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Art. 47 GG - Zeugnisverweigerungsrecht (Kommentar)
¹Die Abgeordneten sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. ²Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig.
1. Allgemeines
Art. 47 des Grundgesetzes (GG) regelt das Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Dieses Recht schützt die Mandatsausübung und sichert den freien Informationsaustausch zwischen Abgeordneten und denjenigen, die ihnen in ihrer Funktion vertrauliche Informationen anvertrauen. Zugleich dient es dem Schutz der Vertraulichkeit in der parlamentarischen Arbeit und der Sicherung der Unabhängigkeit der Abgeordneten. Es handelt sich um eine besondere Ausprägung der parlamentarischen Rechte, die im Kontext der allgemeinen Immunitäts- und Indemnitätsvorschriften des Grundgesetzes steht (vgl. Art. 46 GG). Der Artikel stellt sicher, dass Abgeordnete ohne Furcht vor rechtlichen Konsequenzen ihrer politischen Arbeit nachgehen können. Das Verbot der Beschlagnahme ergänzt diesen Schutz und sichert die Vertraulichkeit von Dokumenten, die in der parlamentarischen Tätigkeit eine Rolle spielen.
Dieses Recht steht jedoch nicht absolut. Es kann durch gesetzliche Maßnahmen eingeschränkt werden, wenn zwingende Gründe des Wohls des Bundes oder der Länder dies erfordern. Der verfassungsrechtliche Schutz der Abgeordneten muss daher stets im Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz der parlamentarischen Tätigkeit und den Interessen des Staates sowie der öffentlichen Sicherheit betrachtet werden.
Der Artikel gliedert sich in zwei Sätze, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Schutzvorkehrungen befassen: dem Zeugnisverweigerungsrecht selbst (Satz 1) und der Unzulässigkeit der Beschlagnahme (Satz 2).
2. Satz 1
„Die Abgeordneten sind berechtigt, über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern.“
2.1. Berechtigung zur Zeugnisverweigerung
Art. 47 Satz 1 GG gewährt den Abgeordneten des Bundestages ein Zeugnisverweigerungsrecht. Dieses Recht gilt nur im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit als Abgeordnete. Der Begriff der "Berechtigung" ist hier weit auszulegen und bezieht sich auf die Freiheit der Abgeordneten, eine Aussage zu verweigern, wenn sie aufgrund ihrer parlamentarischen Tätigkeit dazu aufgefordert werden. Der Begriff "Zeugnis" umfasst jede Art von Aussage, die ein Abgeordneter in einem Gerichtsverfahren oder einem anderen Ermittlungsverfahren machen könnte.
Das Zeugnisverweigerungsrecht ist notwendig, um die Freiheit der parlamentarischen Arbeit zu sichern. Es gewährleistet, dass Abgeordnete frei und ohne Furcht vor rechtlichen Konsequenzen Informationen von Bürgern oder anderen Personen entgegennehmen können, die sich auf politische oder legislative Prozesse beziehen. Dieses Recht steht in engem Zusammenhang mit dem Grundsatz der freien Mandatsausübung (vgl. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG).
2.2. Personen und Tatsachen
Der Artikel bezieht sich auf zwei verschiedene Bereiche des Schutzes: Personen und Tatsachen.
2.2.1. Personen
Der Begriff der "Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete Tatsachen anvertraut haben" umfasst all jene, die sich in einem vertrauensvollen Rahmen an einen Abgeordneten gewandt haben. Diese Personen könnten sowohl Wählerinnen und Wähler, politische Akteure als auch andere Abgeordnete oder Interessengruppen sein. Der Schutz dieser Personen ist wesentlich, da er sicherstellt, dass sich diese ohne Angst vor möglichen Konsequenzen an Abgeordnete wenden können.
2.2.2. Tatsachen
Der zweite Teil des Satzes schützt die vertraulichen Informationen oder Tatsachen, die dem Abgeordneten mitgeteilt wurden. Der Begriff der Tatsachen ist weit auszulegen und umfasst alle relevanten Informationen, die im Rahmen der parlamentarischen Tätigkeit bekannt werden, einschließlich vertraulicher politischer Einschätzungen oder Sachinformationen, die im Verlauf der Gesetzgebungsprozesse oder anderer politischer Handlungen erlangt werden.
Dieses Recht umfasst nicht nur die Tatsachen, die dem Abgeordneten anvertraut wurden, sondern auch solche, die der Abgeordnete anderen Personen in seiner Eigenschaft als Abgeordneter anvertraut hat. Das bedeutet, dass auch kommunizierte Informationen unter den Schutz fallen.
2.3. Inhaltliche Grenzen des Rechts
Das Zeugnisverweigerungsrecht nach Art. 47 GG ist auf Informationen beschränkt, die im Zusammenhang mit der Abgeordnetentätigkeit stehen. Es schützt nicht Aussagen, die Abgeordnete im privaten Kontext oder außerhalb ihrer amtlichen Funktion erhalten oder weitergegeben haben. Der Zusammenhang mit der parlamentarischen Arbeit muss also eindeutig bestehen.
Die Vorschrift ähnelt in ihrer Zielrichtung den berufsbedingten Zeugnisverweigerungsrechten, wie sie etwa für Geistliche, Ärzte oder Rechtsanwälte in der Strafprozessordnung (§ 53 StPO) vorgesehen sind. Allerdings geht das Abgeordnetenrecht noch weiter, da es nicht auf spezifische Berufsgeheimnisse beschränkt ist, sondern die allgemeine politische Arbeit der Abgeordneten betrifft.
3. Satz 2
„Soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht, ist die Beschlagnahme von Schriftstücken unzulässig.“
3.1. Unzulässigkeit der Beschlagnahme
Art. 47 Satz 2 GG regelt die Unzulässigkeit der Beschlagnahme von Schriftstücken, die im Zusammenhang mit dem Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten stehen. Diese Vorschrift erweitert den Schutz des ersten Satzes auf materielle Beweise, die in Schriftform vorliegen.
Im Unterschied zu Satz 1, der die mündliche Verweigerung des Zeugnisses schützt, betrifft Satz 2 insbesondere schriftliche Aufzeichnungen, Dokumente oder sonstige Unterlagen, die in der Ausübung der Abgeordnetentätigkeit entstanden sind. Hierzu können Briefe, Aktenvermerke, E-Mails und andere schriftliche oder elektronische Dokumente gehören, die mit der parlamentarischen Arbeit im Zusammenhang stehen.
Dieser Schutz vor Beschlagnahme stellt sicher, dass auch dokumentierte Informationen nicht ohne Weiteres in Ermittlungsverfahren oder Gerichtsverfahren gegen die Abgeordneten oder Dritte verwendet werden können. Es soll verhindert werden, dass Informationen, die einem Abgeordneten anvertraut wurden, auf Umwegen — etwa durch die Beschlagnahme von Dokumenten — zugänglich gemacht werden.
3.2. Reichweite des Beschlagnahmeschutzes
Der Schutz vor Beschlagnahme greift nur „soweit dieses Zeugnisverweigerungsrecht reicht“. Das bedeutet, dass der Schutz der Dokumente an den Schutz des Zeugnisverweigerungsrechts gekoppelt ist. Nur die Dokumente, die im Zusammenhang mit den im ersten Satz genannten Personen und Tatsachen stehen, fallen unter das Verbot der Beschlagnahme. Wenn also ein Dokument keine solche vertrauliche Information enthält oder nicht im Zusammenhang mit der parlamentarischen Tätigkeit steht, ist die Beschlagnahme nicht grundsätzlich ausgeschlossen.
Darüber hinaus bedeutet der Satz, dass der Schutzbereich dieser Regelung nicht absolut ist. Unter bestimmten Umständen, etwa wenn die öffentliche Sicherheit gefährdet ist oder im Falle einer besonders schwerwiegenden Straftat, könnte das Beschlagnahmeverbot unter gewissen Voraussetzungen eingeschränkt werden. Dies wäre jedoch nur durch einen gesetzlichen Eingriff möglich, der verhältnismäßig sein müsste.
4. Verhältnis zu anderen Vorschriften
Art. 47 GG steht in engem Zusammenhang mit anderen verfassungsrechtlichen Bestimmungen, die den Schutz der Abgeordneten und ihrer parlamentarischen Tätigkeit sichern sollen:
Art. 46 GG regelt die Immunität und den Schutz der Abgeordneten vor strafrechtlicher Verfolgung. Beide Artikel stehen im Dienste der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Während Art. 46 GG strafrechtliche Verfolgungshandlungen betrifft, schützt Art. 47 GG den Informationsfluss zwischen Abgeordneten und ihren Quellen.
Art. 48 Abs. 3 GG garantiert den Abgeordneten den Schutz vor beruflichen Nachteilen aufgrund ihrer Mandatsausübung. Auch diese Regelung dient letztlich dem Schutz der freien Mandatsausübung.
Auf einfachgesetzlicher Ebene findet das Zeugnisverweigerungsrecht der Abgeordneten seine Entsprechung in den Strafprozessvorschriften der §§ 53, 97 StPO, die Zeugnisverweigerungsrechte für bestimmte Berufsgruppen regeln. Der Schutz der Abgeordneten geht jedoch über den eines normalen Berufsgeheimnisträgers hinaus, da er nicht nur Berufsgeheimnisse, sondern die gesamte parlamentarische Tätigkeit erfasst.