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BVerfG, 10.03.1971 - 2 BvL 3/68

Daten
Fall: 
Doppelbesteuerung Schweiz
Fundstellen: 
BVerfGE 30, 272; BB 1971, 706; DB 1971, 1091; BStBl II 1973, 431
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
10.03.1971
Aktenzeichen: 
2 BvL 3/68
Entscheidungstyp: 
Beschluss

Beschluß

des Zweiten Senats vom 10. März 1971
– 2 BvL 3/68 –
in dem Verfahren zur verfassungsrechtlichen Prüfung des Art. 1 Satz 1 des Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 zum Abkommen vom 15. Juli 1931 zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern vom 5. März 1959 (BGBl. II S. 182), soweit darin dem Abschnitt IV Abs. 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957 (BGBl. 1959 II S. 183) zugestimmt wird und sich die hier getroffene Vereinbarung über die Anwendung des Abschnitts II Nr. 14 dieses Zusatzprotokolls auf die Einkommensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1957 und 1958 bezieht – Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des I. Senats des Bundesfinanzhofs vom 4. Oktober 1967(I 422/62) –.

Entscheidungsformel:
Artikel 1 Satz 1 des Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 zum Abkommen vom 15. Juli 1931 zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern vom 5. März 1959 (Bundesgesetzbl. II S. 182) ist insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig, als er sich auf Abschnitt IV Absatz 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957 (Bundesgesetzbl. 1959 II S. 183) bezieht und dadurch die Anwendung des Abschnitts II Nr. 14 des Zusatzprotokolls auf die Einkommensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1957 und 1958 anordnet.

Gründe

A.

I.

1.

Das Deutsche Reich und die Schweizerische Eidgenossenschaft vereinbarten am 15. Juli 1931 ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern, das durch ein Schlußprotokoll und ein Zusatzprotokoll vom 11. Januar 1934 ergänzt und teilweise geändert wurde. Das Doppelbesteuerungsabkommen (DBAS) trat am 29. Januar 1934 in Kraft (RGBl. II S. 37).

Zu den direkten Steuern im Sinne dieses Abkommens gehört die deutsche Einkommensteuer. In Art. 4 Abs. 1 DBAS ist bestimmt, daß Einkünfte aus Arbeit einschließlich der Einkünfte aus freien Berufen grundsätzlich nur in dem Staate besteuert werden, in dessen Gebiet die persönliche Tätigkeit ausgeübt wird, aus der die Einkünfte herrühren.

2.

a) In einem Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 (Zusatzprotokoll 1957) vereinbarten die Bundesrepublik Deutschland und die Schweizerische Eidgenossenschaft, das Doppelbesteuerungsabkommen vom 15. Juli 1931 und das zugehörige Schlußprotokoll zu ändern und einige spätere Zusatz- und Verhandlungsprotokolle zu diesem Abkommen zu ersetzen (BGBl. 1959 II S. 183). Dieses Zusatzprotokoll 1957 enthält in Abschnitt II Nr. 14 folgende Ergänzung des Schlußprotokolls zu den Art. 2 bis 12 des Doppelbesteuerungsabkommens:

Dieses Abkommen beschränkt nicht das Recht jedes der beiden Staaten, die Steuern für die ihm zur Besteuerung überlassenen Vermögensteile, Einkünfte oder Teile des Nachlasses nach dem Satz zu erheben, der dem gesamten Vermögen, Einkommen, Nachlaß, Erbteil oder Erwerb von Todes wegen entspricht.

Nach Abschnitt IV Abs. 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls ist dieser Progressionsvorbehalt auf die Steuern anzuwenden, die für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 erhoben werden.

b) Durch Gesetz vom 5. März 1959 stimmte der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates dem Zusatzprotokoll 1957 ohne Einschränkung zu (BGBl. II S. 182). Das Zusatzprotokoll trat am 20. April 1959 in Kraft (BGBl. II S. 408).

3.

§ 9 des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG) vom 16. Oktober 1934 lautet:

§ 9
Von den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sind Personen, Personenvereinigungen, Körperschaften und Vermögensmassen insoweit befreit, als ihnen ein Anspruch auf Befreiung von diesen Steuern zusteht 1. nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen unter Wahrung der Gegenseitigkeit oder 2. nach besonderer Vereinbarung mit anderen Staaten.

Eine entsprechende Norm enthält § 3 Nr. 41 des Einkommensteuergesetzes seit seiner Fassung vom 23. September 1958 (BGBl. I S. 673):

Steuerfreie Einnahmen § 3
Steuerfrei sind... 41. die Einkünfte der Steuerpflichtigen insoweit, als ihnen ein Anspruch auf Befreiung nach den Doppelbesteuerungsabkommen zusteht (§ 9 des Steueranpassungsgesetzes).

4.

Eine allgemeine Verwaltungsanordnung über die Anwendung des Progressionsvorbehalts in den Doppelbesteuerungsabkommen ist erstmals in den Einkommensteuer-Richtlinien 1963 (Bekanntmachung des Bundesministers der Finanzen vom 12. März 1964, Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 61 vom 1. April 1964) im Abschnitt 185 enthalten:

Nach § 3 Ziff. 41 EStG sind die Einkünfte von Steuerpflichtigen insoweit steuerfrei, als ihnen ein Anspruch auf Befreiung nach den Doppelbesteuerungsabkommen zusteht. Die nach 1945 abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen sehen jedoch vor, daß die Einkommensteuer unbeschränkt Steuerpflichtiger für den Einkommensbetrag, der auch unter Berücksichtigung des Abkommens in der Bundesrepublik zu versteuern ist, nach dem Satz bemessen werden kann, der sich ergibt, wenn die nach dem Abkommen steuerfreien Einkünfte bei der Festsetzung der Einkommensteuer einbezogen bleiben (Progressionsvorbehalt). Von dem Progressionsvorbehalt ist in jedem Falle Gebrauch zu machen. Der dabei in Betracht kommende Steuersatz ist nach den Grundsätzen des Abschnitts 20 der Richtlinien zum deutsch-amerikanischen Doppelbesteuerungsabkommen (BStBl. 1957 I S. 154, 209) zu ermitteln.

II.

Die Vorlage betrifft die Verfassungsmäßigkeit des Vertragsgesetzes vom 5. März 1959, soweit es die im Zusatzprotokoll 1957 vereinbarte Anwendung des Progressionsvorbehalts auch für die zurückliegenden Kalenderjahre 1957 und 1958 anordnet.

1.

Dem Ausgangsverfahren liegt im wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde: Der Steuerpflichtige wohnte in den Jahren 1957 bis 1959, für die seine Einkommensteuer streitig ist, sowohl in der Bundesrepublik als auch in der Schweiz und erzielte in dieser Zeit in beiden Ländern Einkünfte als Schauspieler. Das Finanzamt Starnberg behandelte ihn wegen seines Wohnsitzes in Berg am Starnberger See als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs. 1 EStG). Bei der Veranlagung ließ es zwar die in der Schweiz angefallenen Einkünfte aus (nichtselbständiger) Arbeit gemäß §§ 3 Nr. 41 EStG, 9 StAnpG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 des Doppelbesteuerungsabkommens vom 15. Juli 1931 steuerfrei, zog sie aber unter Berufung auf den Progressionsvorbehalt in Abschnitt II Nr. 14 des Zusatzprotokolls 1957 zur Berechnung eines erhöhten Steuersatzes für das der Bundesrepublik zugeteilte Einkommensteuergut heran.

Das Finanzgericht ging davon aus, daß der Steuerpflichtige den Mittelpunkt seiner persönlichen und geschäftlichen Interessen und mithin seinen ausschließlichen Wohnsitz in der Schweiz habe; deshalb sei er in der Bundesrepublik nur beschränkt einkommensteuerpflichtig (§ 1 Abs. 2 EStG). Die Besteuerung der inländischen Einkünfte sei als durch den Steuerabzug abgegolten anzusehen.

Gegen diese Entscheidung hat das Finanzamt die nunmehr als Revision zu behandelnde Rechtsbeschwerde eingelegt.

Der Steuerpflichtige hat beantragt, die Revision aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurückzuweisen. Er hält im übrigen die Anwendung des Progressionsvorbehalts für unzulässig.

Der Bundesminister der Finanzen ist dem Verfahren beigetreten. Er hat ausgeführt, die deutschen Finanzbehörden seien im Falle unbeschränkter Einkommensteuerpflicht auch schon vor dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls 1957 zur Anwendung der Vollprogression berechtigt gewesen; dieser Vertragsergänzung komme nur klarstellende Bedeutung zu.

2.

Der Bundesfinanzhof hat sein Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob "Art. 1 Satz 1 des Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 zum Abkommen vom 15. Juli 1931 zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern vom 5. März 1959 (BGBl. II S. 182) mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit darin dem Abschnitt IV Abs. 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957 (BGBl. 1959 II S. 183) zugestimmt wird und sich die hier getroffene Vereinbarung über die Anwendung des Abschnitts II Nr. 14 dieses Zusatzprotokolls auf die Einkommensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1957 und 1958 bezieht".

Zur Begründung der Vorlage führt der Bundesfinanzhof aus: Das Doppelbesteuerungsabkommen vom 15. Juli 1931 habe die Anwendung der Vollprogression im Inland nicht erlaubt. Erst durch das Zusatzprotokoll 1957 sei sie zugelassen worden und durch das gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erlassene Gesetz innerstaatliches Recht geworden. Die Vorschrift, wonach der Progressionsvorbehalt bereits für die Veranlagungszeiträume 1957 und 1958 anzuwenden sei, verschlechtere die Rechtslage für bereits abgeschlossene Steuertatbestände; denn das Zusatzprotokoll 1957 sei erst am 20. April 1959 in Kraft getreten. Diese Rückwirkung zum Nachteil des Steuerpflichtigen sei wegen Verstoßes gegen das in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegte Rechtsstaatsprinzip verfassungswidrig, weil sie das schutzwürdige Vertrauen in die bestehende Rechtsordnung verletze. Für die von ihm zu treffende Entscheidung komme es darauf an, ob die Anwendung der Vollprogression rückwirkend für die Kalenderjahre 1957 und 1958 angeordnet werden durfte. Der Steuerpflichtige sei im gesamten Veranlagungszeitraum in der Bundesrepublik unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen, da er hier einen Wohnsitz (§ 13 StAnpG) gehabt habe. Zwar seien die in der Schweiz erzielten Einkünfte nach §§ 3 Nr. 41 EStG, 9 StAnpG i. V. m. Art. 4 Abs. 1 DBAS von der deutschen Einkommensteuer befreit. Im Hinblick auf den Progressionsvorbehalt in Abschnitt II Nr. 14 des Zusatzprotokolls 1957 seien jedoch auch diese Einkünfte bei der Ermittlung des Steuersatzes für das der deutschen Besteuerung unterliegende Einkommen zu berücksichtigen. Sei die rückwirkende Anwendung des Progressionsvorbehalts gültig, habe die Revision des Finanzamtes in vollem Umfange Erfolg. Sei sie hingegen ungültig, hätten die in jener Zeit in der Schweiz erzielten Einkünfte bei der Berechnung des Steuersatzes für die deutsche Einkommensteuer außer Betracht zu bleiben.

III.

Das Bundesverfassungsgericht hat den in §§ 82, 77 BVerfGG bezeichneten Verfassungsorganen des Bundes und der Länder sowie den Beteiligten des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Äußerung gegeben.

1.

Die Bundesregierung hält die getroffene Regelung für verfassungsgemäß. In ihrem Namen hat der Bundesminister der Finanzen ausgeführt:

Ein verfassungswidriger, rückwirkender Erlaß eines belastenden Steuergesetzes liege nicht vor. Schon in der ursprünglichen Fassung habe das Doppelbesteuerungsabkommen das Recht jedes der beiden Staaten, die Steuer für die ihm zur Besteuerung überlassenen Einkünfte oder Vermögensteile nach dem Satz zu erheben, der dem ganzen Einkommen oder Vermögen des Steuerpflichtigen entspricht, nicht beschränkt. Nach deutschem Recht bemesse sich die Einkommensteuer bei unbeschränkt Steuerpflichtigen nach dem gesamten Welteinkommen, womit eine gleichmäßige, nach der Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen ausgerichtete Besteuerung gewährleistet werde. Eine Ausnahme von der Zulässigkeit der Vollprogression bedürfe einer gesetzlichen Grundlage, die im vorliegenden Falle niemals bestanden habe. Dementsprechend habe die Schweiz das Recht zur Anwendung der Vollprogression stets ausgeübt, und zwar nicht nur bei unbeschränkter, sondern auch bei beschränkter Steuerpflicht. Allerdings habe die deutsche Finanzverwaltung – soweit feststellbar – bis zur Vereinbarung des Zusatzprotokolls 1957 auch bei unbeschränkt Steuerpflichtigen die Vollprogression nicht geltend gemacht. Das sei darauf zurückzuführen, daß es erst im Rahmen der Revisionsverhandlungen des Jahres 1957 zur Einigung zwischen den Vertragstaaten über eine bestimmte Abkommensbehandlung gekommen sei. Auf deutschen Wunsch sei der Progressionsvorbehalt – die bisherige Rechtslage nur bestätigend – im Vertrag selbst verankert worden. Um für die Steuerpflichtigen aus dem Übergang zu einer rechtsklaren Situation keine unangemessenen Nachteile erwachsen zu lassen, sei bestimmt worden, daß der Progressionsvorbehalt erstmals für das Jahr dieser Vereinbarung (1957) gelte. Aus der zur Prüfung gestellten Regelung ergebe sich somit keine neue Belastung von Steuerpflichtigen; sie enthalte lediglich ein verfassungskonformes Verbot, die Vollprogression in noch nicht abgeschlossenen Fällen für eine frühere Zeit als das Jahr 1957 anzuwenden. Jedenfalls könne die vorgelegte Norm auch deswegen nicht beanstandet werden, weil der Steuerpflichtige bereits in den Jahren 1957 und 1958 damit habe rechnen müssen, daß die gesetzgebenden Körperschaften der im Zusatzprotokoll 1957 vereinbarten Regelung zustimmen würden.

2.

Das Finanzamt Starnberg hat sich im wesentlichen der vom Bundesminister der Finanzen dargelegten Auffassung angeschlossen.

3.

Der Steuerpflichtige des Ausgangsverfahrens hat sich, die Erwägungen des vorlegenden Gerichts zur Unzulässigkeit der Rückwirkung zu eigen gemacht und ferner ausgeführt: Auch bei völkerrechtlicher Vereinbarung des Progressionsvorbehalts sei im deutschen Einkommensteuerrecht die Anwendung der Vollprogression ohne eine besondere, über das Vertragsgesetz hinausgehende Gesetzesbestimmung unstatthaft; denn im Gegensatz zum Erbschaftsteuerrecht (§ 8 Abs. 4 ErbStG) fehle hier eine Vorschrift, wonach der Steuersatz so zu ermitteln sei, wie wenn die ausländischen Einkünfte nicht ausgeschieden wären.

B.

Die Vorlage ist zulässig.

Der Bundesfinanzhof ist davon überzeugt, daß das zur Prüfung gestellte Gesetz für die Einkommensbesteuerung 1957 und 1958 eine rückwirkende belastende Regelung enthält und in diesem Umfang verfassungswidrig ist. In dem Vorlagebeschluß ist auch dargelegt, daß es bei der Entscheidung über die Revision auf die Gültigkeit dieses Teils der Norm ankommt. Die Auffassung des vorlegenden Gerichts ist jedenfalls nicht offensichtlich unhaltbar.

Vertragsgesetze, in denen die gesetzgebenden Körperschaften nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG die Zustimmung zu einem völkerrechtlichen Vertrag erklären, können Gegenstand des Verfahrens der Normenkontrolle auf Vorlage von Gerichten nach Art. 100 Abs. 1 GG sein. Das Bundesverfassungsgericht hat zu prüfen, ob die gesetzgebenden Körperschaften im Hinblick auf das sie bindende Verfassungsrecht einem Vertrag dieses Inhalts zustimmen durften (vgl. BVerfGE 12, 281 [288]).

C.

Art. 1 Satz 1 des Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 zum Abkommen vom 15. Juli 1931 zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern vom 5. März 1959 (BGBl. II S. 182) ist insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig, als er sich auf Abschnitt IV Abs. 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957 (BGBl. 1959 II S. 183) bezieht und dadurch die Anwendung des Abschnitts II Nr. 14 des Zusatzprotokolls auf die Einkommensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1957 und 1958 anordnet.

I.

Es ist streitig, welche rechtliche Bedeutung der Aufnahme des Progressionsvorbehalts in das Zusatzprotokoll 1957 zukommt und welche Auswirkungen dem Vertragsgesetz vom 5. März 1959 für das innerdeutsche Steuerrecht beizumessen sind. Von dem Inhalt, den diese Bestimmungen und die mit ihnen in Zusammenhang stehenden Normen des Steuerrechts haben, hängt die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung vorgelegten Vorschriften ab. Das Bundesverfassungsgericht muß deshalb zunächst von sich aus die Rechtslage nach einfachem Recht klären (vgl. BVerfGE 22, 28 [33]; 25, 371 [390]).

1.

Natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, sind nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG grundsätzlich unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Diese unbeschränkte Einkommensteuerpflicht erstreckt sich gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 EStG auf sämtliche Einkünfte des Steuerpflichtigen.

Erzielt ein im Inland unbeschränkt Einkommensteuerpflichtiger Einkünfte im Ausland, so löst dies nach deutschem Einkommensteuerrecht zwei steuerliche Rechtsfolgen aus: Auch die Auslandseinkünfte unterliegen nach § 1 Abs. 1 Satz 2 EStG der deutschen Einkommensteuer. Als Teil der Gesamteinkünfte werden sie den inländischen Einkünften hinzugerechnet. Dies bewirkt, daß sich der Steuersatz erhöht, weil der einkommensteuerliche Tarif nach der Anlage zu § 32 a Abs. 1 EStG progressiv gestaltet ist.

Ob und inwieweit die nicht im Inland erzielten Einkünfte eines unbeschränkt Einkommensteuerpflichtigen zugleich in einem ausländischen Staat der Besteuerung unterworfen werden, bleibt also für die inländische Steuerpflicht grundsätzlich (unbeschadet einer Anrechnung gemäß § 34 c Abs. 1 EStG) ohne Bedeutung. Für den Steuerpflichtigen kann sich deshalb eine doppelte steuerliche Belastung ergeben. Diese doppelte Belastung aufzuheben oder zu mindern, ist der Zweck der Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, in denen die vertragschließenden Staaten – regelmäßig auf Gegenseitigkeit – auf gewisse ihnen nach innerstaatlichem Recht zustehende Besteuerungsrechte verzichten.

2.

a) In Art. 4 Abs. 1 des Doppelbesteuerungsabkommens vom 15. Juli 1931 ist festgelegt, daß Einkünfte aus Arbeit einschließlich der Einkünfte aus freien Berufen grundsätzlich "nur in dem Staate besteuert werden, in dessen Gebiet die persönliche Tätigkeit ausgeübt wird, aus der die Einkünfte herrühren". Das hat zur Folge, daß die der Besteuerungskompetenz der Schweiz überlassenen Einkünfte infolge des Steuerverzichts des Deutschen Reiches nach §§ 9 Nr. 2 StAnpG, 3 Nr. 41 EStG der inländischen Einkommensbesteuerung entzogen sind; sie gelten als nicht vorhanden, von ihnen ist deutsche Einkommensteuer nicht zu entrichten.

Mit dieser vorbehaltlosen Regelung hat das Deutsche Reich zugleich aber auch darauf verzichtet, die in der Schweiz erzielten Einkünfte zwecks Anwendung eines höheren Steuersatzes auf das im Inland zu versteuernde Einkommen heranzuziehen.

Nach § 32 a Abs. 1 EStG ergibt sich die zu veranlagende Einkommensteuer aus der diesem Gesetz als Anlage beigefügten Einkommensteuertabelle. Diese enthält die Spalte "Zu versteuernder Einkommensbetrag" und daneben die Spalte "Einkommensteuer". Der Einkommensteuertarif baut also auf dem zu versteuernden Einkommensbetrag im Sinne des § 32 Abs. 1 EStG auf. Der zu versteuernde Einkommensbetrag ist nach dieser Vorschrift das um bestimmte Freibeträge und um die sonstigen vom Einkommen abzuziehenden Beträge verminderte Einkommen. Einkommen ist gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 EStG der Gesamtbetrag der Einkünfte aus den im Einkommensteuergesetz bezeichneten Einkunftsarten nach Ausgleich mit Verlusten, die sich aus einzelnen Einkunftsarten ergeben, und nach Abzug der Sonderausgaben. Die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht erstreckt sich nach § 1 Abs. 1 Satz 2 EStG auf sämtliche Einkünfte mit Ausnahme derjenigen, die durch ein Doppelbesteuerungsabkommen von der deutschen Einkommensteuer befreit worden sind (§§ 3 Nr. 41 EStG, 9 StAnpG). Werden die Einkünfte eines unbeschränkt Einkommensteuerpflichtigen nach einem Doppelbesteuerungsabkommen ohne Progressionsvorbehalt im Inland steuerfrei, so gehören sie nicht zum Einkommen im Sinne des § 2 Abs. 2 Satz 1 EStG und fallen folglich auch nicht mehr unter den zu versteuernden Einkommensbetrag im Sinne der Einkommensteuertabelle. Dieser kann sich vielmehr nur aus den nicht von einer sachlichen Steuerbefreiung erfaßten Einkünften zusammensetzen. Dementsprechend ist auch die Einkommensteuer auf die Inlandseinkünfte in der Einkommensteuertabelle unter der laufenden Nummer abzulesen, unter der dieser um die steuerfreien Einkünfte verminderte Einkommensbetrag aufgeführt ist.

Will der deutsche Vertragspartner diese sich aus dem System des Einkommensteuergesetzes ergebende Rechtsfolge vermeiden, so muß er in dem völkerrechtlichen Abkommen seinen Steuerverzicht beschränken und sich das Recht vorbehalten, die Steuer für die dem Inland zur Besteuerung überlassenen Einkünfte gemäß § 1 Abs. 1 Satz 2 EStG nach dem Satz zu erheben, der sich bei Einbeziehung sämtlicher Einkünfte des Steuerpflichtigen ergeben würde. Er ist also gehalten, den Progressionsvorbehalt ausdrücklich zu vereinbaren, um seinen Bürgern die Beschränkung des Steuerverzichts erkennbar zu machen; denn das Einkommensteuergesetz enthält keine dem § 8 Abs. 4 des Erbschaftsteuergesetzes vergleichbare Bestimmung, wonach die Steuer selbst dann nach dem Steuersatz zu erheben ist, der dem ganzen Erwerb entspricht, wenn ein Teil des Vermögens der inländischen Besteuerung aufgrund von Staatsverträgen entzogen ist.

b) Diese Auslegung entspricht im Ergebnis der Auffassung des Bundesfinanzhofs und der in der Fachliteratur allgemein vertretenen Ansicht (vgl. Bühring, Grundsätze der deutschen Doppelbesteuerungsabkommen, BetrBer. 1954, S. 482 [495]; Vogel, Die Auswirkungen der Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf das innerstaatliche Steuerrecht, Betr. 1959, S. 32 [34]; Debatin, Wesen und Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen, AWB 1962, S. 61 [66]; Hoffmann, Progressionsvorbehalt und deutsches Steuerrecht, StuWB 1968, Sp. 291 [303]; Korn-Dietz, Doppelbesteuerung, München 1970, Vorbem. III F 1). Bei dieser Rechtslage kann dahingestellt bleiben, aus welchen Gründen die bei den Vertragsverhandlungen erkannte und erörterte Frage des Progressionsvorbehalts schließlich im Doppelbesteuerungsabkommen vom 15. Juli 1931 nicht geregelt wurde und sich die Schweizerische Eidgenossenschaft ihrerseits für befugt hielt, die Vollprogression trotzdem anzuwenden. Der in Deutschland herrschenden Rechtslage hat es jedenfalls entsprochen, daß mangels eines Progressionsvorbehalts die Anwendung der Vollprogression im Inland nicht möglich gewesen ist. Deshalb sind unter der Herrschaft dieses Abkommens die der schweizerischen Besteuerung überlassenen Einkünfte bei Ermittlung des Steuersatzes für das der deutschen Einkommensteuer unterworfene Einkommen stets außer Ansatz geblieben. Diese Steuerpraxis kann entgegen der Meinung des Bundesministers der Finanzen schon im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht nur auf die Berücksichtigung von Verständigungs- und Revisionsverhandlungen zwischen beiden Staaten zurückgeführt werden.

3.

Der in Abschnitt II Nr. 14 des Zusatzprotokolls 1957 aufgenommene Progressionsvorbehalt hat die einkommensteuerliche Lage der betroffenen Steuerpflichtigen im Inland also zu ihrem Nachteil verändert. Mit ihm ist der das geltende Einkommensteuerrecht beherrschende Grundsatz der Einkommensbesteuerung nach progressiv steigenden Steuersätzen unter Berücksichtigung sämtlicher Einkünfte eines unbeschränkt Einkommensteuerpflichtigen, der durch das ursprüngliche Doppelbesteuerungsabkommen vom 15. Juli 1931 eingeschränkt war, für die Ermittlung des Steuersatzes wiederhergestellt worden. Das, hat für die betroffenen Steuerpflichtigen in der Regel eine höhere Besteuerung zur Folge.

II.

Art. 1 Satz 1 des Vertragsgesetzes vom 5. März 1959, soweit er sich auf Abschnitt IV Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abschnitt II Nr. 14 des Zusatzprotokolls 1957 bezieht, entfaltet echte Rückwirkung zum Nachteil der Steuerpflichtigen und ist deshalb insoweit mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar.

1.

a) Durch das gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG ergangene Gesetz vom 5. März 1959 ist das Zusatzprotokoll 1957 einschließlich des in ihm vereinbarten Progressionsvorbehalts unmittelbar innerstaatliches Recht geworden. Die rechtliche Bedeutung eines solchen Vertragsgesetzes erschöpft sich nicht darin, daß von seinem Erlaß das verfassungsmäßige Zustandekommen des völkerrechtlichen Vertrages abhängt; es transformiert zugleich den Inhalt dieses Vertrages in innerstaatliches Recht und macht ihn sowohl für die staatlichen Organe als auch für die Staatsbürger verbindlich (vgl. BVerfGE 1, 396 [411]; 6, 290 [294]). Das Vertragsgesetz stellt also nicht eine bloße Ermächtigung des deutschen Gesetzgebers dar, durch eine weitere innerstaatliche Rechtsnorm die Anwendung der Vollprogression in deutsch-schweizerischen Doppelbesteuerungsfällen vorzuschreiben; es enthält diese Regelung vielmehr selbst (ebenso BFHE 87, 273 [276]; 90, 74 [75]).

b) Das Zusatzprotokoll bestimmt in Abschnitt IV Abs. 3 Satz 1, daß der Progressionsvorbehalt "auf die Steuern anzuwenden (ist), die für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 erhoben werden". Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Regelung, am 20. April 1959, waren die Einkommensteuertatbestände der Veranlagungszeiträume 1957 und 1958 abgeschlossen; die Einkommensteuerschuld für diese Zeiträume war am 31. Dezember 1957 bzw. 31. Dezember 1958 ohne die neu vereinbarte Progression des Steuersatzes entstanden. Der Progressionsvorbehalt wirkt nachträglich ändernd auf abgeschlossene, der Vergangenheit angehörende Tatbestände ein.

2.

Belastende Gesetze, insbesondere Steuergesetze, die in bereits abgeschlossene Tatbestände eingreifen und dadurch die Rechtsposition des Bürgers mit Wirkung für die Vergangenheit verschlechtern, sind grundsatzlich mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar (BVerfGE 13, 261 [271]; 15, 313 [324]; 18,135 [142]; 18, 429 [439]; 19,187 [195]; 21, 117 [132]; 22, 241 [248]; 23, 12 [32]; 25, 371 [403]; 27, 167 [173]). Zu den wesentlichen Elementen des Rechtsstaatsprinzips gehört die Rechtssicherheit. Für den Bürger bedeutet Rechtssicherheit in erster Linie Vertrauensschutz. Der Bürger wird in seinem Vertrauen enttäuscht, wenn der Gesetzgeber an bereits abgeschlossene Tatbestände nachträglich ungünstigere Folgen knüpft als diejenigen, von denen der Bürger bei seinen Dispositionen ausgehen durfte. Deshalb dürfen ihm in der Regel nicht rückwirkend zusätzliche Leistungspflichten gegenüber dem Staat auferlegt werden. Auch die Aufhebung einer Steuerbefreiung wirkt sich als Erhöhung der Leistungspflicht zum Nachteil der Steuerpflichtigen aus. In seinem Vertrauen auf die bestehende Rechtsordnung verdient der Bürger gegen den rückwirkenden Wegfall einer Steuervergünstigung den gleichen Schutz wie gegen die rückwirkende Belastung mit einem neu begründeten Steueranspruch.

3.

Ein Grund, das Vertrauen der Steuerpflichtigen auf den ungeschmälerten Fortbestand des Steuerverzichts des deutschen Staates nach dem urspünglichen Doppelbesteuerungsabkommen für die Veranlagungszeiträume 1957 und 1958 nicht zu schützen, besteht nicht:

a) Der Bürger kann bei seinem Planen auf das geltende Recht dann nicht vertrauen, wenn es unklar und verworren ist; in solchen Fällen ist es dem Gesetzgeber erlaubt, die Rechtslage rückwirkend zu klären (BVerfGE 11, 64 [72 f.]; 13, 261 [272]; 19, 187 [195]).

Ein derartiger Fall ist hier nicht gegeben. Das ursprüngliche Doppelbesteuerungsabkommen von 1931 enthielt keinen Progressionsvorbehalt. Hieraus folgte für das deutsche Einkommensteuerrecht eindeutig, daß die Anwendung der Vollprogression im Inland nicht zulässig war. Dementsprechend hat die deutsche – im Gegensatz zur schweizerischen – Finanzverwaltung in ständiger Praxis davon abgesehen, den Steuersatz für das inländische Einkommen unter Einbeziehung der in der Schweiz erzielten Einkünfte zu berechnen, solange die durch das Abkommen vom 15. Juli 1931 begründete Steuerbefreiung ohne Einschränkung gegolten hat. Die nachträgliche Einfügung des Progressionsvorbehalts in das Abkommen hat in der Bundesrepublik nicht eine zweifelhafte Rechtslage klargestellt, sondern eine eindeutige Rechtslage umgestaltet.

b) Das Vertrauen auf das Weiterbestehen einer Rechtsnorm ist auch dann nicht mehr schutzwürdig, wenn der Bürger nach der rechtlichen Lage in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der nachteiligen Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen mußte (vgl. BVerfGE 1, 264 [280]; 2, 237 [264 ff.]; 7, 129 [151 f.]; 8, 274 [304 f.]; 13, 261 [272 f.]; 27, 167 [173 f.]).

Auch um einen solchen Fall handelt es sich hier indessen nicht. Das von der Bundesrepublik und der Schweiz vereinbarte Zusatzprotokoll trägt zwar das Datum vom 9. September 1957; es ist aber erst durch das Vertragsgesetz vom 5. März 1959 Bestandteil des deutschen Steuerrechts geworden. In den Jahren 1957 und 1958 brauchte ein Steuerpflichtiger noch nicht damit zu rechnen, daß der deutsche Gesetzgeber mit Rückwirkung zuungunsten der Betroffenen einen Progressionsvorbehalt einführen werde. Das Vertrauen des Bürgers in den Bestand des geltenden Rechts ist erst von dem Zeitpunkt ab nicht mehr schutzwürdig, in dem der Bundestag ein in die Vergangenheit zurückwirkendes Gesetz beschlossen hat (BVerfGE 13, 206 [213]; 14, 288 [298]; 23, 12 [33]). Das Bekanntwerden von Gesetzesinitiativen und die öffentliche Berichterstattung über die Vorbereitung einer Neuregelung durch die gesetzgebenden Körperschaften beeinträchtigen die Schutzwürdigkeit des Vertrauens hingegen nicht.

Dieser Grundsatz gilt in gleicher Weise für Gesetze, durch die völkerrechtlichen Vereinbarungen zugestimmt wird. Vor der nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erforderlichen Beschlußfassung der gesetzgebenden Körperschaften hatten die Steuerpflichtigen keinen Anlaß, die im Zusatzprotokoll 1957 mit Wirkung ab 1. Januar 1957 vertraglich vereinbarte Einfügung des Progressionsvorbehalts zu beachten. Selbst wenn die im völkerrechtlichen Vertrag vereinbarte Neuregelung schon veröffentlicht und allgemein erörtert worden sein sollte, konnte ein inländischer Steuerpflichtiger noch davon ausgehen, daß der deutsche Gesetzgeber verhindern werde, daß sich die Rechtsposition der Betroffenen im Inland für abgeschlossene Veranlagungszeiträume rückwirkend verschlechtern würde. Dies hätte dadurch geschehen können, daß der deutsche Gesetzgeber in das Vertragsgesetz eine besondere Bestimmung aufgenommen hätte, die eine belastende Rückwirkung der Vertragsänderung durch das Zusatzprotokoll 1957 für den Bereich des innerstaatlichen Rechts ausschloß. Von dieser Möglichkeit hat er in Vertragsgesetzen zu späteren Doppelbesteuerungsabkommen Gebrauch gemacht (vgl. z.B. Art. 2 Abs. 2 des Vertragsgesetzes vom 10. Februar 1971 zur Änderung des deutsch-pakistanischen Doppelbesteuerungsabkommens, BGBl. II S. 25). Hiernach wird ein sich ergebender Steuermehrbetrag nicht erhoben, wenn sich aufgrund der Vertragsänderung für die Zeit bis zum Beginn des Kalenderjahres ihres Inkrafttretens unter Berücksichtigung der jeweiligen ausländischen und inländischen Besteuerung insgesamt eine höhere Belastung ergibt, als sie nach den Rechtsvorschriften vor dem Inkrafttreten des Ergänzungsabkommens bestand.

Die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossenen oder ergänzten deutsch-ausländischen Doppelbesteuerungsabkommen (vgl. z.B. Art. XV Abs. 1 Buchst. b des Doppelbesteuerungsabkommens mit den USA vom 22. Juli 1954, BGBl. II S. 1118) ließen allerdings die Tendenz erkennen, generell einen Progressionsvorbehalt zu vereinbaren und dadurch die Steuerbefreiung auf die Vermeidung einer doppelten steuerlichen Erfassung von Einkommensteilen zu beschränken, ohne den (progressiv gestalteten) Steuertarif zu berühren. Der in Deutschland unbeschränkt Einkommensteuerpflichtige durfte indessen darauf vertrauen, daß die günstigere Rechtslage, die für ihn nach dem ursprünglichen Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz noch bestand, entsprechend dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes nicht für schon abgeschlossene Veranlagungszeiträume beseitigt werden würde.

D.

Die Entscheidung ist mit sechs Stimmen gegen eine Stimme ergangen.

(gez.) Seuffert Dr. Leibholz Geller Dr. Rupp Dr. Geiger Dr. Rinck Wand

Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Seuffert zu dem Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. März 1971 – 2 BvL 3/68 –

1.

Die Entscheidung geht davon aus, daß die über das Zustimmungsgesetz zur Prüfung vorgelegte Vertragsbestimmung über die Anwendbarkeit des Progressionsvorbehalts (Abschnitt II Nr. 14 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957) ab 1. Januar 1957 (Abschnitt IV Abs. 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls) dessen Anwendung nicht nur innerhalb des Vertragsverhältnisses zuläßt, sondern sie für die deutsche Steuerpflicht vorschreibt. Diese Auslegung ist aus mehreren Gründen nicht möglich.

a) Völkerrechtliche Abkommen sind so auszulegen, daß die Vertragspartner das von ihnen angestrebte Ziel erreichen können, aber nicht über das gewollte Maß hinaus als gebunden angesehen werden dürfen. Unter verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten muß derjenigen der Vorzug gegeben werden, bei der der Vertrag vor dem Grundgesetz bestehen kann (BVerfGE 4, 157 [168]). Doppelbesteuerungsabkommen, die gegenseitige Steuerverzichte regeln, schaffen nach ihrem Wortlaut und nach allgemeiner Auffassung und Rechtsprechung (vgl. Korn-Dietz, Doppelbesteuerung, Vorbem. III E 14 mit weiteren Nachweisen) jedoch weder neue Steueransprüche, noch können sie bestehende erweitern oder abändern; die Grundlage eines Steueranspruchs sowohl wie seine Verwirklichung hinsichtlich der Art und Höhe der Besteuerung wird vom Doppelbesteuerungsabkommen nicht berührt (ebenda).

b) Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu Progressionsvorbehalten in Doppelbesteuerungsabkommen, wonach der Progressionsvorbehalt keine inländische (deutsche) Steuerpflicht begründet, sondern (allenfalls) bestehende steuerliche Rechtsfolgen aufrechterhält (BFH vom 9. November 1966 – I 29/65 –, BStBl. 1967 III S. 88, BFH 87, 273). Die Grundlage zur Anwendung des Progressionsvorbehalts für die deutsche Besteuerung wird in dieser Entscheidung – ohne daß dem verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstehen, wie der gegenwärtige Beschluß des Bundesverfassungsgerichts darlegt – im deutschen Steuerrecht (§ 3 Nr. 41 EStG) gefunden. (Der im Beschluß des Senats zitierte Leitsatz gibt insofern den Inhalt des Urteils nicht zutreffend wieder, als er im Gegensatz zum Urteil selbst davon spricht, daß der Progressionsvorbehalt selbst die Vorschrift darstelle, daß die Zurechnung zur Ermittlung des Steuersatzes zu erfolgen habe.)

c) Schon deswegen, weil die Auslegung, daß der Progressionsvorbehalt selbst keine Steuerpflicht begründet (so daß auch die rückwirkende Anwendbarkeit des Progressionsvorbehalts keine Steuerpflicht rückwirkend begründen kann), jedenfalls möglich ist, muß diese Auslegung gewählt werden, weil die Vertragsvorschrift dann mit dem Grundgesetz vereinbar erscheint. Dies gilt nicht nur nach den Regeln über die Auslegung völkerrechtlicher Verträge (oben zu a), sondern schon nach der allgemeinen Regel, daß von mehreren möglichen Auslegungen diejenige anzuwenden ist, die zur Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 19, 1 [5] mit Nachweisen und sonst vielfach).

2.

Ob und wann der Progressionsvorbehalt für die deutsche Steuerpflicht anzuwenden ist, ist demnach nicht der zur Prüfung vorgelegten Gesetzesbestimmung, sondern dem sonstigen deutschen Steuerrecht zu entnehmen. Die Ansicht des Steuerpflichtigen im Ausgangsverfahren, der Progressionsvorbehalt gebe auch nach seiner Einfügung in das deutsche Recht (Inkrafttreten des Vertragsgesetzes, 20. April 1959) keine verfassungsmäßige Grundlage zur Berechnung eines erhöhten Steuersatzes – in welchem Falle die vorgelegte Vorschrift, da sie sich in keinem Fall belastend auswirken könnte, auf jeden Fall mit dem Grundgesetz vereinbar wäre –, ist allerdings mit dem Bundesverfassungsgericht und dem vorlegenden Gericht abzulehnen. Dafür, daß das deutsche Steuerrecht die Anwendung des Progressionsvorbehalts im Sinne einer Mehrbelastung auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Vertrags vorsieht oder vorschreibt, wäre aber, unabhängig von der Vertragsbestimmung über die rückwirkende Anwendbarkeit des Abkommens (denn das Abkommen kann und will nicht bestimmen, daß der erhöhte Steuersatz angewandt wird, und infolgedessen auch nicht, daß er rückwirkend angewandt wird), eine entsprechende weitere Bestimmung des deutschen Steuerrechts erforderlich. Sie ist offenbar – ohne daß das Bundesverfassungsgericht das jetzt zu entscheiden hätte – nicht nachzuweisen und würde auch, falls sie als rückwirkend belastende Vorschrift ergangen sein sollte, keinen erkennbaren Grund zur verfassungsmäßigen Rechtfertigung der Rückwirkung zur Seite stehen haben, wie der Beschluß des Senats ausführt.

Die hier dargelegte Auffassung über das Verhältnis von Rückwirkungsbestimmungen in Doppelbesteuerungsabkommen zum deutschen Steuerrecht entspricht der deutschen Gesetzgebungs- und Verwaltungspraxis jedenfalls insofern, als diese Regelungen, die sich auf Steueransprüche während der Rückwirkungszeit solcher Abkommen beziehen, jeweils unabhängig von den Vertragsbestimmungen und der Zustimmung zu denselben getroffen hat. Im übrigen hat auch der vorlegende Senat des Bundesfinanzhofs in Betracht gezogen, daß nach deutschem Steuerrecht eine einschränkende Auslegung bezüglich der rückwirkenden Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen im Sinne der Schlechterstellung eines Steuerpflichtigen geboten sein könnte (vgl. BFH vom 11. März 1970 – I B 50/68 und 3/69 –; BStBl. II 1970 S. 569).

3.

Ich bin deswegen der Ansicht, daß zu entscheiden gewesen wäre:

Art. 1 Satz 1 des Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 zum Abkommen vom 15. Juli 1931 zwischen dem Deutschen Reich und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern vom 5. März 1959 (BGBl. II 1959 S. 182) ist mit dem Grundgesetz vereinbar, auch soweit damit dem Art. 4 Abs. 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957 in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung zugestimmt wird.

(gez.) W. Seuffert