstandes auf den zwölfundeinhalbfachen Betrag des einjährigen Bezuges. Hiernach überschreitet der Wert des Beschwerdegegenstandes die Summe von 1500 M nicht, es ist daher die Revisionssumme nicht vorhanden.
Zwar sucht Revisionsklägerin geltend zu machen, daß im Sinne des §. 508 C.P.O. die §§. 3–9 das. nur entsprechend zur Anwendung kommen, daß daher, was nach den letzterwähnten Paragraphen für die Klage und für die Zeit der Klagezustellung gelte, nach §. 508 für die Zeit der Revisionseinlegung zu gelten habe. Für diesen Zeitpunkt aber seien die der Klägerin zuerkannten Wochenrenten bis zum Tage der Revisionseinlegung als Rückstände zu erachten, welche nach dem Plenarbeschlusse des Reichsgerichtes vom 28. September 18871 dem Werte des Rechtes hinzuzurechnen seien.
Dieser Ausführung war die Berechtigung zu versagen. Es kann der Revisionsklägerin zugegeben werden, daß, wie durch die Rechtsprechung des Reichsgerichtes anerkannt, der Beschwerdegegenstand sich nicht immer mit dem Streitgegenstande deckt, daß daher der Wert des Beschwerdegegenstandes mit dem Werte des Streitgegenstandes nicht in allen Fällen identisch ist. Es ist auch die Annahme nicht geboten, daß der Beschwerdegegenstand den Wert des ursprünglichen Streitgegenstandes nicht übersteigen könne. Ebenso hat das Reichsgericht schon mehrfach dahin sich ausgesprochen, daß die Vorschriften der §§. 3 flg. C.P.O. für die Berechnung der Revisionssumme nach der Tendenz des §. 508 nur "entsprechend" oder "sinngemäß" zur Anwendung zu kommen haben. Es mag hiernach dahingestellt bleiben, ob der Beschwerdegegenstand höchstens den Betrag des vom Berufungsurteile betroffenen Gegenstandes erreichen könne, wie in der Zeitschrift von Rassow und Künzel (Bd. 26 S. 174) ausgeführt, oder ob, wie im Urteile des V. Civilsenates des Reichsgerichtes vom 22. Juni 1887 (abgedruckt in Seuffert, Archiv Bd. 42 S. 476) angenommen, für die Wertsberechnung des Beschwerdegegenstandes jede Erhöhung oder Verminderung des Wertes des Streitgegenstandes während des Laufes des Prozesses außer Betracht zu bleiben habe.2
Daß eine Veränderung des Streitgegenstandes selbst, welche während der Dauer des Rechtsstreites eingetreten, für die Frage des Vorhandenseins der Revisionssumme von Belang werden kann, unterliegt kaum einem Bedenken. Dies vorausgeschickt, fragt es sich zunächst, ob Revisionsklägerin für ihre Ansicht auf den Beschluß der vereinigten Civilsenate vom 28. September 1887 sich berufen könne. Faßt man die Gründe dieses Beschlusses ins Auge, so scheint jene Frage sofort verneint werden zu müssen. Denn in den erwähnten Gründen ist ausgesprochen, daß der §. 9 C.P.O. nur die bei der Klagerhebung noch nicht fälligen Bezüge im Auge habe, daß die Gründe der Vorschriften des §. 9 nicht zutreffen für die Wertsbestimmung der zur Klage gestellten Bezüge, welche bei Erhebung derselben bereits verfallen waren; und daß das Gesetz mit sich selbst in Widerspruch geraten würde, hätte es mit der angeordneten Kapitalisierung zugleich die streitigen Bezüge aus der Zeit vor Erhebung der Klage mit abgelten wollen. Und die Entscheidung der vereinigten Civilsenate gipfelt in den Schlußsätzen, daß der §. 9 eine Vorschrift über die Wertsbestimmung, der miteingeklagten Rückstände überhaupt nicht enthalte, diese vielmehr nach der allgemeinen Regel zu erfolgen habe, wonach der Anspruch auf die Rückstände neben dem Anspruche auf die künftigen Bezüge im Sinne des Tit. I der Civilprozeßordnung als ein besonderer Anspruch angesehen werden müsse, eine Zusammenrechnung beider also nach §. 5 daselbst geboten sei. Berücksichtigt man, daß es sich damals um eine für das Vorhandensein der Revisionssumme präjudizielle Frage handelte, und daß es daher nahe lag, eine Untersuchung darüber anzustellen, ob nicht auch die von der Klagezustellung bis zur Revisionseinlegung erwachsenen Bezüge als Rückstände und mithin für die Wertberechnung selbständig in Betracht zu kommen hätten, so ließe sich aus dem Fehlen irgend welcher Ausführungen über diesen Punkt die Folgerung ziehen, daß die ebengestellte Frage selbstverständlich als verneint zu gelten hätte.
Gleichwohl kann gegen diese Folgerung das Bedenken erhoben werden, daß die jetzt vorliegende Frage der Entscheidung der vereinigten Senate nicht vorlag, daß daher letztere keine Veranlassung hatten, diese Frage ihrer Beschlußfassung zu unterziehen, und daß aus dem Schweigen der Gründe jene Folgerung nicht gezogen werden dürfe.
Will man deshalb die Frage selbständig dahin stellen, ob eine sinngemäße Anwendung des §. 9 in Verbindung mit dem Beschlusse der vereinigten Civilsenate dazu führen könne, die nach der Klagezustellung verfallenden Bezüge bis zu einem gewissen Zeitpunkte, welcher jedenfalls mit der Revisionseinlegung seine Grenze zu finden hätte, als Rückstände im Sinne des Plenarbeschlusses in Betracht zu ziehen, so ist auch diese Frage zu verneinen. Zunächst kann gegen deren Bejahung schon der juristische Sprachgebrauch ins Feld geführt werden, insofern unter rückständigen Leistungen in prozessualem Sinne nur die vor der Klagezustellung fällig gewordenen und als rückständig eingeklagten verstanden zu werden pflegen. Sodann ist aber auch der Gesichtspunkt, welcher für die Bestimmungen des §. 9 maßgebend war, ins Auge zu fassen. Dieser §. 9 enthält eine Ausnahme von der Regel des §. 3 und hat, wie im mehrerwähnten Plenarbeschlusse hervorgehoben ist, den Zweck, bei Rechten von unbestimmter Dauer für die Wertschätzung einen festen Maßstab zu geben, welcher sich aus der Natur der Sache nicht von selbst darbietet und bei freiem richterlichen Ermessen sich ungleichmäßig gestalten könnte. Schon hieraus darf die Folgerung gezogen werden, daß dieser feste Maßstab nicht durch die Dauer des Prozesses allein seine Grundlagen ändern könne, und daß der Streitgegenstand selbst nicht wegen Zeitablaufes ein anderer werde. Soweit das Bezugsrecht auf die künftigen, d. i. die nach der Klagerhebung fällig werdenden Leistungen den Klagegegenstand bildet und die Höhe der Bezüge selbst nicht eine Aenderung erleidet, giebt der §.9 nach Wortlaut, Sinn und Zweckbestimmung den Maßstab der Wertsberechnung für die ganze Dauer des Rechtsstreites. Es würde dem §. 9 widersprechen, wollte man je nach dem Fortschreiten des Prozesses die thatsächlich nach der Klagezustellung fällig werdenden Bezüge aus dem Gesamtstreitgegenstand, wie er nach §. 9 für die Wertberechnung sich darstellt, aussondern und prozeßrechtlich zu Rückständen stempeln, welche, während die Berechnung des Streitgegenstandes für die jeweilig künftigen Bezüge sich gleich bliebe, nach §. 5 C.P.O. diesem Werte selbständig hinzuzurechnen wären. Hiermit würde, obgleich der Gegenstand der Aburteilung: Leistung des Bezuges vom Tage der Klagezustellung, keine Veränderung erlitte, der Wert des Streitgegenstandes mit jedem Fälligkeitstermine sich ändern, also periodisch wachsen, und der feste Maßstab, welchen §. 9 an die Hand giebt, auf stets wechselnde Grundlagen gestellt sein. Es würde endlich der ursprüngliche im Sinne des §. 9 einheitliche Klaganspruch in eine Mehrheit von Klagansprüchen auf künstlichem Wege zerlegt werden. Das kann nicht das Ergebnis einer sinnentsprechenden Anwendung des §. 9 C.P.O. sein und kann aus dem Plenarbeschlusse vom 28. September 1887 niemals gefolgert werden. Es bleibt nur noch zu untersuchen, ob nicht die Rechtsprechung des Reichsgerichtes insofern zu einem anderen Ergebnisse – oder zu einer Verweisung der Rechtsfrage vor die vereinigten Civilsenate – führen müßte, als bei Einklagung von Lagerkosten, Futtergeld u. a. für die Bemessung des Wertes des Beschwerdegegenstandes die seit der Klagezustellung erwachsenen Beträge in Betracht gezogen werden dürfen. Allein die prinzipielle Verschiedenheit dieser Fälle von dem vorliegenden Falle springt in die Augen, sodaß von der Entscheidung derselben die Beurteilung des letzteren in keiner Weise beeinflußt sein kann. Handelt es sich um Ansprüche auf Erstattung fortlaufender Auslagen für Kurkosten, Futtergeld, Lagergebühren u. dgl., so ergiebt sich für deren Berechnung zur Zeit der Erhebung der Klage überhaupt kein sicherer Maßstab, und es unterliegen dieselben der Festsetzung nach freiem richterlichen Ermessen im Sinne des §. 3 C.P.O. Es wäre ja denkbar, daß der Gesetzgeber auch wegen solcher Ansprüche besondere Normen für die Wertsberechnung aufgestellt hätte. Aber da er es nicht gethan, so hat lediglich der §. 3 in Anwendung zu kommen. Nun kann nicht geleugnet werden, daß solche Aufwendungen während des Laufes des Prozesses meistens wachsen, sodaß hier gesagt werden mag, der Streitgegenstand selbst erleide durch die Dauer des Prozesses eine fortwährende Veränderung; auch kann derjenige Betrag, bezüglich dessen in solchen Fällen Aburteilung erfolgt, zur Zeit des Erlasses des Berufungsurteiles oder der Einlegung der Revision durch einfache arithmetische Berechnung gefunden werden, so daß es sich in Ermangelung besonderer gesetzlicher Regelung rechtfertigen mag, den Beschwerdegegenstand nach solchem späteren Zeitpunkte zu berechnen. Durch diese Erwägungen wird aber die vorliegende Frage nicht berührt, denn indem der Gesetzgeber durch die Spezialbestimmungen des §. 9 a. a. O. die Normen für die Bewertung des Streitgegenstandes hinsichtlich der künftigen Bezüge genau fixiert hat, und diese Normen, wie gezeigt, für die ganze Dauer des Prozesses nur eine einheitliche Anwendung zulassen, so ergiebt sich ein Widerspruch mit der Entscheidung jener völlig anders gelegenen Falle in keiner Weise.
Zur Unterstützung der hier gegebenen Ausführungen endlich bedarf es kaum des Hinweises darauf, daß auch in Fällen der zweiten Alternative des §. 9 die rechtliche Beurteilung zu demselben Ergebnisse führen müßte.
Es war daher in Ermangelung der Revisionssumme das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen."