RG, 08.12.1884 - IV 227/84
Tatbestand
Die evangelische Kirchengemeinde von St. V.-A. zu M. (Provinz Sachsen) verlangt von dem Beklagten, als dem Patrone der Kirche, einen Beitrag zu den auf Bau und Reparatur der Kirche verwendeten Kosten. Der Beklagte hatte sich auf Befreiung durch Observanz berufen, der Berufungsrichter aber die Möglichkeit der Bildung einer Observanz verneint, weil die behauptete Übung in Befolgung eines vermeintlich bestehenden Gesetzes erfolgt war.
Die von dem verurteilten Beklagten eingelegte Revision wurde zurückgewiesen, und zwar aus folgenden Gründen:
Gründe
"Der Berufungsrichter geht davon aus, daß - nach Einführung des Allgemeinen Landrechtes in den ehemals sächsischen Landesteilen - allgemein die Ansicht bestanden hat, daß das sächsische Provinzialrecht eine Patronatsbaupflicht nicht anerkenne, und daß diese provinzialrechtliche Befreiung des Patrones von der Kirchenbaulast auch nach Einführung des Allgemeinen Landrechtes fortdauerte, sowie daß diese Ansicht erst in den fünfziger Jahren aufgegeben ist und der Rechtsauffassung Platz gemacht hat, daß das sächsische Provinzialrecht die Befreiung des Patrones von der Kirchenbaulast nicht sanktioniere, und daß daher für die Patronatspflicht auch in dieser Beziehung das Allgemeine Landrecht maßgebend sei. Das alles sind Erwägungen, welche nach §. 525 C.P.O. der Revision sich entziehen, aber auch - an sich - richtig sind.
Der beklagte Fiskus, als Patron der klagenden Kirche, behauptet nun eine Befreiung von der - landrechtlich - ihm obliegenden Baupflicht durch Observanz. Daß eine solche überhaupt und insbesondere auch zwischen der Kirchengemeinde und dem Patrone - als in der korporativen Gemeinschaft stehend - sich bilden kann, das ist nicht zu bezweifeln. Allein der Berufungsrichter erachtet die Möglichkeit der Bildung einer Observanz - prinzipiell - für ausgeschlossen, weil - wie er feststellt - der Handlungsweise, durch welche die Observanz sich gebildet haben soll, die Meinung der Übenden zum Grunde gelegen hat, daß die Patronatspflicht des Beklagten nach dem, die Befreiung des Patrones von der Kirchenbaulast sanktionierenden sächsischen Provinzialrechte zu bestimmen sei - eine Ansicht, die sich später als irrtümlich herausgestellt habe - und weil daher die "beiderseitigen Handlungen und Unterlassungen sich lediglich als - wirkliche oder vermeintliche - Anwendung des Gesetzes, nicht als Übung eines Gewohnheitsrechtes darstellten." Soweit diese Auffassung eine Folgerung aus Thatsachen ist, entzieht sie sich der revisionsrichterlichen Kritik, soweit sie aber rechtlicher Natur ist, erscheint sie begründet.
Die Observanz, als lokales und korporatives Gewohnheitsrecht und als Quelle des objektiven Rechtes, verlangt - wenn sonst die tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen - zu ihrer Bildung die fortdauernde und gleichmäßige Übung einer bestimmten Rechtsnorm innerhalb einer korporativen Gemeinschaft. Wie das objektive geschriebene Recht auf den urkundlichen Willen des Gesetzgebers zurückgeführt wird, so ist der innere Grund für die Entstehung des Gewohnheitsrechtes die Überzeugung der Übenden, daß das, was sie üben und gleichmäßig befolgen, für das gegebene Verhältnis das, aus den zwingenden Umständen geschöpfte - notwendige - Recht ist. Die gleichmäßige Übung, consuetudu, usus, stellt sich daher nur als die Thätigkeit dar, durch welche jene innere Überzeugung in die äußere Erscheinung tritt, der Satz, als Rechtssatz, erkennbar gemacht und verkörpert wird. Fehlt jene Überzeugung, so können die äußerlich vorgenommenen Handlungen für sich allein nicht zu einem Gewohnheitsrechte führen, und das muß auch der Fall sein, wenn die Übenden bei der Übung von einer unrichtigen, auf Irrtum beruhenden thatsächlichen Voraussetzung ausgegangen sind, die Meinung, daß das Geübte eine zwingende Folge gegebener Verhältnisse und daher Recht sei, auf einem faktischen Irrtume, beruht, sodaß die Annahme berechtigt ist, daß wenn die Übenden ihren Irrtum erkannt, sie die Übung des vermeintlichen Rechtes nicht so - wie sie gethan - vorgenommen hätten. Es findet auf diesen Fall recht eigentlich die Rechtsregel der I. 39 Dig. de legibus 1, 3 Die Gesetzesstelle lautet:
"Quod non ratione introductum, sed errore primm, deinde consuetudine obtendum est, in aliis similibus non obtindet."1
Jener, bei allen beteiligten und interessierten Personen über die provinzialrechtliche Befreiung des Patrones von der Kirchenbaupflicht und über die Fortdauer dieser Befreiung nach Einführung des Allgemeinen Landrechtes obwaltende Irrtum ist daher - vorliegend - die alleinige Veranlassung und der einzige Beweggrund für die bis zum Jahre 1856 erfolgte Übung gewesen, sodaß sich die letztere - wie der Berufungsrichter zutreffend annimmt - nicht als die Übung eines Gewohnheitsrechtes, sondern als die Befolgung eines irrtümlich als bestehend angenommenen Gesetzes darstellt. Es kann möglich sein, und es ist nicht ausgeschlossen, daß ein, beim Beginne der Übung bestehender faktischer Irrtum in seiner Wirkung abgeschwächt und selbst beseitigt werden kann durch eine langjährige, Generationen umfassende Übung, allein zu einer solchen Annahme ist der vorliegende Fall ganz ungeeignet, da sich die Übungsfälle auf wenige Bauten und auf wenige Jahre beschränken. Ein Rechtsirrtum kann daher dem Berufungsrichter nicht vorgeworfen werden, da - nach beseitigtem Irrtume - nur ein einziger Baufall vorgekommen ist." ...
- 1. Vgl. über die streitige Frage: v. Savigny, System Bd. 1 S. 178; Puchta, Gewohnheitsrecht S. 99. 100; Windscheid, Lehrb. der Pandekten Bd. 1 S. 16; Zitelmann, Gewohnheitsrecht und Irrtum, im Archiv f. civil. Praxis Bd. 66. S. 323 und die dort eingehend mitgeteilte Litteratur; Entsch. des Obertrib. Bd. 35 S. 143; Entsch. des R.G.s in Civils. Bd. 8 S. 212. D. E. Anwendung.