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Art. 45 GG - Ausschuß Europäische Union (Kommentar)
¹Der Bundestag bestellt einen Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union. ²Er kann ihn ermächtigen, die Rechte des Bundestages gemäß Artikel 23 gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen. ³Er kann ihn auch ermächtigen, die Rechte wahrzunehmen, die dem Bundestag in den vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union eingeräumt sind.
- 1. Allgemeines
- 2. Normzweck
- 3. Historischer Kontext
- 4. Verfassungsrechtliche Einordnung
- 5. Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen
- 6. Verhältnis zu anderen Ausschüssen und Organen
- 7. Praktische Bedeutung und Bewertung
1. Allgemeines
Art. 45 GG etabliert den EU-Ausschuss als zentrales Organ für die parlamentarische Begleitung der deutschen Europapolitik. Die Norm reflektiert das Bemühen des Verfassungsgebers, die demokratische Legitimation des europäischen Integrationsprozesses zu stärken und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit des Bundestages in EU-Angelegenheiten zu gewährleisten. Die praktische Umsetzung erfordert eine sorgfältige Balance zwischen effizienter Rechtewahrnehmung und umfassender Beteiligung des Plenums.
2. Normzweck
Der Zweck des Art. 45 GG liegt in der Stärkung der parlamentarischen Beteiligung und Kontrolle in EU-Angelegenheiten. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass mit fortschreitender europäischer Integration zunehmend Kompetenzen auf die supranationale Ebene verlagert werden, was die Gefahr einer schleichenden Entparlamentarisierung birgt. Durch die Einrichtung eines spezialisierten Ausschusses soll sichergestellt werden, dass der Bundestag seine Integrationsverantwortung effektiv wahrnehmen kann (vgl. BVerfGE 151, 202 [365 f.]).
3. Historischer Kontext
Artikel 45 GG wurde durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2086) eingeführt und trat am 25. Dezember 1992 in Kraft. Die Einführung erfolgte im Zuge der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht und der damit einhergehenden Gründung der Europäischen Union. Sie steht in engem Zusammenhang mit der gleichzeitigen Neufassung des Art. 23 GG, der die verfassungsrechtlichen Grundlagen für die deutsche Mitwirkung am europäischen Integrationsprozess regelt.
4. Verfassungsrechtliche Einordnung
4.1. Stellung im Verfassungsgefüge
Art. 45 GG ist systematisch im Abschnitt über den Bundestag verortet und steht in engem Zusammenhang mit Art. 23 GG. Er konkretisiert das in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verankerte Demokratieprinzip für den Bereich der europäischen Integration und dient der Verwirklichung des Grundsatzes der Volkssouveränität im europäischen Mehrebenensystem.
4.2. Verhältnis zu anderen Verfassungsnormen
4.2.1. Verhältnis zu Art. 23 GG
Art. 45 GG steht in einem Komplementärverhältnis zu Art. 23 GG. Während Art. 23 GG die materiellen Mitwirkungsrechte des Bundestages in EU-Angelegenheiten normiert, regelt Art. 45 GG die organisatorische Umsetzung dieser Rechte durch einen spezialisierten Ausschuss.
4.2.2. Verhältnis zu Art. 38 Abs. 1 GG
Die in Art. 45 GG vorgesehene Möglichkeit der Rechtewahrnehmung durch den EU-Ausschuss steht in einem Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Gleichheit der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG). Dieses wird jedoch durch die fakultative Ausgestaltung der Ermächtigung und die jederzeitige Rückholbarkeit der Rechte durch das Plenum entschärft (vgl. Streinz, in: Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 45 Rn. 11).
4.2.3. Verhältnis zu Art. 44 GG
Die Regelung in Art. 45 GG geht in gewisser Weise über die Bestimmungen des Art. 44 GG hinaus, da sie dem EU-Ausschuss eine spezifische Stellung im Hinblick auf europapolitische Fragen verleiht. Während Art. 44 GG die allgemeinen Voraussetzungen für Untersuchungsausschüsse regelt, erweitert Art. 45 GG diese Befugnisse spezifisch auf den Bereich der europäischen Angelegenheiten.
5. Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen
5.1. Einsetzung des Ausschusses (Satz 1)
5.1.1. Verfassungsrechtliche Verpflichtung
Satz 1 begründet eine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundestages zur Einsetzung eines EU-Ausschusses. Diese Pflicht ist zwingend und steht nicht zur Disposition des Parlaments. Eine Nichterfüllung wäre verfassungswidrig und könnte im Wege des Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden.
5.1.2. Zeitpunkt der Einsetzung
Die Einsetzung hat zu Beginn jeder Wahlperiode zu erfolgen. Eine übermäßige Verzögerung könnte als Verletzung der Verfassungspflicht gewertet werden.
5.1.3. Zusammensetzung
Die konkrete Zusammensetzung des Ausschusses wird durch Art. 45 GG nicht vorgegeben. Sie richtet sich nach den allgemeinen Regeln für Bundestagsausschüsse, insbesondere nach dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit (BVerfGE 80, 188 [222]). Die Geschäftsordnung des Bundestages kann nähere Regelungen treffen.
5.1.4. Begriff "Angelegenheiten der Europäischen Union"
Der Begriff ist weit auszulegen und umfasst sämtliche Bereiche, die einen Bezug zur EU aufweisen. Hierzu gehören nicht nur Rechtsetzungsakte der EU, sondern auch institutionelle Fragen, die Entwicklung der Vertragsgrundlagen und außenpolitische Aspekte der EU.
5.2. Ermächtigung zur Rechtswahrnehmung (Satz 2 und 3)
5.2.1. Fakultative Ausgestaltung
Die Ermächtigung des Ausschusses ist als "Kann"-Bestimmung ausgestaltet. Der Bundestag hat somit einen Ermessensspielraum bezüglich des "Ob" und des Umfangs der Ermächtigung.
5.2.2. Umfang der Ermächtigung
5.2.2.1. Rechte gemäß Art. 23 GG (Satz 2)
Die Ermächtigung kann sich auf sämtliche in Art. 23 GG normierten Rechte des Bundestages erstrecken, insbesondere:
- Recht auf Unterrichtung (Art. 23 Abs. 2 Satz 2 GG)
- Recht zur Stellungnahme (Art. 23 Abs. 3 Satz 1 GG)
- Recht auf Berücksichtigung der Stellungnahme (Art. 23 Abs. 3 Satz 2 GG)
- Recht zur Stellungnahme bei der Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG)
5.2.2.2. Rechte aus den vertraglichen Grundlagen der EU (Satz 3)
Hierunter fallen insbesondere:
Recht zur Subsidiaritätsrüge (Art. 6 Subsidiaritätsprotokoll)
Recht zur Subsidiaritätsklage (Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll)
Beteiligungsrechte im Rahmen des politischen Dialogs mit der EU-Kommission
5.2.3. Rechtliche Natur der Ermächtigung
Die Ermächtigung ist als innerparlamentarische Delegation zu qualifizieren. Sie begründet keine ausschließliche Zuständigkeit des EU-Ausschusses, sondern eine konkurrierende Kompetenz neben dem Plenum.
5.2.4. Grenzen der Ermächtigung
Die Ermächtigung findet ihre Grenzen im Demokratieprinzip und im freien Mandat der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG). Eine vollständige und unwiderrufliche Übertragung der Rechte des Bundestages auf den Ausschuss wäre verfassungswidrig.
5.3. Rechtswirkungen
5.3.1. Bindungswirkung
Stellungnahmen des ermächtigten Ausschusses entfalten dieselbe Bindungswirkung gegenüber der Bundesregierung wie Stellungnahmen des Plenums. Die Bundesregierung muss diese bei ihrer Willensbildung "berücksichtigen" (Art. 23 Abs. 3 Satz 2 GG).
5.3.2. Rückholrecht des Plenums
Das Plenum behält jederzeit das Recht, eine Angelegenheit an sich zu ziehen oder die Ermächtigung zu widerrufen. Dies ergibt sich aus dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Gleichheit der Abgeordneten.
6. Verhältnis zu anderen Ausschüssen und Organen
6.1. Verhältnis zu Fachausschüssen
Der EU-Ausschuss tritt nicht an die Stelle der Fachausschüsse. Vielmehr ist eine enge Zusammenarbeit erforderlich, um die fachliche Expertise mit der übergreifenden europapolitischen Perspektive zu verbinden. Die Geschäftsordnung des Bundestages sollte Regelungen zur Koordination vorsehen.
6.2. Verhältnis zum Bundesrat
Art. 45 GG berührt nicht die Rechte des Bundesrates nach Art. 23 Abs. 2, 4-6 GG. Eine enge Abstimmung zwischen EU-Ausschuss des Bundestages und EU-Ausschuss des Bundesrates ist jedoch im Sinne einer kohärenten deutschen Europapolitik wünschenswert.
7. Praktische Bedeutung und Bewertung
7.1. Umsetzung in der Parlamentspraxis
Der EU-Ausschuss hat sich als zentrales Gremium für die parlamentarische Begleitung der Europapolitik etabliert. Die praktische Handhabung der Ermächtigung variiert je nach Wahlperiode und politischer Konstellation.
7.2. Kritische Würdigung
Die in Art. 45 GG vorgesehene Konstruktion trägt zur Effizienzsteigerung der parlamentarischen Mitwirkung in EU-Angelegenheiten bei. Gleichzeitig birgt sie die Gefahr einer Marginalisierung des Plenums in europapolitischen Fragen. Diesem Risiko muss durch eine zurückhaltende Handhabung der Ermächtigung und eine starke Rückkopplung an das Plenum begegnet werden.
7.3. Reformüberlegungen
Angesichts der fortschreitenden europäischen Integration wird diskutiert, ob die bestehenden Mitwirkungsrechte des Bundestages ausreichen oder ob eine Weiterentwicklung des Art. 45 GG erforderlich ist. Vorschläge reichen von einer Stärkung der Informationsrechte bis hin zur Einführung eines Mandatsverfahrens für die Verhandlungsführung der Bundesregierung im Rat.