BVerfG, 11.11.1953 - 1 BvL 67/52
Mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl ist ein Landesgesetz nicht vereinbar, nach dem die Partei oder Parteiengruppe, die eine Reserveliste eingereicht hat, nach der Wahl bei Erschöpfung dieser Reserveliste die nachrückenden Ersatzleute bestimmt.
Beschluß
des Ersten Senats vom 11. November 1953
- 1 BvL 67/52 -
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 38 Abs. 3 des Wahlgesetzes für die Gemeinde- und Kreisvertretungen in Schleswig-Holstein in der Fassung vom 3. Februar 1951 (GVBl. S. 23) auf Antrag des Landesverwaltungsgerichts Schleswig in der Verwaltungsstreitsache des Willi F. gegen die Gemeindevertretung Brunsbüttel - I 358/51 -
Entscheidungsformel:
§ 38 Abs. 3 des Wahlgesetzes für die Gemeinde- und die Kreisvertretungen in Schleswig-Holstein in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes vom 3. Februar 1951 (GVBl. S. 23) ist nichtig.
Gründe
I.
Vor dem Landesverwaltungsgericht Schleswig ist eine Verwaltungsstreitsache des Gemeindevertreters Willi F., Brunsbüttel, gegen die Gemeindevertretung Brunsbüttel anhängig (Az. I 358/ 51), der folgender Sachverhalt zugrundeliegt:
In der Gemeinde Brunsbüttel lehnten zwei bei der Gemeindewahl vom 29. April 1951 gewählte Bewerber der Parteiengruppe Kommunale Wählervereinigung Brunsbüttel ihre Wahl ab. Alle auf dem Wahlvorschlag verzeichneten weiteren Bewerber verzichteten auf ihr Nachrücken. Daher benannte die Wählervereinigung gemäß § 38 Abs. 3 des Wahlgesetzes (GKWG) zwei Ersatzleute, die nicht auf ihrem Listenvorschlag gestanden hatten. Der Gemeindewahlleiter stellte dementsprechend die beiden nachträglich benannten Personen als Ersatzleute fest. Der Kläger legte hiergegen Einspruch ein, den die Beklagte zurückwies. Darauf erhob er die Verwaltungsklage.
Der Kläger machte geltend:
Die Feststellung der beiden Ersatzleute sei rechtswidrig, weil § 38 Abs. 3 GKWG, auf dem sie beruhe, gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl (Art. 28 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 der Landessatzung für Schleswig-Holstein) verstoße.
Dieser Meinung hat sich das Landesverwaltungsgericht angeschlossen; es hat durch Beschluß vom 25. Juli 1952 das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 100 Abs. 1 GG die Akten dem Bundesverfassungsgericht über das Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein zur Entscheidung über die Vereinbarkeit des § 38 Abs. 3 GKWG mit dem Grundgesetz vorgelegt.
Dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, dem Landtag und der Landesregierung von Schleswig-Holstein sowie den an der Verwaltungsstreitsache Beteiligten ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden.
Die Bundesregierung hat sich der Ansicht des Landesverwaltungsgerichts angeschlossen, ohne dem Verfahren beizutreten.
Die Landesregierung von Schleswig-Holstein hat ohne weitere Äußerung zur Sache für den Fall der Nichtigerklärung des § 38 Abs. 3 GKWG vorsorglich beantragt, in der Entscheidung klarzustellen, inwieweit die Nichtigkeit der Vorschrift auf die Mandate derjenigen Ersatzleute Einfluß hat, die auf Grund dieser Vorschrift endgültig als Gemeinde- oder Kreisvertreter festgestellt worden sind. Auf mündliche Verhandlung hat die Landesregierung verzichtet.
Weitere Äußerungen sind nicht eingegangen.
II.
Gegen die Zulässigkeit der Vorlage bestehen keine Bedenken.
Allerdings ist die Formvorschrift des § 80 Abs. 1 BVerfGG verletzt. Sie bestimmt, daß die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht durch das zur Entscheidung berufene Gericht (über das oberste Verwaltungsgericht des Landes) erfolgen muß. Hier aber hat der Präsident des Landesverwaltungsgerichts Schleswig, der an dem Aussetzungs- und Vorlagebeschluß nicht als Richter beteiligt war, die Akten weitergeleitet. Das macht jedoch die Vorlage nicht unzulässig.
§ 80 Abs. 1 BVerfGG soll gewährleisten, daß keine Stelle, die Dienstaufsicht ausübt, Einfluß auf den Vorgang der Vorlage oder Nichtvorlage und auf den Inhalt des Aussetzungs- und Vorlagebeschlusses nimmt. Nach dem Beschluß der Kammer des Landesverwaltungsgerichts bedurfte es nur noch der Absendung an das Bundesverfassungsgericht über das Oberverwaltungsgericht. Hierfür war nur eine richterliche Verfügung zulässig, mit der die Geschäftsstelle zur Weiterleitung veranlaßt wurde. Daß die Verfügung durch den Präsidenten des Gerichts und nicht durch einen Richter der Kammer erlassen wurde, entspricht nicht dem Gesetz. Es macht die Vorlage jedoch nicht unzulässig, weil der Präsident des Gerichts tatsächlich keinen Einfluß ausgeübt hat. Das Gerichtsprotokoll der Sitzung vom 25. Juli 1952 ergibt, daß der Beschluß so, wie er dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt worden ist, an diesem Tag verkündet worden war. Der Präsident des Landesverwaltungsgerichts, der nicht als Richter mitgewirkt hatte, ist mit dem Aussetzungs- und Vorlagebeschluß erst nachträglich befaßt worden und hat sachlichen Einfluß nicht genommen.
Die zu prüfende Norm ist erst nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes Gesetz geworden, so daß das Bundesverfassungsgericht auf die Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur materiellen Entscheidung berufen ist.
Zwar ist das Gemeinde- und Kreiswahlgesetz in seiner ursprünglichen Form bereits am 15. Juni 1948 (GVBl. S. 102) ausgefertigt worden. Die neue Fassung des § 38 Abs. 3 GKWG beruht aber ausschließlich auf dem Änderungsgesetz vom 3. Februar 1951 (GVBl. S. 23).
Einer materiellen Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage durch das Bundesverfassungsgericht steht auch nicht entgegen, daß die erwähnten beiden Ersatzleute nach Mitteilung der Wählervereinigung aus der Gemeindevertretung wegen Umsiedlung ausgeschieden sind. Es muß der Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts vorbehalten bleiben, ob über die Verwaltungsklage trotzdem materiell entschieden werden soll.
Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung ergehen. Die Landesregierung von Schleswig-Holstein, die wegen des von ihr gestellten Hilfsantrags am Verfahren beteiligt ist, hat ausdrücklich auf mündliche Verhandlung verzichtet; sonst ist kein Beteiligter vorhanden, der gemäß § 25 BVerfGG verzichtet haben müßte. Die übrigen zur Äußerung gemäß § 82 Abs. 1 i.V.m. § 77 BVerfGG aufgeforderten Verfassungsorgane haben eine Beitrittserklärung nach § 82 Abs. 2 BVerfGG nicht abgegeben. Die Äußerung eines Verfassungsorgans stellt für sich allein keine Beitrittserklärung dar. Die Parteien des ausgesetzten Prozesses, denen auch Gelegenheit zur Äußerung zu geben ist und die zu einer etwaigen mündlichen Verhandlung zu laden sind, haben nicht die Stellung eines Beteiligten in diesem Verfahren; ihr Verzicht auf mündliche Verhandlung ist daher nicht erforderlich.
III.
Der Ansicht des vorlegenden Gerichts, § 38 Abs. 3 GKWG sei mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG nicht vereinbar, ist beizutreten.
1. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht nur die materiellrechtliche Grundlage für irgendwelche Maßnahmen der Bundesaufsicht, sondern eine objektive Verfassungsnorm, deren Verletzung durch ein Landesgesetz auch im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Feststellung der Unvereinbarkeit dieses Gesetzes mit dem Grundgesetz führen kann. Dafür spricht auch § 91 BVerfGG. Das Bundesverfassungsgericht muß gegebenenfalls auf die Verfassungsbeschwerde einer Gemeinde hin eine gegen Art. 28 GG verstoßende Norm als nichtig feststellen. Zwar ist das Bundesverfassungsgerichtsgesetz nur einfaches Gesetz; es ist aber geeignet, zur Auslegung des Grundgesetzes herangezogen zu werden.
2. Die Bedeutung des Begriffs "Unmittelbarkeit der Wahl" braucht nicht erschöpfend untersucht zu werden. Die Unvereinbarkeit des § 38 Abs. 3 GKWG mit diesem Verfassungsgrundsatz ergibt sich schon aus folgenden Gründen:
Durch die Unmittelbarkeit soll zumindest gewährleistet sein, daß die gewählten Vertreter maßgeblich von den Wählern, also durch die Stimmabgabe und bei der Stimmabgabe bestimmt werden.
Wenn auch die Parteien im Staatsleben und insbesondere bei der Willensbildung des Volkes eine gewichtige Stellung einnehmen (vgl. Art. 21 Abs. 1 GG), muß ihr rechtlicher Einfluß bei der Wahl doch mit Beginn der Stimmabgabe grundsätzlich abgeschlossen sein; denn nur wenn die Wähler das letzte Wort haben, haben sie das entscheidende Wort. Nur dann kann noch davon die Rede sein, daß die Auswahl unter den Bewerbern auf dem Willen der Wähler beruht. Unmittelbarkeit der Wahl bedeutet in der heutigen konkreten Lage nach herrschender – und keineswegs nur von den Anhängern eines "Persönlichkeitswahlrechts" vertretener – Auffassung Unmittelbarkeit der Wahl der Vertreter und nicht nur ihrer Parteien. Das ergibt sich für den Bundestag aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Die Vertretung des Volkes in den Ländern, Kreisen und Gemeinden beruht aber auf dem gleichen Prinzip (Art. 28 Abs. 1 GG).
Findet nach dem Wahlrecht eine Koppelung statt, indem mit der Wahl einer einzelnen Person die Mitwahl weiterer Persönlichkeiten zwangsläufig verbunden wird, so muß der Wähler diese wenigstens bei seiner Stimmabgabe kennen können. Nur dann wählt er sie noch unmittelbar selbst. Liegt die Bestimmung eines Teils der Vertreter nicht bei den Wählern, sondern bei den vorschlagenden Parteien nach Abschluß der Stimmabgabe, so hat der Wählerwille auf die Auswahl dieser Vertreter nicht mehr unmittelbar Einfluß.
Um den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl bei solchem Wahlrecht zu gewährleisten, ist es also zumindest erforderlich, daß von Beginn der Stimmabgabe an das Wahlergebnis nur noch von einer einzigen Willensentscheidung, nämlich derjenigen der Wähler selbst abhängt, abgesehen allein von Nichtannahme, späterem Rücktritt oder ähnlichen Handlungen der Gewählten selbst (Entscheidung BayerStGH vom 11. und 12. Februar 1930, StGH 4 – 5/1929 = GVBl. 1930 S. 77 ff., insbes. 87 f.; a. M. v. Jan in der Stellungnahme zu dieser Entscheidung, BayerVerwBl. Bd. 78 [1930] S. 76).
Daß sich die einzelnen Wähler bei der Abgabe ihrer Stimmen tatsächlich oft nur für die ihnen genehme Partei oder für den unmittelbar zu wählenden Kandidaten entscheiden, ohne die eingereichte Liste wirklich zu kennen, der ihre Stimme zugute kommen kann, vermag dieses Ergebnis nicht zu ändern. Hält es der einzelne Wähler nicht für nötig, den bekanntgemachten gesamten Wahlvorschlag vor der Wahl einzusehen und zu prüfen, so vertraut er insoweit der vorschlagenden Gruppe und ist mit den so benannten Kandidaten grundsätzlich einverstanden. Es handelt sich dann immer noch um seinen eigenen unmittelbaren Willen, der bestimmt, wem seine Stimme zugute kommen soll. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, daß allgemein die Person der Bewerber und Vertreter ohne Bedeutung für die Wähler sei; dies aber zu unterstellen und in einem Wahlgesetz zu bestimmen, daß eine Partei oder Parteiengruppe nachträglich Ersatzleute benennen darf, die den Wählern bei ihrer Stimmabgabe als Kandidaten nicht bekannt waren und für die sie deshalb ihre Stimme auch nicht abgegeben haben, ist mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht vereinbar. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG würde das selbst dann nicht zulassen, wenn feststünde, daß sämtliche Wähler bei der Stimmabgabe hiermit einverstanden waren. Bei der unmittelbaren Wahl, wie sie von der heute herrschenden Auffassung verstanden wird, kann der Wähler nur eine bestimmte Einzelperson oder eine bestimmte Liste mit im voraus festgelegten Kandidaten wählen.
Wie bei der Bestimmung der gewählten Kandidaten unmittelbar nach der Wahl so muß auch bei der späteren Nachfolge für ausgeschiedene Kandidaten der Grundsatz der Unmittelbarkeit gewahrt bleiben. Zutreffend geht daher das Landesverwaltungsgericht davon aus, daß die durch § 38 Abs. 3 GKWG getroffene Regelung der Nachfolge mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl unvereinbar ist.
Hiernach ist ein Nachrücken bei Erschöpfung der Liste ausgeschlossen.
Wie ein Vergleich des § 38 Abs. 1 Satz 4 bis 7 GKWG alter Fassung (Hinzu-"Wahl" des von der vorgeschlagenen Partei nachträglich benannten Ersatzmannes durch die Gemeindevertretung) mit der hier zu prüfenden neuen Fassung des § 38 Abs. 3 (Feststellung durch den Wahlleiter nach nachträglicher Benennung durch die Partei) und wie die Entstehungsgeschichte ergibt, hat der Schleswig-Holsteinische Gesetzgeber sich bemüht, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden, die dadurch entstehen, daß es vor allem in den von Umsiedlungsaktionen betroffenen Gebieten schwer sein kann, genügend geeignete Bewerber für alle hier im Laufe einer Wahlperiode eintretenden Veränderungen vorzuschlagen. Wenn aber der Verfassungsgrundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht völlig preisgegeben werden soll, so können solche Erwägungen gegenüber der unzweideutigen Bestimmung des Grundgesetzes nicht durchschlagen.
Daher ist die Grundgesetzwidrigkeit und Nichtigkeit des § 38 Abs. 3 GKWG festzustellen.
IV.
Dem Antrag der Landesregierung von Schleswig-Holstein, in der Entscheidung klarzustellen, inwieweit die Nichtigkeit des § 38 auf die Mandate der auf Grund dieser Vorschrift bisher als Vertreter Festgestellten Einfluß hat, kann das Bundesverfassungsgericht nicht entsprechen, auch nicht gemäß § 35 (2. Halbsatz) BVerfGG. In dem Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG hat es nur die Rechtsfrage zu entscheiden, ob die Norm gültig ist (§ 81 BVerfGG). Über die Auswirkungen dieser Entscheidung haben die Wahlprüfungsinstanzen zu befinden.