RG, 09.12.1918 - VI 229/18
1. Tatsächliche Vermutung im Schadensersatzprozeß.
2. Beweislage in dem Entschädigungsstreit des Fußgängers, der auf der Straße durch einen von einem Bau herabfallenden Gegenstand verletzt wurde, wenn der Bau mit dem polizeilich vorgeschriebenen Schutzdach versehen war.
Tatbestand
Der Kläger ist am 30. Juni 1915 zu Magdeburg auf dem Breiteweg durch einen Stein, der von einem von den Beklagten aufgeführten Neubau herabfiel, am Kopfe verletzt worden. Das Landgericht hat seiner Schadensersatzklage stattgegeben, das Oberlandesgericht hat sie abgewiesen. Die Revision hatte Erfolg.
Gründe
"Das Berufungsgericht führt aus, daß das an dem Neubau angebrachte Schutzdach die durch die Baupolizeiordnung vorgeschriebene Breite von 2 m hatte. Zwei Tage nach dem Unfalle habe allerdings auf einer Strecke von 4,50 m, d. i. im Drittel der Straßenfrontlänge von den drei Brettern des Daches das obere 30 cm breite Brett gefehlt, und es möge sein, daß hier die Breite des Schutzdachs nicht mehr volle 2 m, betragen habe. Der Kläger, der dafür beweispflichtig sei, daß die Beklagten das Schutzgesetz übertreten haben und daß der Verstoß ursächlich für seinen Schaden gewesen sei, habe weder bewiesen, daß das Brett schon am Tage des Unfalls gefehlt habe, noch auch, daß der Stein, der ihn getroffen, gerade an dieser Stelle über das Schutzdach gefallen und daß hieran dessen ungenügende Breite schuld gewesen sei.
Der Revision war, soweit sie diese Erwägungen wegen Verletzung des § 286 ZPO. angreift, stattzugeben. Die Schutzgerüste an Neu- oder Umbauten, insbesondere die Schutzdächer sind bestimmt, die vor dem Bau beschäftigten Arbeiter sowie die auf der Straße Vorübergehenden vor herabfallenden Gegenständen, Steinen, Geräten, Werkzeugen u. dgl. zu schützen. Die polizeilichen Vorschriften, die zur Erreichung dieses Zweckes über die Einrichtungen und Maße der Schutzgerüste, namentlich in großen Städten, erlassen sind, beruhen auf langjähriger vielfältiger Beobachtung, Erfahrung und Berechnung und gewährleisten in der Tat die Sicherung des Publikums in solchem Grade, daß es, obwohl der Straßenverkehr auf die Bauausführungen und ihre Gefahren nicht die mindeste Rücksicht zu nehmen pflegt, zu den größten Seltenheiten gehört, daß jemand auf der Straße durch einen Gegenstand verletzt wird, der von einem mit vorschriftsmäßiger Schutzrüstung versehenen Bau herabfällt. Diese Tatsache gewinnt an Bedeutung, wenn man bedenkt, welch große Zahl von Neu- oder Umbauten vielfach gerade an den belebtesten Geschäftsstraßen einer großen Stadt ausgeführt werden und welche Menschenmenge an ihnen vorüberflutet. Aus solcher Erfahrung ergibt sich eine sehr gewichtige tatsächliche Vermutung dafür, daß, wenn ein Vorübergehender von einem herabfallenden Gegenstände getroffen wird, die Schutzrüstung nicht in Ordnung war. Diese Vermutung hat der Bauausführende zu entkräften. Beweist der Verletzte, daß er von einem herabfallenden Gegenstande getroffen wurde, so wird zunächst anzunehmen sein, daß das Schutzgerüst nicht sachgemäß war und daß die Ordnungswidrigkeit den Schaden verursacht hat. Dem Ersatzpflichtigen bleibt es dann überlassen darzutun, was für ihn regelmäßig keine Schwierigkeit bietet, daß das Schutzgerüst vorschriftsmäßig oder daß der Mangel nicht ursächlich für die Verletzung war.
Das Berufungsurteil, das bei der Würdigung des Verhandlungsergebnisses jene Erfahrungstatsache mit keinem Worte berücksichtigt hat, mußte hiernach aufgehoben werden." ...