danke-sagen-unterstützen

BVerfG, 12.12.1973 - 2 BvR 558/73

Daten
Fall: 
Untersuchungshaft
Fundstellen: 
BVerfGE 36, 264; NJW 1974, 307; BayVBl 1974, 159; JuS 1974, 252; JZ 1974, 582; MDR 1974, 465
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
12.12.1973
Aktenzeichen: 
2 BvR 558/73
Entscheidungstyp: 
Beschluss

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen ist im Lichte des Grundrechts der persönlichen Freiheit kein "wichtiger Grund", der gemäß § 121 Abs. 1 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft für einen längeren Zeitraum rechtfertigt, als er nach Eröffnung des Hauptverfahrens zur ordnungsgemäßen Vorbereitung der Hauptverhandlung erforderlich ist. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß im Einzelfall andere "wichtige Gründe" vorliegen können, die die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

Beschluß

des 2. Senates vom 12. Dezember 1973
- 2 BvR 558/73 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Wolfgang C ... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Bräuning, Düsseldorf, Prinz-Georg-Straße 56 - gegen a) den Beschluß des Landgerichts Düsseldorf vom 7. Juni 1973 - I 105/72 S -, b) den Beschluß des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. Juli 1973 - 1 Ws 476, 509 und 510/73 -.

Entscheidungsformel:
1. Die Beschlüsse des Landgerichts Düsseldorf vom 7. Juni 1973 - I 105/72 S - und des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. Juli 1973 - 1 Ws 476, 509 und 510/73 - verletzten das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

A.

I.

1.

Nach § 121 Abs. 1 StPO darf der Vollzug von Untersuchungshaft, solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist, wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Hierüber hat gemäß § 121 Abs. 2 StPO das Oberlandesgericht zu entscheiden.

2.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 28. März 1972 in Untersuchungshaft. Laut Haftbefehl besteht gegen ihn der dringende Verdacht, sich einer Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StBG) schuldig gemacht zu haben; der Haftgrund ist Fluchtgefahr. Die Staatsanwaltschaft hat am 17. Juli 1972 Anklage erhoben. Am 1. März 1973 ließ die Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf - nach weiteren Ermittlungen - die Anklage zu und eröffnete das Hauptverfahren vor dem Schwurgericht.

Die Zuweisung der Sache zu einer Tagung des Schwurgerichts und die Bestimmung des Hauptverhandlungstermins verzögerten sich. Mitte Mai 1973 beantragte der Beschwerdeführer, den Haftbefehl aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen. Diesen Antrag lehnte die Strafkammer des Landgerichts durch Beschluß vom 7. Juni 1973 ab. In den Gründen führte sie aus, der Vorsitzende habe auf eine beschleunigte Terminierung der verhandlungsbereiten Sache keinen Einfluß, da der Präsident des Landgerichts sie zunächst gemäß § 87 GVG einer Tagung des Schwurgerichts zuweisen müsse. Das Landgericht sei im übrigen mit Schwurgerichtssachen überlastet. Dies stelle einen "wichtigen Grund" dar, der nach § 121 Abs. 1 StPO die Haftfortdauer rechtfertige.

Die Beschwerde gegen diese Entscheidung blieb ohne Erfolg. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verwarf sie durch Beschluß vom 18. Juli 1973 als unbegründet und ordnete zugleich gemäß § 121 Abs. 2 StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Zur Begründung machte es geltend, die Anzahl der zur Terminierung anstehenden Schwurgerichtssachen sei bei dem Landgericht Düsseldorf erfahrungsgemäß sehr groß. Daher müsse mit erheblichen Verzögerungen gerechnet werden. Die Hauptverhandlung stehe erst für die Jahreswende 1973/74 zu erwarten. Dem könne nicht dadurch begegnet werden, daß ein weiteres Schwurgericht gebildet werde. Denn nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 21, 191) sei das Präsidium des Landgerichts nicht ermächtigt, mehrere Schwurgerichte bei einem Landgericht zu errichten und die Sachen auf sie zu verteilen. Die Verzögerung ergebe sich demnach bei der Geschäftslage des Schwurgerichts aus dem Gesetz. Sie sei im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO ein wichtiger Grund für die Haftfortdauer.

Bei dem Landgericht Düsseldorf waren für 1973 zwanzig Tagungen des Schwurgerichts vorgesehen. Die Präsidien des Oberlandes- und Landgerichts hatten die hierfür erforderlichen Berufsrichter in der Weise bestellt, daß die für eine Tagung eingeteilten Richter frühestens wieder in der drittnächsten Tagung eingesetzt werden sollten. Damit ergab sich die Möglichkeit, beispielsweise mit der zweiten und dritten Tagung vor Abschluß der ersten zu beginnen. Diese Möglichkeit wurde genutzt.

Am 20. August 1973 setzte der Präsident des Landgerichts den Beginn der fünfzehnten Tagung des Schwurgerichts auf den 30. Oktober 1973 fest und wies das Verfahren gegen den Beschwerdeführer dieser Tagung zu. Daraufhin bestimmte der Schwurgerichtsvorsitzende Termin zur Hauptverhandlung auf den 5. November 1973 und sah vier Fortsetzungstermine vor.

Am 22. November 1973 verurteilte das Schwurgericht den Beschwerdeführer zu vier Jahren sechs Monaten Freiheitsstrafe und ordnete gleichzeitig die Fortdauer der Untersuchungshaft an.

II.

Die Verfassungsbeschwerde gilt den bezeichneten Haftbeschlüssen des Land- und Oberlandesgerichts. Der Beschwerdeführer rügt Verletzung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Zur Begründung trägt er vor:

Seit März 1973 verstoße die Aufrechterhaltung der Haft gegen sein Recht auf persönliche Freiheit, weil trotz Abschluß der Ermittlungen kein Hauptverhandlungstermin anberaumt worden sei. Die angegriffenen Entscheidungen stünden im Gegensatz zu zwei Beschlüssen des Oberlandesgerichts Köln, wonach ein wichtiger Grund für die Haftfortdauer nicht vorliege, wenn wegen Überlastung des Gerichts vier Monate nach Erlaß des Eröffnungsbeschlusses noch kein Hauptverhandlungstermin bestimmt sei. Fehl gehe die Meinung, die Verzögerung ergebe sich aus dem Gesetz, weil bei einem Landgericht nicht mehrere Schwurgerichte gebildet werden dürften. Denn es sei möglich, so viele Tagungen ein- und desselben Schwurgerichts anzuberaumen, daß alle Verfahren innerhalb angemessener Fristen zur Verhandlung gelangten. Eine Überlastung brauche dadurch nicht einzutreten, da für die verschiedenen Tagungen jeweils andere Richter bestellt werden könnten. Selbst wenn die Auffassung des Oberlandesgerichts ansonsten zuträfe, verstieße sie doch gegen § 121 Abs. 1 StPO, der im Falle des Widerstreits der bloßen "Verwaltungsvorschrift" des § 87 GVG vorgehen müsse. Insoweit sei zu beanstanden, daß der Gesetzgeber diese Vorschrift nicht so geändert habe, wie es erforderlich wäre, um auch in Schwurgerichtssachen die Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO einzuhalten.

III.

1.

Der Bundesminister der Justiz, der sich für die Bundesregierung geäußert hat, hält die Verfassungsbeschwerde für begründet und führt aus:

Weshalb sich in der Strafsache des Beschwerdeführers die Bestimmung des Hauptverhandlungstermins verzögert habe, lasse sich weder den angegriffenen Entscheidungen noch der Verfassungsbeschwerde entnehmen. Es sei daher auch nicht ersichtlich, aus welchem Grunde der Präsident des Landgerichts keine außerordentliche Tagung des Schwurgerichts einberufen habe, damit das Verfahren innerhalb angemessener Frist erledigt werde. Gegen die Zulässigkeit einer solchen Tagung bestünden auch unter dem Gesichtspunkt der Garantie des gesetzlichen Richters keine Bedenken. Die besondere Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit fordere, von dieser Möglichkeit im Interesse einer zügigen Abwicklung von Haftsachen Gebrauch zu machen.

Die Auffassung, daß eine durch die Geschäftslage des Schwurgerichts bedingte Verzögerung als "wichtiger Grund" im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO die Fortdauer der Haft rechtfertige, sei im vorliegenden Fall mit der Grundentscheidung der Verfassung für die persönliche Freiheit und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Die Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht hierzu entwickelten Grundsätze ergebe, daß die Überlastung der Strafgerichte nicht einseitig zu Lasten des Beschwerdeführers gehen dürfe. Dieser Umstand sei von ihm nicht zu vertreten. Die angegriffenen Entscheidungen ließen keine Abwägung der hier im Streit befindlichen Prinzipien erkennen. Sie hätten lediglich die Belange der Strafverfolgung, nicht aber das hohe Rechtsgut der persönlichen Freiheit berücksichtigt.

2.

Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat mitgeteilt, daß sich der Präsident des Landgerichts bei der Verteilung der Verfahren auf die einzelnen Schwurgerichtstagungen an die Reihenfolge halte, in der ihm verhandlungsbereite Sachen vorgelegt würden. Den Haftsachen gebe er dabei keine Priorität. Selbst wenn er sie vorzöge - was er im Hinblick auf den Grundsatz des gesetzlichen Richters für bedenklich ansehe - oder Haftsachen einem besonderen Schwurgericht zugeteilt werden könnten, bliebe doch zweifelhaft, ob sich damit eine wesentliche Verfahrensbeschleunigung erreichen lasse, da Schwurgerichtssachen ganz überwiegend Haftsachen seien. Zur Frage, ob zu diesem Zwecke weitere Maßnahmen - dichtere Folge der Tagungen und Einsatz zusätzlicher Richter - möglich gewesen wären, hat der Justizminister unter Hinweis auf den Grundsatz der gerichtlichen Selbstverwaltung nicht Stellung genommen. Im übrigen vertritt er die Ansicht, daß eine Überlastung der Strafgerichte, der mit gerichtsorganisatorischen Maßnahmen nicht begegnet werden könne, im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO ein "wichtiger Grund" für die Fortdauer der Untersuchungshaft sei.

B.

I.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie ist auch begründet.

Die angegriffenen Beschlüsse verletzten das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die ihnen zugrundeliegende Auslegung des § 121 Abs. 1 StPO steht mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Schutz der persönlichen Freiheit des Einzelnen nicht in Einklang.

1.

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person - jedoch nicht schrankenlos. Die Freiheit der Person nimmt aber als Basis der allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Daher darf die Einschließung des Beschuldigten in eine Haftanstalt nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet und aufrechterhalten werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten. Zu den Belangen des Gemeinwohls, gegenüber denen der Freiheitsanspruch des Beschuldigten unter Umständen zurücktreten muß, gehören die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung. Diese wäre vielfach nicht möglich, bliebe es den Strafverfolgungsbehörden ausnahmslos verwehrt, den mutmaßlichen Täter schon vor der Verurteilung festzunehmen und bis zum Abschluß des Strafverfahrens in Haft zu halten (BVerfGE 35, 185 [190] mit weiteren Nachweisen). Ein vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser für den Rechtsstaat wichtigen Grundsätze läßt sich indes nur erreichen, wenn den Freiheitsbeschränkungen, die vom Standpunkt der Strafverfolgung aus nötig und zweckmäßig sind, ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegengehalten wird (BVerfGE 19, 342 [347]; 20, 45 [49]; 20, 144 [147]). Dies bedeutet, daß zwischen beiden Rechtsgütern abzuwägen ist, wobei zu berücksichtigen bleibt, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit - auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe - der Haftdauer Grenzen setzt (BVerfGE 20, 45 [49 f.]; 20, 144 [148]). Bei der Abwägung fordert der Umstand Beachtung, daß sich mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft das Gewicht des Freiheitsanspruches gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung vergrößern kann:

Wird der Beschuldigte freigesprochen, so ist der durch die verfahrenssichernde Freiheitsentziehung entstandene Schaden - ungeachtet der finanziellen Ansprüche, die das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) vom 8. März 1971 (BGBl. I S. 157) gewährt - seiner Natur nach irreparabel. Wird er hingegen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, läßt sich der Strafausspruch entweder überhaupt nicht mehr oder nur noch teilweise vollziehen. Da die Untersuchungshaft nach § 60 StGB regelmäßig auf die erkannte Strafe anzurechnen ist, verbleibt bei überlanger Haftdauer, während der sich der Beschuldigte lediglich in Verwahrung befindet, nicht selten kein Strafrest und oftmals nur eine Reststrafzeit, die zu kurz ist, um einen sinnvollen und erfolgversprechenden Strafvollzug zu ermöglichen. Angesichts dieser Umstände verändert sich die verfassungsrechtliche Abwägung zwischen der Strafverfolgungspflicht des Staates und dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten, je länger die Untersuchungshaft währt.

2.

Dem trägt § 121 Abs. 1 StPO insoweit Rechnung, als er den Vollzug von Untersuchungshaft wegen derselben Tat grundsätzlich auf sechs Monate begrenzt und Ausnahmen nur in beschränktem Umfang gestattet. Voraussetzung ist, daß die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Diese Ausnahmetatbestände sind, wie aus dem Wortlaut ersichtlich ist und durch die Entstehungsgeschichte bestätigt wird, eng auszulegen (BVerfGE 20, 45 [50]).

Die Auslegung dieser Bestimmung des einfachen Rechts obliegt allerdings den allgemein dafür zuständigen Gerichten; sie ist der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung nicht in vollem Umfang zugänglich (vgl. BVerfGE 18, 85 [92]). Das gilt auch insoweit, als sich die Aufgabe stellt, den Sinngehalt des Rechtsbegriffs "wichtiger Grund" mit den anerkannten Methoden und Mitteln der Norminterpretation zu erschließen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber zu prüfen, ob die Auslegung dieses Begriffes durch die Gerichte nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit beruht (vgl. BVerfGE 19, 303 [310]; 21, 209 [216]; 22, 93 [98]) und der Vorschrift unter Vernachlässigung anderer Auslegungsmöglichkeiten einen verfassungswidrigen Sinn beilegt. Denn das Gebot verfassungskonformer Auslegung verlangt, von mehreren, nach Wortlaut und Gesetzeszweck möglichen Normdeutungen, von denen die eine zu einem verfassungswidrigen, die andere zu einem verfassungsmäßigen Ergebnis führt, diejenige vorzuziehen, die sich mit dem Grundgesetz vereinbaren läßt (BVerfGE 32, 373 [383 f.) mit weiteren Nachweisen).

Wird ein "wichtiger Grund" im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO festgestellt, bleibt noch zu prüfen, ob die Fortdauer der Haft nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist.

3.

Nach diesen Grundsätzen kann die von Land- und Oberlandesgericht vertretene Auslegung des § 121 Abs. 1 StPO vor der Verfassung keinen Bestand haben.

Beide Gerichte betrachten es als einen "wichtigen Grund", wenn die Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen dazu führt, daß zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens und dem Beginn der Hauptverhandlung eine erheblich längere Zeitspanne verstreicht, als sie zur ordnungsgemäßen Vorbereitung der Verhandlung erforderlich wäre. Die angegriffenen Entscheidungen machen freilich nicht hinreichend deutlich, ob nach Auffassung der Gerichte die Möglichkeit ausschied, der Überlastung mit organisatorischen Maßnahmen zu begegnen. Klarheit hierüber ergibt sich insbesondere nicht aus dem Hinweis des Oberlandesgerichts, Abhilfe lasse sich nicht dadurch schaffen, daß zur Beschleunigung des Verfahrens ein weiteres Schwurgericht gebildet werde, da dies nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 21, 191) unstatthaft sei. Denn es gibt - wie noch darzustellen sein wird - auch andere Mittel und Wege, der Überlastung eines Schwurgerichts vorzubeugen oder abzuhelfen. Die Frage kann indessen auf sich beruhen, da die Entscheidung hiervon nicht abhängt.

a) Die Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen ist im Lichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zunächst dann kein "wichtiger Grund", wenn im Rahmen der vorhandenen Gerichtsausstattung mit personellen und sächlichen Mitteln die Möglichkeit besteht, durch organisatorische Maßnahmen die Erledigung aller Sachen binnen verfahrensangemessener Fristen sicherzustellen, insbesondere zu vermeiden, daß sich in Haftsachen nach Eröffnung des Hauptverfahrens der Beginn der Hauptverhandlung erheblich verzögert. Zu solchen organisatorischen Maßnahmen gehört, daß der Präsident des Landgerichts gemäß § 87 GVG von vornherein eine dem voraussichtlichen Geschäftsanfall entsprechende Zahl von Schwurgerichtstagungen vorsieht. Dazu zählt weiter, daß er, wenn die geplante Anzahl der Tagungen wider Erwarten nicht ausreicht, im Laufe des Geschäftsjahrs außerordentliche Tagungen anberaumt. Dagegen bestehen unter dem Gesichtspunkt der Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) keine Bedenken, da die hierfür notwendigen Richter - außer in dem in § 83 Abs. 3 GVG geregelten Verfahren - schon vor Beginn des Geschäftsjahrs bestellt werden können. Vor allem haben die Präsidien des Oberlandes- und Landgerichts gemäß § 83 Abs. 1 und 2 GVG im Rahmen des Möglichen so viele Vorsitzende und andere Richter zu Schwurgerichtstagungen einzuteilen, daß genügend verschiedene Spruchkörper zur Verfügung stehen, damit die im Interesse der Verfahrensbeschleunigung wichtige Möglichkeit genutzt werden kann, mehrere Tagungen kurz hintereinander beginnen und teilweise gleichzeitig stattfinden zu lassen (vgl. BGHSt 21, 191 [193]; 21, 222 [223]; 24, 254 [255]; Kleinknecht, StPO, 30. Aufl. (1971), § 87 GVG Anm. 1; Schäfer in: Löwe- Rosenberg, StPO, 21. Aufl. (1965), § 87 GVG Anm. 2). Dabei ist unter Umständen auch auf Richter zurückzugreifen, die nach der Geschäftsverteilung nicht Strafsachen bearbeiten, sondern andere richterliche Geschäfte erledigen.

Beruht in einer Schwurgerichtssache eine erhebliche Hinauszögerung des Beginns der Hauptverhandlung darauf, daß diese Möglichkeiten nicht ausgeschöpft worden sind, so ist der weitere Haftvollzug nach Ablauf der für die Vorbereitung der Verhandlung notwendigen Zeit schon aus diesem Grunde verfassungswidrig. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits ausgesprochen, daß der Vollzug von Untersuchungshaft, deren Dauer die Frist des § 121 Abs. 1 StPO erheblich überschreitet, gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verstößt, wenn die Überschreitung dadurch verursacht ist, daß die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nicht alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (BVerfGE 20, 45 [50]; 21, 184 [187]; 21, 220 [222]; 21, 223 [226]). Das gleiche muß aber auch gelten, sofern der Grund einer derartigen Überschreitung darin liegt, daß sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens der Beginn der Hauptverhandlung in einer verhandlungsbereiten Sache infolge vermeidbarer gerichtsorganisatorischer Fehler oder Versäumnisse erheblich verzögert.

b) Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Landgerichts mit Schwurgerichtssachen ist jedoch angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG selbst dann kein "wichtiger Grund, der weiteren Haftvollzug rechtfertigt", wenn sie auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Fristen bewältigen läßt. Auch sofern dies die Ursache dafür ist, daß eine Strafsache nach Eröffnung des Hauptverfahrens geraume Zeit - im Falle des Beschwerdeführers mehr als acht Monate - nicht zur Verhandlung kommt, darf der Beschuldigte nach Ablauf der in § 121 Abs. 1 StPO bestimmten Frist deshalb nicht länger in Haft gehalten werden, als es die ordnungsgemäße Vorbereitung der Hauptverhandlung erfordern würde. Die gegenteilige, von einigen Oberlandesgerichten - mit gewissen Einschränkungen - geteilte Auffassung (OLG Hamm, NJW 1973, S. 720; für Strafkammersachen: OLG Hamburg, NJW 1965, S. 1777 [1778]; OLG Köln, NJW 1973, S. 912; a. A. aber: OLG Oldenburg, NJW 1968, S. 808 und Bartsch, NJW 1973, S. 1303 [1307]) verkennt Bedeutung und Tragweite des Grundrechts der persönlichen Freiheit und unterstellt der Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO einen verfassungswidrigen Sinn.

Die Auslegung des dort gebrauchten Merkmals "wichtiger Grund" muß sich - entsprechend den oben entwickelten Grundsätzen - danach orientieren, zu welchem Ergebnis eine Abwägung führt, bei der angesichts des bereits sechs Monate währenden Haftvollzugs der Freiheitsanspruch des Beschuldigten den staatlichen Strafverfolgungsbelangen mit verstärktem Gewicht gegenübertritt. Diese Abwägung ergibt aber, daß eine Überlastung des Gerichts den Vorrang der Strafverfolgungspflicht des Staates gegenüber dem Freiheitsanspruch des Beschuldigten nicht zu begründen vermag.

Der inhaftierte Beschuldigte hat es nicht zu vertreten, wenn seine Strafsache nicht binnen angemessener Zeit zur Verhandlung gelangt, weil dem Gericht die personellen oder sächlichen Mittel fehlen, die zur ordnungsgemäßen Bewältigung des Geschäftsanfalls erforderlich wären. Dies ist zwar für sich genommen noch nicht entscheidend. Denn gleiches trifft auch auf andere Umstände zu, die - wie etwa die Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter infolge von Krankheit - dem Einfluß des Beschuldigten ebenfalls entzogen sind, gleichwohl aber wichtige Gründe für die Fortdauer der Haft abgeben können (vgl. Dünnebier in: Löwe-Rosenberg, StPO, 22. Aufl. (1972), § 121 Anm. 8). Bedeutung gewinnt dieser Gesichtspunkt jedoch im Zusammenhalt mit der Tatsache, daß die Überlastung eines Gerichts - anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse - in den Verantwortungsbereich der staatlich verfaßten Gemeinschaft fällt. Der Staat kann sich dem Untersuchungsgefangenen gegenüber nicht darauf berufen, daß er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen. Es ist seine Aufgabe, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen. Er hat die dafür erforderlichen - personellen wie sächlichen - Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen. Diese Aufgabe folgt aus der staatlichen Pflicht zur Justizgewährung, die Bestandteil des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips ist. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Untersuchungshaft nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, dieser Pflicht zu genügen. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß im Einzelfall andere "wichtige Gründe" vorliegen können, die die Fortdauer der Haft rechtfertigen.

II.

Demgemäß ist die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidungen festzustellen. Ihre Aufhebung kommt indessen nicht in Betracht, da sie inzwischen überholt sind, nachdem der Beschwerdeführer - wenn auch noch nicht rechtskräftig - zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren sechs Monaten verurteilt worden ist und das Schwurgericht nach der Urteilsverkündigung durch einen neuerlichen Beschluß die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet hat.

III.

Die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen sind zu erstatten (§ 34 Abs. 4 BVerfGG). Die Erstattungspflicht trifft das Land Nordrhein-Westfalen, dem die erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist.

IV.

Diese Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig ergangen.

Seuffert, v. Schlabrendorff, Rupp, Geiger, Hirsch, Rinck, Rottmann, Wand

Abweichende Meinung der Richter Dr. v. Schlabrendorff, Dr. Geiger und Dr. Rinck zur Begründung des Beschlusses des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Dezember 1973 - 2 BvR 558/73

I.

Der zu entscheidende Fall macht es nicht notwendig, sich in abschließende Erörterungen über die Grenzen einzulassen, die § 121 Abs. 1 StPO der Strafjustiz bei der Aufrechterhaltung eines Haftbefehls zieht. Wie noch darzulegen sein wird, enthält deshalb der Beschluß vom 12. Dezember 1973 teilweise Ausführungen, die obiter dicta sind.

II.

Vorweg ist auch klarzustellen, daß § 121 Abs. 1 StPO in der Hand der Gerichte nicht zum Hebel für justizpolitische Forderungen gemacht werden darf. Auch das Bundesverfassungsgericht hat nicht Rechtspolitik zu betreiben. Deshalb kann es beispielsweise kein Argument für die Auslegung der Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO sein, sie müsse verhindern, daß der Vollzug der Untersuchungshaft praktisch den Vollzug der Strafhaft verdränge oder daß infolge der Dauer der auf die Strafe anzurechnenden Untersuchungshaft der noch verbleibende Rest von Strafhaft für sinnvolle Resozialisierungsbemühungen nicht ausreiche; ebensowenig wäre die rechtspolitische Absicht, mit Hilfe des § 121 Abs. 1 StPO die Justizverwaltung, die für die Aufstellung des Justizhaushalts Verantwortlichen und den Gesetzgeber zu nötigen, mehr Planstellen zu bewilligen, mehr Kräfte einzustellen, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen und die Justizreform auf den Weg zu bringen, ein zureichendes Argument. Notwendigkeiten dieser Art können die Folge einer Interpretation des § 121 Abs. 1 StPO sein, sie dürfen aber nicht umgekehrt das Ziel oder der Zweck der Auslegung sein oder das Ergebnis der Auslegung bestimmen.

III.

§ 121 Abs. 1 StPO muß im Zusammenhang mit den übrigen Regelungen der Untersuchungshaft gesehen und ausgelegt werden. Eine Zusammenschau dieser Vorschriften, insbesondere der §§ 112, 112a, 113, 116, 116a, 117, 120, 121, 122, 122a, 123, 126 StPO ergibt:

1.

Eine erste allgemeine und elementare Einschränkung der Verhängung von Untersuchungshaft ist, daß der Beschuldigte einer Straftat "dringend verdächtig" sein muß. Entfällt der dringende Tatverdacht im Zuge der Ermittlungen, so ist der Beschuldigte unverzüglich zu entlassen.

2.

Untersuchungshaft kann außerdem nur angeordnet werden, wenn einer der im Gesetz abschließend aufgezählten Haftgründe vorliegt, also wenn feststeht, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO) oder wenn Fluchtgefahr gegeben ist (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) - sie wird gleichsam fingiert in den Fällen des § 112 Abs. 3 StPO - oder wenn Verdunkelungsgefahr besteht (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) oder wenn der Haftgrund der "besonderen Gefährlichkeit" nach Maßgabe des § 112a StPO vorliegt. Sobald keiner der Haftgründe mehr vorliegt, ist der Haftbefehl aufzuheben.

3.

Das Haftrecht wird schließlich allgemein durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht. Daraus hat der Gesetzgeber die Folgerungen gezogen: § 113 StPO schließt bei leichteren Taten die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr aus (Abs. 1) und knüpft Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr an besonders qualifizierte Voraussetzungen (Abs. 2). Gemäß §§ 116, 116a StPO wird Haftverschonung gewährt, wenn der Zweck der Untersuchungshaft durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann. Nach § 120 schließlich ist der Haftbefehl aufzuheben, wenn die weitere Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßnahme der Sicherung und Besserung aurfGEä(28¸È&ßer Verhältnis stehen würde.

4.

Innerhalb dieses Kontextes verliert § 121 Abs. 1 StPO den Charakter eines "selbständigen" Haftbeendigungsgrundes. Erst im Zusammenhang mit § 122a gewinnt er für den Haftgrund des § 112a (besondere Gefährlichkeit des Beschuldigten für seine Umgebung) die Bedeutung, daß er in diesen Fällen die Haft zeitlich zwingend auf eine Höchstdauer von einem Jahr beschränkt. Im übrigen bezweckt er, durch Hervorhebung des mit jeder vermeidbaren Verzögerung des Verfahrens verbundenen Nachteils für den in seiner persönlichen Freiheit beschränkten Beschuldigten eine besonders sorgfältige Prüfung der Berechtigung der Haftfortdauer sicherzustellen; § 122 StPO überträgt deshalb diese Aufgabe einem besonders qualifizierten "Haftrichter", dem Oberlandesgericht. Dieser Zusammenhang ergibt eindeutig, daß das Oberlandesgericht auf Vorlage umfassend zu prüfen hat, ob die Fortdauer oder die Aufhebung der Haft anzuordnen ist, also den Haftbefehl nicht einfach, weil eine Verzögerung des Verfahrens eingetreten ist und die Haft länger als sechs Monate dauert, aufheben darf, ohne abgewogen zu haben, ob trotz der auf einem wichtigen Grund beruhenden Verzögerung des Verfahrens die Fortdauer der Untersuchungshaft gerechtfertigt werden kann. Mit anderen Worten: § 121 StPO ist nicht eine lex specialis, die für den Verfahrensabschnitt vor Erlaß des Urteils den Haftgrund der Fluchtgefahr oder der Verdunkelungsgefahr oder der besonderen Gefährlichkeit des Beschuldigten für seine Umgebung rechtlich unerheblich werden läßt, also Staatsanwaltschaft und Gericht wegen Verzögerung des Verfahrens gleichsam damit "bestraft", daß sie den Beschuldigten freilassen müssen trotz bestehender Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr oder insbesondere trotz seiner besonderen Gefährlichkeit für seine Umgebung.

5.

Die Auslegung des § 121 Abs. 1 StPO selbst ergibt schließlich:

Die Aufrechterhaltung der Haft ist hier davon abhängig gemacht, daß "die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen". Aus dieser Formulierung ergibt sich ganz eindeutig, daß nicht von der Auffassung, daß die Fortdauer der Haft gerechtfertigt ist, auf die Qualifizierung eines Umstandes als "wichtiger Grund" geschlossen werden kann. Vielmehr ist zunächst zu ermitteln, was ein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO ist, und dann weiter zu prüfen, ob dieser wichtige Grund die Haftfortdauer rechtfertigt. Anders ausgedrückt: Der wichtige Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO kann im Einzelfall die Fortdauer der Haft rechtfertigen, muß es aber nicht. Denn was von den ausdrücklich genannten wichtigen Gründen - "besondere Schwierigkeit der Ermittlungen" oder "besonderer Umfang der Ermittlungen" - gilt, muß auch von den unbenannten anderen wichtigen Gründen gelten. Der "andere wichtige Grund" muß seiner Art und seinem Gewicht nach ähnlich den beiden benannten wichtigen Gründen sein. Berücksichtigt man, daß Vorschriften des Strafprozeßrechts innerhalb des Systems unseres Rechts generell sich nur an Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte wenden können und nur sie zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, so liegt nahe, alle Umstände, die von den genannten Rechtspflegeorganen "beherrscht" werden können, also von ihnen, soweit sie dem Beschuldigten nachteilig werden, vermieden oder behoben werden können, als nicht wichtigen Grund anzusehen, dagegen jeden eine Verzögerung verursachenden Umstand, der jenseits ihrer Macht liegt, als "wichtigen Grund", der den benannten beiden wichtigen Gründen gleichartig ist, zu qualifizieren. Der so umschriebene "wichtige Grund" muß nun - in einem zweiten Schritt der Überlegung - im konkreten Fall die Fortdauer der Haft "rechtfertigen". Das ist zu bejahen, wenn bei Fortdauer der Haft der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Bei dieser Beurteilung ist - unter anderem und vor allem - nötig die Abwägung zwischen dem Grundrecht des Beschuldigten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit einerseits und den Interessen an einer wirksamen Strafverfolgung andererseits, wenn der Haftgrund der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr dem Haftbefehl zugrundeliegt, und eine Abwägung zwischen dem Grundrecht des Beschuldigten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit einerseits und dem Anspruch Dritter auf Leben, Gesundheit, körperliche, insbesondere geschlechtliche Integrität andererseits, wenn dem Haftbefehl der Haftgrund der besonderen Gefährlichkeit für die Umgebung des Beschuldigten (§ 112a StPO) zugrundeliegt (vgl. BVerfGE 19, 342 [349 f.]).

IV.

In dieser Auslegung ist sowohl das geltende Haftrecht im allgemeinen als auch § 121 Abs. 1 StPO im besonderen mit der Verfassung, insbesondere den Grundrechten der Art. 1, 2, 3 GG vereinbar.

V.

In Anwendung auf den konkreten Fall bedeutet das für die verfassungsrechtliche Prüfung:

1.

Der Beschluß des Landgerichts vom 7. Juli 1973, der die Haftfortdauer anordnet, begnügt sich in seiner Begründung, soweit sie verfassungsrechtlich erheblich ist, mit der summarischen Feststellung, der "Grundsatz der Verhältnismäßigkeit" sei "gewahrt". Der Beschluß des Oberlandesgerichts vom 18. Juli 1973 enthält zu dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der "Verhältnismäßigkeit" und zu der bei der Anwendung des § 121 Abs. 1 StPO erforderlichen Abwägung zwischen dem Grundrecht des Beschuldigten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung - der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt - kein Wort. Er stellt auch keine Erwägungen darüber an, ob der Haftbefehl im konkreten Fall auf § 112a Abs. 1 StPO gestützt werden könnte und wie in diesem Fall zwischen dem Grundrecht des Beschuldigten auf Wahrung seiner persönlichen Freiheit und dem Grundrecht Dritter auf Schutz ihres Lebens, ihrer Gesundheit, ihrer körperlichen Integrität abzuwägen ist. Damit haben die angegriffenen Beschlüsse die Bedeutung des Grundrechts des Art. 2 Abs. 2 GG in seiner Auswirkung auf den Anwendungsbereich des § 121 Abs. 1 StPO verkannt. Sie verletzen deshalb das genannte Grundrecht.

2.

Dagegen kann von Verfassungs wegen nicht gefordert werden, daß Parlament, Haushaltsausschuß und Justizministerium alles zur Beseitigung einer Überlastung der Gerichte in Strafsachen Erforderliche getan haben müssen, damit im Falle einer auf eine Unterlassung jener Stellen zurückzuführenden Verzögerung eines Schwurgerichtsverfahrens die Haft nach § 121 Abs. 1 StPO aufrechterhalten werden kann.

v. Schlabrendorff Geiger Rinck