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Art. 4 GG - Glaubens- und Gewissensfreiheit (Kommentar)

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.

(2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

(3) ¹Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. ²Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.

Inhaltsverzeichnis 

1. Art. 4 Abs. 1 GG – Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit

1.1. Einführung

Art. 4 Abs. 1 GG garantiert die Freiheit des Glaubens, des Gewissens sowie die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Diese Norm gehört zu den zentralen Grundrechten der deutschen Verfassung und verkörpert ein umfassendes Freiheitsrecht im Bereich der individuellen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen. Die Bestimmung ist Teil des verfassungsrechtlichen Schutzes der Persönlichkeitsentfaltung und sichert die unverletzliche Freiheit des Einzelnen, seine religiöse oder weltanschauliche Identität zu leben und zu bekunden. Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistet ein subjektives Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen in religiöse und weltanschauliche Überzeugungen und Praktiken. Zugleich wird hiermit eine pluralistische Gesellschaftsordnung gefördert, in der unterschiedliche Glaubensrichtungen und Weltanschauungen ihren Platz haben.

1.2. Historische Entwicklung

Die Aufnahme des Schutzes der Religionsfreiheit in das Grundgesetz ist maßgeblich durch die historischen Erfahrungen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus geprägt. Während der Weimarer Zeit wurde erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 ausdrücklich verankert (Art. 135 ff. WRV). In der NS-Zeit wurde dieses Grundrecht jedoch erheblich verletzt, insbesondere durch die Verfolgung von Juden und religiöser Minderheiten.

Artikel 135 WRV
Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.

Vor diesem Hintergrund war es für die Väter und Mütter des Grundgesetzes von zentraler Bedeutung, einen wehrhaften Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu gewährleisten, um eine Wiederholung der Gräuel der Vergangenheit zu verhindern und den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft zu sichern.

1.3. Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG

1.3.1. Glaube

Der Begriff des „Glaubens“ umfasst religiöse Überzeugungen im weitesten Sinne. Hierzu zählen sowohl traditionelle Religionen wie das Christentum, Judentum und Islam als auch neue religiöse Bewegungen oder spirituelle Glaubensrichtungen. Der Glaube ist dabei nicht auf bestimmte religiöse Dogmen beschränkt, sondern umfasst individuelle Überzeugungen über transzendente, metaphysische oder kosmologische Fragestellungen. Maßgeblich ist, dass es sich um eine Überzeugung handelt, die der Einzelne als für sich verbindlich und sinnstiftend ansieht.

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde der Glaube als eine „Überzeugung von der Stellung des Menschen in der Welt und seiner Beziehung zu höheren Mächten und tieferen Seinsschichten“ definiert. Diese Definition trägt der Tatsache Rechnung, dass es sich bei Glauben um eine zutiefst persönliche und schwer greifbare Angelegenheit handelt, die sich nicht objektivieren lässt.

1.3.2. Gewissen

Das Gewissen wird als ein innerer ethischer Kompass verstanden, der den Einzelnen zwingt, zwischen „Gut“ und „Böse“ zu unterscheiden und entsprechend seinem moralischen Urteil zu handeln. Das Bundesverfassungsgericht hat das Gewissen als die „innere Stimme“ eines Menschen bezeichnet, die ihm unweigerlich bestimmte Handlungsanweisungen gibt, denen er sich nicht entziehen kann.

Die Gewissensfreiheit schützt somit individuelle moralische Entscheidungen, die aus tiefster innerer Überzeugung getroffen werden. Dies betrifft nicht nur religiöse Handlungen, sondern auch weltanschauliche Entscheidungen, die nicht religiös motiviert sind. Bekannte Fälle der Gewissensfreiheit betreffen die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen oder den Widerstand gegen bestimmte staatliche Handlungsanweisungen, die als moralisch unvertretbar empfunden werden.

1.3.3. Religiöses und weltanschauliches Bekenntnis

Das „religiöse und weltanschauliche Bekenntnis“ umfasst nicht nur die interne Überzeugung des Einzelnen, sondern auch deren äußere Bekundung und Ausübung. Darunter fallen beispielsweise religiöse Riten, das Tragen religiöser Symbole (etwa Kopftuch oder Kreuz), die Teilnahme an religiösen Versammlungen oder die Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft. Art. 4 Abs. 1 GG schützt nicht nur das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion, sondern auch die Freiheit, keine Religion zu haben oder sich von einer Religion abzuwenden.

Das Grundrecht auf die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses ist umfassend und schließt auch nicht-religiöse Weltanschauungen ein. Der Begriff „weltanschaulich“ ist weit gefasst und umfasst alle Überzeugungen, die eine grundlegende Sicht auf die Welt und das Leben zum Ausdruck bringen, etwa humanistische, atheistische oder agnostische Weltanschauungen.

1.4. Der Staat und die Religionsfreiheit

1.4.1. Neutralitätspflicht des Staates

Aus der Religionsfreiheit und der grundrechtlichen Garantie der Glaubensfreiheit folgt die Neutralitätspflicht des Staates in religiösen Angelegenheiten. Der Staat darf keine bestimmte Religion bevorzugen oder benachteiligen. Diese Neutralitätspflicht hat ihren Ursprung in der Trennung von Staat und Kirche, wie sie bereits in der Weimarer Reichsverfassung festgelegt wurde und im Grundgesetz fortwirkt.

Die Neutralitätspflicht bedeutet jedoch nicht, dass der Staat religiöse Gemeinschaften oder Glaubenspraktiken ignorieren oder als irrelevant behandeln darf. Vielmehr muss der Staat einen Rahmen schaffen, in dem unterschiedliche Religionen und Weltanschauungen gleichberechtigt koexistieren können. Der Staat ist damit aufgefordert, den positiven Schutz der Religionsfreiheit zu gewährleisten und für eine pluralistische Gesellschaftsordnung zu sorgen.

1.4.2. Schutzpflicht des Staates

Neben der Neutralitätspflicht besteht eine Schutzpflicht des Staates zugunsten der Religions- und Gewissensfreiheit. Der Staat ist verpflichtet, das Grundrecht vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen, sei es durch Privatpersonen oder gesellschaftliche Gruppierungen. Dies kann beispielsweise durch gesetzliche Regelungen geschehen, die religiöse Diskriminierung verhindern oder den Schutz von religiösen Praktiken sicherstellen.

In bestimmten Fällen muss der Staat zudem positive Maßnahmen ergreifen, um die Ausübung der Religionsfreiheit zu ermöglichen, etwa durch Bereitstellung von Räumen für religiöse Versammlungen oder die Ermöglichung religiöser Feiertage im öffentlichen Dienst.

1.5. Schranken der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit

Art. 4 Abs. 1 GG steht unter einem weitreichenden Schutzvorbehalt, da das Grundrecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vorbehaltlos gewährleistet ist. Dies bedeutet, dass es keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt gibt, der Eingriffe in dieses Grundrecht erlaubt. Dennoch ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht absolut. Eingriffe sind unter bestimmten Voraussetzungen möglich, wenn sie im Rahmen kollidierender Grundrechte oder durch andere verfassungsrechtliche Bestimmungen gerechtfertigt sind.

1.5.1. Kollision mit anderen Grundrechten

Wie jedes Grundrecht kann auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit mit anderen Grundrechten kollidieren. So kann die Religionsausübung etwa mit dem Recht anderer Menschen auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) oder auf die negative Religionsfreiheit (also das Recht, von religiösen Bekundungen verschont zu bleiben) in Konflikt geraten. In solchen Fällen muss eine Abwägung vorgenommen werden, bei der die betroffenen Grundrechte in ein angemessenes Verhältnis zueinander gebracht werden.

1.5.2. Sittengesetz und verfassungsmäßige Ordnung

Die in Art. 2 Abs. 1 GG enthaltenen Schranken der „verfassungsmäßigen Ordnung“ und des „Sittengesetzes“ sind auch auf Art. 4 Abs. 1 GG anwendbar, soweit religiöse oder weltanschauliche Handlungen die Rechte anderer verletzen oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstoßen. Ein Beispiel hierfür ist das Recht auf religiöse Beschneidungen im Rahmen des Judentums oder des Islams, das durch die verfassungsmäßige Ordnung unter strengen Auflagen eingeschränkt werden kann, um das Kindeswohl zu gewährleisten.

2. Art. 4 Abs. 2 GG – Religionsausübungsfreiheit

2.1. Einführung

Art. 4 Abs. 2 GG gewährleistet das Recht auf ungestörte Religionsausübung. Diese Bestimmung ergänzt die in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit und schafft eine zusätzliche Schutzdimension für den Bereich der religiösen Praxis. Während Art. 4 Abs. 1 GG primär den Glauben und das Bekenntnis schützt, konkretisiert Art. 4 Abs. 2 GG das Recht auf Ausübung der Religion und zielt darauf ab, sicherzustellen, dass religiöse Handlungen und Praktiken ungestört vollzogen werden können.

In einem freiheitlichen Rechtsstaat kommt der ungestörten Religionsausübung zentrale Bedeutung zu, insbesondere in einer pluralistischen Gesellschaft, in der unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen koexistieren. Die Freiheit, Religion nicht nur zu bekennen, sondern auch praktisch auszuüben, bildet einen integralen Bestandteil des individuellen und kollektiven Selbstverständnisses von Gläubigen und religiösen Gemeinschaften. Dabei ist das Recht auf ungestörte Religionsausübung nicht auf den privaten Raum beschränkt, sondern umfasst auch öffentliche religiöse Handlungen.

2.2. Historische Entwicklung

Die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung in Art. 4 Abs. 2 GG ist historisch eng mit der Entwicklung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland verknüpft. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919, auf deren Religionsbestimmungen das Grundgesetz in Art. 140 GG ausdrücklich verweist, legte ebenfalls besonderen Wert auf den Schutz der Religionsfreiheit und der religiösen Ausübung. Art. 135 S. 2 WRV stellt das Vorbild des heutigen Art. 4 Abs. 2 GG dar:

Artikel 135 WRV
Alle Bewohner des Reichs genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt.

In der NS-Zeit wurde die Religionsfreiheit massiv eingeschränkt, und religiöse Gruppierungen, die nicht mit der Ideologie des Regimes übereinstimmten, wurden verfolgt. Dies schuf nach dem Zweiten Weltkrieg den dringenden Bedarf, in der neuen Verfassung Deutschlands eine erneute, starke Schutzgarantie für die Religionsfreiheit einschließlich der ungestörten Ausübung zu verankern.

2.3. Schutzbereich des Art. 4 Abs. 2 GG

2.3.1. Religionsausübung

Der Begriff der „Religionsausübung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 GG umfasst sämtliche religiösen Handlungen und Praktiken, die in einem Zusammenhang mit der Glaubensüberzeugung stehen. Der Schutzbereich erstreckt sich sowohl auf individuelle als auch kollektive Formen der Religionsausübung. Erfasst sind insbesondere gottesdienstliche Handlungen, religiöse Riten und Zeremonien, Gebete, das Fasten, Wallfahrten und das Tragen religiöser Kleidung oder Symbole.

Religionsausübung umfasst dabei nicht nur den rein spirituellen Aspekt der Religion, sondern auch äußere Handlungen, die Ausdruck der religiösen Überzeugung sind. Dies bedeutet, dass auch kultische Praktiken wie die Feier von Gottesdiensten, Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützt werden.

2.3.2. Ungestörtheit der Religionsausübung

Der Begriff der „Ungestörtheit“ bedeutet, dass die Religionsausübung nicht durch staatliche oder private Eingriffe beeinträchtigt werden darf. Dies bezieht sich sowohl auf direkte Eingriffe, wie etwa Verbote oder Einschränkungen religiöser Handlungen, als auch auf mittelbare Beeinträchtigungen, die die Ausübung erschweren oder unmöglich machen. Der Staat ist verpflichtet, Eingriffe Dritter in die Religionsausübung abzuwehren und ein Umfeld zu schaffen, das die Ausübung der Religion ermöglicht.

Die Ungestörtheit bezieht sich dabei nicht nur auf den rein formalen Schutz vor staatlicher Repression, sondern auch auf die faktischen Voraussetzungen der Religionsausübung. Das bedeutet, dass der Staat in bestimmten Fällen positive Maßnahmen ergreifen muss, um sicherzustellen, dass religiöse Praktiken tatsächlich ausgeübt werden können. Dies kann beispielsweise den Schutz religiöser Stätten vor Vandalismus oder den Erhalt von Ruhezeiten für religiöse Zeremonien umfassen.

2.4. Der Staat und die Religionsausübung

2.4.1. Schutzpflichten des Staates

Art. 4 Abs. 2 GG begründet nicht nur ein Abwehrrecht des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe, sondern auch Schutzpflichten des Staates. Der Staat ist verpflichtet, den Einzelnen und religiöse Gemeinschaften vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen. Diese Schutzpflicht erfordert, dass der Staat geeignete gesetzliche, administrative und organisatorische Maßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Religionsausübung ungestört stattfinden kann.

Ein Beispiel für die staatliche Schutzpflicht wäre etwa die Gewährleistung der Sicherheit von Religionsstätten und religiösen Versammlungen, etwa durch Polizeischutz bei religiösen Prozessionen oder Veranstaltungen, die möglicherweise Ziel von Störungen oder Übergriffen sein könnten. Auch die Schaffung von rechtlichen Rahmenbedingungen für den Bau von Gotteshäusern fällt unter die Schutzpflicht des Staates.

2.4.2. Neutralitätspflicht des Staates

Der Staat ist im Bereich der Religion und Weltanschauung zur Neutralität verpflichtet. Er darf keine Religion oder Weltanschauung bevorzugen oder benachteiligen. Diese Neutralitätspflicht wirkt sich auch auf die Ausgestaltung der staatlichen Schutzpflichten aus. Der Staat darf keine Maßnahmen ergreifen, die den Eindruck erwecken, er bevorzuge eine bestimmte Religion gegenüber anderen. Gleichzeitig darf er jedoch den Schutz religiöser Praktiken nicht vernachlässigen, um den Schein der Neutralität zu wahren.

Die Neutralität des Staates bedeutet jedoch nicht, dass er sich vollständig aus religiösen Angelegenheiten heraushalten muss. Vielmehr hat er die Aufgabe, einen pluralistischen Rahmen zu schaffen, in dem unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gleichberechtigt nebeneinander existieren können.

2.5. Schranken der ungestörten Religionsausübung

Obwohl Art. 4 Abs. 2 GG die Religionsausübung vorbehaltlos gewährleistet, bedeutet dies nicht, dass dieses Grundrecht absolut ist. In bestimmten Fällen kann es eingeschränkt werden, wenn andere Rechtsgüter von Verfassungsrang betroffen sind. Solche Einschränkungen müssen jedoch verfassungskonform erfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zur Beeinträchtigung des Grundrechts stehen.

2.5.1. Kollidierendes Verfassungsrecht

Einschränkungen der Religionsausübung sind möglich, wenn diese mit anderen Grundrechten oder Verfassungsprinzipien kollidieren. In solchen Fällen ist eine Abwägung vorzunehmen, bei der das betroffene Grundrecht der Religionsausübung gegen das konkurrierende Rechtsgut abgewogen wird. Häufig betroffene Grundrechte sind das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) oder das Recht auf Gleichbehandlung (Art. 3 GG). Ein prominentes Beispiel ist die Diskussion um religiös motivierte Beschneidungen und das Spannungsverhältnis zwischen Religionsfreiheit und Kindeswohl.

2.5.2. Schranken aus der verfassungsmäßigen Ordnung

Die verfassungsmäßige Ordnung stellt eine weitere mögliche Schranke für die Religionsausübung dar. Sie umfasst die Gesamtheit der Rechtsnormen, die formell und materiell mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. Eingriffe in die Religionsausübung müssen durch formelle Gesetze erfolgen und sich innerhalb des Rahmens der verfassungsmäßigen Ordnung bewegen. In der Praxis bedeutet dies, dass religiöse Handlungen, die gegen allgemeine Gesetze verstoßen oder die Rechte anderer beeinträchtigen, beschränkt werden können. So können etwa Lärmschutzbestimmungen oder Versammlungsauflagen für religiöse Prozessionen gerechtfertigt sein, wenn sie im Interesse des Schutzes Dritter stehen.

2.6. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

2.6.1. Kopftuch-Urteile

Es gibt eine Vielzahl von sog. Kopftuch-Urteilen. Eine der bekanntesten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 1 GG betrifft das Tragen des Kopftuchs durch muslimische Lehrerinnen im öffentlichen Dienst.1 In seinen Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der religiösen Neutralität des Staates hervorgehoben und zugleich den Schutz der individuellen Glaubensfreiheit betont. Das Tragen des Kopftuchs fällt demnach unter den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG, und ein pauschales Verbot wäre verfassungswidrig, es sei denn, es besteht eine hinreichende konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die Neutralität des Staates.

2.6.2. Religiöse Symbole im öffentlichen Raum

Auch zu religiösen Symbolen in öffentlichen bzw. staatlichen Räumen, etwa Klassenzimmern oder Gerichtssälen, gibt es ein Vielzahl von Gerichtsentscheidungen. In einer Entscheidung zum Kreuz in öffentlichen, bekenntnisfreien Schulen2 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Anbringung religiöser Symbole in öffentlichen Einrichtungen gegen die negative Religionsfreiheit verstoßen kann, wenn sie den Eindruck erweckt, der Staat identifiziere sich mit einer bestimmten Religion. Auch hier betonte das Gericht, dass der Staat zur religiösen Neutralität verpflichtet ist und keine Religionsgemeinschaft bevorzugen darf.

3. Art. 4 Abs. 3 GG – Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen

3.1. EinFührung

Art. 4 Abs. 3 GG gewährt eine umfassende Gewissensfreiheit in Bezug auf den Kriegsdienst mit der Waffe und hebt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als spezifischen Ausdruck dieser Freiheit hervor. Der erste Satz normiert das Grundrecht, gegen das eigene Gewissen nicht zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen zu werden, während der zweite Satz die Regelung der näheren Einzelheiten diesem Recht durch ein Bundesgesetz festlegt. In der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland stellt dieses Grundrecht eine wichtige Besonderheit dar, da es eine konkrete Ausprägung der Gewissensfreiheit im Kontext militärischer Verpflichtungen ist.

Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung wurde mit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 als direkte Reaktion auf die historischen Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Wehrpflicht während der Weltkriege verankert. Der Schutz des individuellen Gewissens sollte als Reaktion auf den Missbrauch staatlicher Macht in Diktaturen gestärkt werden. In der Folgezeit hat Art. 4 Abs. 3 GG durch verschiedene Gesetzesreformen und eine extensive Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine tiefgehende Konkretisierung erfahren, insbesondere im Zusammenhang mit der Wehrpflicht und alternativen Diensten.

3.2. Historischer Kontext

Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung wurde bewusst in das Grundgesetz aufgenommen, um dem Bürger das Recht zuzugestehen, aufgrund ernsthafter Gewissensüberzeugungen den aktiven Dienst an der Waffe verweigern zu dürfen. Diese Bestimmung war eine deutliche Reaktion auf die zwangsweise Einziehung von Wehrpflichtigen während der beiden Weltkriege und die damit einhergehende Instrumentalisierung von Menschen. Die Weimarer Reichsverfassung erwähnte die Wehrpflicht in Artikel 133:

Artikel 133 WRV
(1) Alle Staatsbürger sind verpflichtet, nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten.
(2) Die Wehrpflicht richtet sich nach den Bestimmungen des Reichswehrgesetzes. Dieses bestimmt auch, wieweit für Angehörige der Wehrmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Erhaltung der Mannszucht einzelne Grundrechte einzuschränken sind.

Mit dem Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht3 wurde während der NS-Zeit am 16. März 1935 die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland wiedereingeführt.

Die historische Bedeutung dieses Grundrechts liegt daher in der Ablehnung der totalitären Instrumentalisierung von Bürgern für militärische Zwecke. Schon während der Beratungen im Parlamentarischen Rat bestand Einigkeit darüber, dass das Grundgesetz eine solide Basis zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Freiheit des Individuums vor unzulässigen staatlichen Eingriffen, schaffen sollte. Insbesondere das durch den Nationalsozialismus ausgelöste Trauma prägte die Diskussion um das Gewissen und den Kriegsdienst entscheidend.

3.3. Schutzbereich

3.3.1. Persönlicher Schutzbereich

Der persönliche Schutzbereich des Art. 4 Abs. 3 GG umfasst grundsätzlich alle Personen, die zum Kriegsdienst mit der Waffe herangezogen werden könnten. Das Grundrecht ist in erster Linie auf deutsche Staatsbürger ausgerichtet, da sich die Wehrpflicht und das damit verbundene Zwangsmittel nur auf Staatsbürger eines Landes beziehen. Der Begriff „niemand“ lässt jedoch im Grundsatz offen, dass dieses Grundrecht theoretisch auch für Ausländer gelten könnte, sofern sie in Deutschland zum Kriegsdienst verpflichtet werden würden. In der Praxis wurde die Kriegsdienstverweigerung bisher jedoch ausschließlich auf deutsche Staatsbürger angewendet.

3.3.2. Sachlicher Schutzbereich

Art. 4 Abs. 3 GG bezieht sich ausdrücklich auf den Kriegsdienst „mit der Waffe“. Dies bedeutet, dass das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung nur den Dienst erfasst, der mit der aktiven Anwendung von Gewalt, also dem Einsatz von Waffen, verbunden ist. Tätigkeiten im militärischen Bereich, die nicht den Gebrauch von Waffen voraussetzen, werden von diesem Schutzbereich nicht erfasst.

Das Grundrecht schützt somit nicht allgemein vor allen Formen des Wehrdienstes, sondern ausschließlich vor dem Zwang zum aktiven Dienst mit der Waffe. Andere militärische oder zivile Dienste, die nicht mit Waffengewalt verbunden sind, fallen nicht unter diesen Schutz und können durch gesetzliche Regelungen vorgeschrieben werden, solange sie das Gewissen der Betroffenen nicht verletzen.

3.3.3. Gewissensbegriff

Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung ist untrennbar mit der Gewissensfreiheit verbunden, die ebenfalls in Art. 4 Abs. 1 GG geschützt ist. Der Begriff des „Gewissens“ bezieht sich auf die innere moralische Überzeugung des Einzelnen, die im konkreten Fall zu der Entscheidung führt, den Waffendienst zu verweigern. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gewissensbegriff mehrfach definiert und präzisiert: Gewissensentscheidungen müssen an den Kategorien von Gut und Böse orientiert sein und eine sittliche, d. h. an den Geboten des Einzelnen zu verantwortender Unbedingtheit aufweisen.4

Es ist wichtig zu betonen, dass es sich um eine ernsthafte Gewissensentscheidung handeln muss, die nicht auf bloßer Angst oder Opportunität basiert. Auch religiöse Gründe können eine Rolle spielen, doch ist das Grundrecht nicht auf religiös begründete Gewissensentscheidungen beschränkt. Eine ernsthafte Gewissensentscheidung kann sowohl religiöser als auch nicht-religiöser Natur sein, und der Staat darf die religiöse oder weltanschauliche Grundlage einer solchen Entscheidung nicht bewerten oder hierarchisieren.

3.4. Verhältnis zu anderen Grundrechten

Art. 4 Abs. 3 GG steht in einem komplexen Spannungsverhältnis zu anderen Grundrechten, insbesondere zu Art. 12a GG, der die Wehrpflicht regelt. Art. 12a Abs. 2 GG sieht ausdrücklich vor, dass Männer ab dem 18. Lebensjahr verpflichtet werden können, in den Streitkräften oder im Zivilschutz Dienst zu leisten. Der Widerspruch zwischen der allgemeinen Wehrpflicht und dem individuellen Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist durch ein System der gesetzlichen Regelungen gelöst worden, das es ermöglicht, denjenigen, die den Dienst mit der Waffe verweigern, alternative zivile Dienste aufzuerlegen.

Die in Art. 12a GG verankerte Wehrpflicht muss stets im Lichte von Art. 4 Abs. 3 GG interpretiert werden. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Wehrpflicht sicherstellen muss, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht ausgehöhlt wird. Alternative Dienste, wie der Zivildienst, stellen in diesem Sinne keine Verletzung des Grundrechts dar, solange sie mit der Gewissensentscheidung des Verweigerers vereinbar sind.

3.5. Die Ausgestaltung des Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG durch ein Bundesgesetz

Der zweite Satz des Art. 4 Abs. 3 GG sieht vor, dass die Einzelheiten der Kriegsdienstverweigerung durch ein Bundesgesetz geregelt werden. Diese Regelungskompetenz hat der Bundesgesetzgeber mit der Verabschiedung des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes (KDVG) wahrgenommen. Das KDVG regelt das Verfahren zur Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung und enthält Vorschriften zur Durchführung des Zivildienstes.

Im Laufe der Jahre wurde dieses Gesetz mehrfach reformiert, insbesondere in Zusammenhang mit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011. Diese Aussetzung hat die praktische Bedeutung des Art. 4 Abs. 3 GG in der gegenwärtigen Rechtslage verringert, da in Friedenszeiten keine allgemeine Wehrpflicht besteht. Gleichwohl bleibt das Grundrecht für den Fall der Wiedereinführung der Wehrpflicht von Bedeutung und kann in Krisen- oder Kriegszeiten wieder in den Vordergrund rücken.

3.6. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in mehreren Leitentscheidungen mit dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung und der Auslegung des Art. 4 Abs. 3 GG befasst. In einem wegweisenden Urteil von 1960 (BVerfGE 12, 45) hat das Gericht den Begriff des Gewissens konkretisiert und klargestellt, dass der Staat nicht das Recht hat, die Ernsthaftigkeit oder Richtigkeit einer Gewissensentscheidung zu bewerten, solange sie in glaubhafter Weise vorgetragen wird.

In einer weiteren Entscheidung von 1978 (BVerfGE 48, 127) hat das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Ableistung des Zivildienstes als Ersatzdienst verfassungsrechtlich zulässig ist, solange dieser Dienst nicht als Strafe für die Verweigerung des Kriegsdienstes wahrgenommen wird und die Gewissensentscheidung des Verweigerers respektiert wird.

Das Bundesverfassungsgericht hat damit die zentrale Bedeutung des Art. 4 Abs. 3 GG als Ausdruck der individuellen Gewissensfreiheit gestärkt und gleichzeitig klargestellt, dass der Staat verpflichtet ist, geeignete Alternativen zum Kriegsdienst mit der Waffe anzubieten.

3.7. Internationale Bezüge

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung findet sich auch in internationalen Menschenrechtsverträgen wieder. So erkennt etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Ausprägung der Gewissensfreiheit gemäß Art. 9 EMRK an. In der Entscheidung „Bayatyan v. Armenia“ von 2011, EGMR, 07.07.2011, Nr. 23459/03, stellte der EGMR fest, dass die Verurteilung eines Kriegsdienstverweigerers, der aufgrund seiner religiösen Überzeugungen den Waffendienst verweigerte, eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellt.

Auch die Vereinten Nationen haben das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in verschiedenen Resolutionen anerkannt und bekräftigt, dass dieses Recht als Ausdruck der Gewissensfreiheit zu verstehen ist.

Literaturverzeichnis
Weitere Literatur: 

Biographie:

  • Bruder Longinus Beha / Drews, Gerald, Ab morgen Mönch - Ein Afghanistansoldat geht ins Kloster, 2. Auflage (2020), Beuroner Kunsterverlag.
Rechtsprechung: 

Bundesverfassungsgericht:

Bundesverwaltungsgericht:

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: