RG, 19.12.1883 - I 412/83
1. Rechtsstellung des überlebenden Ehegatten, welchem der verstorbene den Nießbrauch und die Verwaltung des Nachlasses, in welchen die Kinder als Erben eingesetzt sind, hinterlassen hat, in bezug auf die von dem Erblasser eingegangenen obligatorischen Verträge.
2. Fortsetzung eines von dem Erblasser eingegangenen Pachtvertrages durch den Nießbraucher in eigenem Namen ohne Einfluß auf die auf dem Nachlasse ruhenden, mit den Mitteln der Pachtung zu erfüllenden Verpflichtungen.
Tatbestand
Der Amtsrat F. zu K. hatte mit der Revisionsbeklagten einen Rübenlieferungsvertrag für die Jahre 1880 bis 1891, und wenn der Gesellschaftsvertrag der Beklagten prolongiert werden sollte, bis 1897 inklusive abgeschlossen. Er sollte danach auf der von ihm erpachtenen Königlichen Domäne K. jährlich 180 bis 200 Morgen Zuckerrüben bauen, die gebauten Rüben an die Beklagte abliefern und dafür einen im Vertrage festgestellten Preis von 1 bis 1,10 M für den Centner erhalten.
Der Pachtvertrag über die Domäne K. lief Johannis 1880 ab; der Amtsrat F. hat dieselbe für die Zeit von Johannis 1880 bis Johannis 1898 von neuem erpachtet. Diese Neuerpachtung war nach der Abrede der Kontrahenten Bedingung für die Gültigkeit des Rübenlieferungsvertrages. Im Jahre 1881 ist der Amtsrat F. mit Hinterlassung einer Witwe und von acht Söhnen verstorben. In dem von den Klägern als maßgebend anerkannten gemeinschaftlichen Testamente der beiden Amtsrat F.'schen Eheleute aus dem Jahre 1870 haben die Eheleute ein jedes die damals vorhandenen zehn Söhne mit der Maßgabe zu Erben eingesetzt, daß sich dieselben nach dem Tode des Erblassers das dann vorhandene Vermögen gleichmäßig teilen sollen. Es ist dann weiter bestimmt: Nach dem Tode des zuerst verstorbenen Ehegatten soll der überlebende Gatte das ganze alsdann vorhandene gemeinschaftliche Vermögen bis zu seinem dereinstigen Ableben nutzen und verwalten und nicht gehalten sein, den Erben ihr Erbteil herauszugeben oder ihnen dieserhalb Sicherheit zu bestellen. Durch dieses Nutzungsrecht an dem gemeinschaftlichen Vermögen soll der überlebende Ehegatte wegen seines gesetzlichen Pflichtteiles abgefunden sein.
Nach dem zwischen dem Erblasser und der Königlichen preußischen Regierung abgeschlossenen Pachtvertrage haben, wenn der Pächter im Laufe der Pachtperiode stirbt, die Erben des Pächters kein Kündigungsrecht; sie können das Kündigungsrecht des Verpächters dadurch ausschließen, daß die mehreren Miteiben
- einen Miterben präsentieren, welcher die Pachtung allein übernimmt und fortsetzt,
- die Pachtung an eine andere qualifizierte Person abtreten, sodaß in beiden Fällen der Übernehmer der Pacht alle Rechte und Pflichten des verstorbenen Pächters aus dem Pachtverträge dem Verpächter gegenüber so übernimmt, als ob der Pachtvertrag mit ihm allein abgeschlossen wäre. Die verwitwete Frau Amtsrat F. ist auf ihren Antrag mittels Pachtvertrages vom 10. August 1881 in den Pachtvertrag als alleinige Pächterin eingetreten, ihre Söhne haben "zum mindesten dieser Pachtübernahme durch die Mutter nicht widersprochen", einer derselben ist als landwirtschaftlicher Administrator für die Pachtung bestellt.
Die verwitwete Frau Amtsrat F. und ihre acht Söhne glauben, daß sie an den Rübenlieferungsvertrag ihres Erblassers nicht gebunden seien; die Witwe um deswillen nicht, weil sie, obschon Nießbraucherin des ehemännlichen Nachlasses, doch nicht Erbin sei, die Pachtung auch für ihre Person übertragen erhalten habe, - die Söhne um deswillen nicht, weil es nach dem Pachtvertrage nicht gestattet gewesen sei, daß sie zusammen die Pachtung übernehmen, weil ferner kein einziger von ihnen das zur Übernahme der Pachtung verfügbare freie Vermögen gehabt habe; sie seien also ohne ihre Schuld außer stand gesetzt, den Rübenlieferungsvertrag zu erfüllen, welcher eben nur von dem Pächter der Domäne K. erfüllt werden könne.
Die Witwe und die acht Söhne haben deshalb im Dezember 1882 bei dem Landgericht Torgau Klage dahin erhoben,
daß die Kläger an den von dem Königlichen Amtsrat F. mit der Beklagten abgeschlossenen Rübenlieferungsvertrag nicht gebunden, Beklagte auch nicht befugt sei, von den Klägern die Erfüllung dieses Vertrages zu fordern oder für den Fall der Nichterfüllung desselben Konventionalstrafen von den Klägern zu verlangen.
Diese Klage ist in den Vorinstanzen abgewiesen, die dagegen eingelegte Revision zurückgewiesen aus folgenden Gründen:
Gründe
"Das Berufungsurteil nimmt an, die mitklagende Witwe sei Miterbin. Als solche setze sie die Pachtung für sich und ihre Miterben, die mitklagenden Söhne des Erblassers, fort. Dafür spreche namentlich der Umstand, daß der Witwe der unbeschränkte Nießbrauch und die alleinige Verwaltung des gesamten Nachlasses neben ihrem eigenen Vermögensanteil hinterlassen wurde, daß das Erbrecht der Kinder thatsächlich erst nach dem Tode der Witwe zur Ausführung kommen solle, und daß keiner der Söhne der Ausführung des Testamentes in diesem Sinne oder der Übernahme der Pachtung durch die Mutter widersprochen habe. Obschon in dem Nachtragsvertrage nur der Witwe Erwähnung geschehe, sei die letztere doch nicht in ihrem ausschließlichen, sondern in dem Interesse der Familie aufgetreten, sie habe kraft ihres Nießbrauchs- und Verwaltungsrechtes so nur auftreten können und auftreten müssen, wenn sie der Familie die Pachtung erhalten wollte. Kläger seien danach auch gehalten, den Rübenlieferungsvertrag zu erfüllen.
Revisionskläger erachten zunächst die Annahme für rechtsirrtümlich, daß die Witwe F., welcher doch nur der Nießbrauch am Vermögen ihres Ehemannes hinterlassen worden, dessen Erbin geworden sei. Nun haben allerdings hervorragende Schriftsteller des preußischen Privatrechtes gelehrt, daß auch der auf den Nießbrauch der Hinterlassenschaft Eingesetzte als wahrer Erbe anzuerkennen sei.1
Wäre dieser Ansicht zu folgen, so würde der Umstand, daß die Witwe im vorliegenden Falle nicht ausdrücklich als Erbin eingesetzt worden ist, der Anerkennung ihrer Erbeneigenschaft nicht im Wege stehen. Denn die Erbeseinsetzung bedarf nicht gewisser Worte oder Formeln. Jene Ansicht ist aber keineswegs allgemein anerkannt. In Übereinstimmung mit der in der heutigen Theorie des römischen Rechtes herrschenden Lehre läßt Dernburg's (Preuß. Privatrecht Bd. 3 §. 138 Note 3) den Nießbraucher am ganzen Nachlaß nur als Vermächtnisnehmer gelten; und die preußische Praxis hat wiederum in Übereinstimmung mit Ansichten, wie sie für das gemeine Recht vorgetragen worden sind, zum Teil unter ausdrücklicher Anlehnung an solche, einen anderen Weg eingeschlagen, um in einzelnen Fällen die Erbenqualität zu retten. Namentlich wenn dem anderen Ehegatten der Nießbrauch der gesamten Hinterlassenschaft in einem gemeinschaftlichen Testamente der Eheleute mit der Maßgabe hinterlassen worden ist, daß die Kinder erst nach dem Tode des Letztlebenden eintreten, ist solche Verfügung mehrfach in eine Einsetzung des überlebenden Ehegatten als Substanzerben mit der Verpflichtung, den Nachlaß an die eingesetzten Kinder herauszugeben, umgedeutet, der Überlebende als Fiduziarerbe angesehen worden.2
Es kann indessen davon abgesehen werden, diese Frage hier zu entscheiden. Denn, auch wenn den Revisionsklägern zuzugeben wäre, daß die Witwe als Nießbraucherin des gesamten Nachlasses ihres Ehemannes nicht dessen Erbin sei, so würde das doch die Folge nicht rechtfertigen, daß sie nun berechtigt sei, über ein sehr bedeutendes Aktivum des Nachlasses in einer von den seitens ihres Ehemannes eingegangenen Verpflichtungen gänzlich abweichenden Richtung zu verfügen. Denn der Grundgedanke des Berufungsurteiles ist durchaus richtig, daß die Witwe den Nießbrauch, wenn schon zu eigenem Recht doch zugleich im Interesse der beiderseitigen Kinder erhalten hat, für welche sie die ihr übertragene Verwaltung des Nachlasses zu führen hat. Dies Verhältnis darf man nicht so zerreißen, daß die Kinder mit der nuda proprietas als die ausschließlichen Repräsentanten des Erblassers ausgegeben werden, während der Witwe als Sonderrechtsnachfolgerin des Ehemannes das Recht eingeräumt wurde, mit den Aktiven, solange sie lebt, nach ihrem Gefallen zu wirtschaften. Das würde das Lebensverhältnis, wie es sich hier und in tausenden gleich liegenden Fällen, gestalten soll, geradezu auf den Kopf stellen. Die Testatoren gehen in solchen Fällen davon aus, daß, solange einer von beiden Ehegatten lebt, nichts zerrissen und nichts geteilt werden soll, weil nur, wenn das beiderseitige Vermögen oder doch das Vermögen des Erblassers zusammenbleibt, eine gedeihliche Fortführung der Wirtschaft in der Weise, wie sie bei dem Leben der beiden Eheleute geführt worden ist, erzielt und auf diesem Wege das Wohl auch der Kinder am besten erreicht werden kann. Hat sich der Ehemann auf eine längere Reihe von Jahren durch eine Domänenpachtung gebunden, so kann diese Pachtung in einer für die Familie nutzbringenden Weise doch nur bewirtschaftet werden, wenn das bedeutende Betriebskapital in der Pachtung bis zu ihrem Ablauf verbleibt. Hat der Erblasser zugleich Verträge abgeschlossen, welche die Verwertung der Produkte oder die Bewirtschaftung der Pachtung bezwecken, so würde es den Absichten aller Teile geradezu widersprechen, wenn das Mittel, welches gewählt ist, um die Fortführung der Wirtschaft in der bisherigen Weise zu sichern, dazu dienen, sollte, die Kontinuität der Bewirtschaftung zu zerreißen; wenn nur die Nießbraucherin eine ganz neue Wirtschaft anfangen, alle Verträge ihres Ehemannes auf sich beruhen lassen, das Aktivum aus dem Zusammenhang mit den von dem Erblasser eingegangenen Verpflichtungen herausnehmen, die Gläubiger an die Kinder verweisen dürfte, welche die Verpflichtungen allein geerbt hätten, ohne daß ihnen die Mittel gelassen werden, die Verpflichtungen zu erfüllen. Die Kinder sind ja durch jene Zuwendung an die Witwe in ihrer Verfügungsbefugnis nur gebunden, damit die Fortführung und Abwickelung der Geschäfte ungestört vor sich gehen kann. Die Witwe muß also auch gebunden sein, die Gesamtheit des Vermögens in diesem Sinne zu verwalten. Sie hat nicht das Recht ohne die Pflicht; sie kann nicht ihr persönliches Interesse den auf dem Vermögen liegenden Verpflichtungen gegenüberstellen; vielmehr versteht sich ihr Nießbrauch ganz selbstverständlich dahin, daß derselbe an dem Vermögen, so wie es hinterlassen ist, an den Aktiven gebunden durch die Passiven, auszuüben ist, sie repräsentiert zusammen mit den Kindern den Erblasser.
Wenn in Familienverhältnissen kraft des Gesetzes ein Nießbrauch erwächst, dem Ehemann an dem eingebrachten Vermögen der Ehefrau, dem Vater an dem von seinen Hauskindern ererbten Gute, so darf dieser Nießbrauch nicht in dem Sinne eines neu und originär erwachsenen Rechtes dahin mißbraucht werden, daß der Ehemann oder der Vater die vor der Entstehung seines Rechtes bezüglich jenes Vermögens begründeten Verbindlichkeiten einfach ablehnt; er tritt nicht in die Verwaltung wie ein Fideikommißfolger oder ein durch die Verfügungen seines Vorgängers nicht gebundener Lehnsagnat ein; vielmehr hat der Ehemann die vorehelichen Schulden seiner Ehefrau aus deren eingebrachtem Vermögen zu zahlen, der Hausvater die etwa von dem Erblasser seines Haussohnes in Beziehung auf das von diesem ererbte Vermögen eingegangenen Verbindlichkeiten aus diesem und mit diesem zu erfüllen.
Nicht anders steht die mitklagende Ehefrau zu der Hinterlassenschaft ihres Ehemannes. Es ist auch in der Praxis sowohl des preußischen wie des gemeinen Rechtes längst anerkannt, daß der überlebende Ehegatte, welchem der Nießbrauch an dem Vermögen des erstversterbenden hinterlassen ist, wie er mit den Kindern als Substanzerben zusammen die Nachlaßforderungen einzieht, so auch mit ihnen zusammen wegen der Nachlaßschulden Recht zu nehmen hat.3
Das gilt nicht bloß in dem Sinne, daß es der überlebende Ehegatte nicht hindern kann, daß sich die Gläubiger aus dem Vermögen des Ehemannes bezahlt machen; die Mitklägerin hat als Verwalterin des Nachlasses kraft eigenen Rechtes die Mittel desselben zur Erfüllung der dem Nachlasse aufhaftenden Verbindlichkeiten zu verwenden, und wenn sie, wie im vorliegenden Falle, eine eigene wirtschaftliche Thätigkeit aufzuwenden hat, um Rüben zu bauen, so macht sie sich persönlich verantwortlich, wenn sie die Verbindlichkeiten aus dem Rübenlieferungsvertrage nicht erfüllt, sodaß sie für die Konventionalstrafen selbst haften würde.
Ist aber dies die Stellung der Mitklägerin zu dem Nachlasse ihres Ehemannes, so hat auch das Berufungsurteil die Stellung der Witwe in der von ihr auf eigenen Namen übernommenen Domänenpachtung ohne Rechtsirrtum dahin gefaßt, daß sie dieselbe nicht für eigene Rechnung führt.
Vielmehr hat sie den Kindern und den Gläubigern ihres Ehemannes gegenüber anzuerkennen, daß sie die Pachtung als ein Aktivum des Nachlasses in ihrer oben gezeichneten Stellung zum Nachlasse angetreten hat, wie ja auch nirgends behauptet ist, die Witwe habe die Pachtung etwa für einen (den Gläubigern haftenden) Annahmepreis abgetreten erhalten. Hat sie die Pachtung ohne jede weitere Abmachung übernommen, so ist die Annahme ganz korrekt, daß sie materiell in der Stellung, welche sie zum Nachlasse einnimmt, als Nießbraucherin und Verwalterin des Nachlasses ihres Ehemannes in den Pachtvertrag eingetreten sei, sodaß durch jenen Eintritt, wenn schon er in eigenem Namen erfolgt ist, den Rechten weder der Kinder noch der Gläubiger des Ehemannes zu nahe getreten ist. Die Haftung der Witwe und deren Kinder für den Rübenlieferungsvertrag ergiebt sich daraus von selbst." ...
- 1. Vgl. Koch, Preuß. Erbrecht §. 42 a. E. S. 432; Förster, Preuß. Privatrecht Bd. 4 §. 252 Anm. 83.
- 2. Vgl. das Erkenntnis des Oberappellationssenates des Kammergerichtes bei Simon u. Strampff, Rechtssprüche Bd. 3 S. 86 flg.; das Erkenntnis des Obertribunals bei Striethorst, Archiv Bd. 63 Nr. 51.
- 3. Vgl. das Urteil des preußischen Obertribunals bei Striethorst, Archiv Bd. 45 Nr. 1; Hommel, Rhaps. tom. 2 obs. 410 p. 340.