Welche Herausforderungen auf einen Rechtsstaat zukommen, wenn er Krisenmanagement im Schatten einer Pandemie zu stemmen hat – diesem Thema widmete sich die Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Corona-Pandemie und Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse“ des Bundestages in ihrer dritten Sitzung am Montag, 3. November 2025. Unter dem Titel „Der Rechtsstaat unter Pandemiebedingungen: IfSG, Grundrechte und Eigenverantwortung“ wurden verschiedene Sachverständige angehört. Es ging darum, erste Schlussfolgerungen zu ziehen, gerade mit Blick auf Entscheidungen, die Freiheitsrechte einschränken. Krisenbekämpfung im Rückblick „Demokratische Legitimierung“ und „mehr Daten“ waren zwei Schlagworte, die Prof. Dr. Alena Buyx formulierte. Die ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrates bilanzierte, es sei während der Corona-Pandemie wenig Gebrauch von lokalen Lösungsempfehlungen gemacht worden. Ferner empfahl sie einen besonderen Schutz von vulnerablen Gruppen und mehr Ressourcen für die Institutionen. „Im Rückblick wurde überzogen“, sagte die Professorin für Medizinethik mit Blick auf die Schließungen von Kitas, Schulen und Universitäten. „Wir schulden der jungen Generation etwas.“ „Wir müssen schauen, dass wir für die nächste Pandemie besser aufgestellt werden“, sagte die Sachverständige Prof. Dr. Anika Klafki. Dies sei auch ein Gebot der Effektivität in der Krisenbekämpfung. Zum Beispiel seien Corona-Schutzverordnungen teils 40 Seiten lang gewesen. „Das ist für einen juristischen Laien nicht zu durchdringen“, sagte die Juniorprofessorin für Öffentliches Recht an der Universität Jena. Das damalige Infektionsschutzgesetz (IfSG) sei nicht auf eine Pandemie ausgerichtet gewesen. Damit brachte die Rechtswissenschaftlerin auch die Möglichkeit eines neuen Gesetzes in die Debatte ein. Verfassungsmäßigkeit politischer Entscheidungen Der Sachverständige Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider setzte ein Fragezeichen hinter die Verfassungsmäßigkeit zahlreicher damaliger politischer Entscheidungen. In seiner rein verfassungsrechtlichen Argumentation sagte der ehemalige Professor für Öffentliches Recht an der Universität Erlangen-Nürnberg, bei der Infektion habe es keinen Schaden gegeben, sondern eine Erkrankung. „Es besteht nur die Befürchtung, aber keine Gefahr“, umriss er den damaligen Ausgangspunkt für die handelnde Politik und plädierte für die Einführung einer Notstandsregelung. „Deutschland hat keine Notstandsverfassung“. Ohne diese seien Maßnahmen „alle einschlägigen Grundgesetze verletzend“. Prof. Dr. Karsten Schneider nahm eine weniger kritische Haltung zur Rechtsgrundlage ein. "Die Corona-Pandemie hat den Rechtsstaat nicht verändert", sagte der Professor für Öffentliches Recht an der Universität Mainz. "Er musste handeln, da die Daten unsicher waren." Gerade der Umgang mit Unsicherheit müsse möglichst präzise sein, sagte er und umriss ein Spannungsfeld: "Ein Grundrechtsopfer ist sicher erfahrbar. Die Abwendung der Gefahr bleibt unsicher." Ähnlich argumentierte Prof. Dr. Stephan Rixen. "Es war auch nicht alles schlecht, es braucht einen differenzierenden Blick." Anfangs sei das IfSG zu offen gewesen. Aber der Bundestag habe nachjustiert, "das war ein guter Weg". Der Professor für Öffentliches Recht an der Universität Köln warb dafür, sich für die Pluralität der Wissensgewinnung einzusetzen. Vertreter etwa der Erziehungswissenschaft oder anderer soziale Aspekte "hätten stärker berücksichtigt werden sollen". "Das Recht hat in der Pandemie eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt", sagte Prof. Dr. Oliver Lepsius. Der Professor für Öffentliches Recht an der Universität Münster sagte, der Bundestag sei dabei das sensibelste Organ gewesen. "Grundrechtliche Aspekte wurden stark formuliert, mehr als bei den Bund-Länder-Runden." Ein großes Problem von Exekutiv-Gremien sei, dass sie nicht repräsentativ zusammengesetzt seien. "Man darf auch keine Experten-Herrschaft einführen. Bei Abwägungsentscheidungen sind sie schlechte Ratgeber." "Wir brauchen konzeptbasiertes Handeln" Expertin Klafki machte daraufhin den Vorschlag, Maßnahmen auszudifferenzieren. "Was ist eine Reisebeschränkung, was ist ein Besuchsverbot?", führte sie an. Krisenstäbe würde sie eher auf Länderebene sehen. Und Experte Schneider pflichtete ihr bei: "Das Normprogramm muss differenziert werden für die nächste Pandemie." Man brauche plural besetzte Corona-Beiräte, "die sollte man nicht ad-hoc einsetzen, sondern frühzeitig, dauerhaft einführen". Der Sachverständige Lepsius warf ein, man habe einen Mangel an Empirie gehabt. Aber: "Unwissen kann über drei Jahre nicht als Rechtfertigungsgrund angeführt werden." Gewisse Parameter der Empirie seien nicht berücksichtigt worden, sagte er mit Blick auf die unterschiedlichen Risiken, denen unterschiedliche Altersgruppen bei Covid-19 ausgesetzt waren. Klafki schloss: "Wir brauchen konzeptbasiertes Handeln." Um künftig besser auf Gesundheitskrisen vorbereitet zu sein, arbeitet die Enquete-Kommission interdisziplinär an der Frage, wie Risikobewertung, Früherkennung und Krisenbewältigung in künftigen Pandemien effektiver gestaltet werden können. Dabei sollen die Erkenntnisse aus den Bereichen Gesundheitswesen, Wirtschaft, Bildung, Soziales, Politik, internationale Zusammenarbeit und öffentliche Kommunikation zusammengeführt werden, um gezielt strukturelle Verbesserungen anzustoßen. Bis Ende Juni 2027 soll die Kommission einen umfassenden Abschlussbericht vorlegen, der konkrete Empfehlungen zur besseren Prävention, Bekämpfung zukünftiger Gesundheitskrisen und gesellschaftlichen Resilienz enthalten soll. Der Kommission gehören 14 Abgeordneten sowie 14 externen Sachverständige an. (jr/04.11.2025)
Teils prinzipielle Zustimmung, teils erhebliche Skepsis, teils deutliche Ablehnung: In dieser Bandbreite bewegten sich am Montag, 3. November 2025, im Innenausschuss die Experten-Bewertungen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anpassung des nationalen Rechts an die Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS). Neben dem sogenannten GEAS-Anpassungsgesetz (21/1848, 21/2460) ging es um den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Gesetzes über das Ausländerzentralregister (AZRG) und weiterer Gesetze in Folge der Anpassung des nationalen Rechts an das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS-Anpassungsfolgegesetz, (21/1850, 21/2462). "In der Praxis ungenügend" Finn-Christopher Brüning, Deutscher Städte- und Gemeindebund und Deutscher Landkreistag, nannte die Reform des GEAS gut gemeint, aber in der Praxis ungenügend. Es entstünden Aktenberge, aber es komme zu wenig Entscheidungen. Der Vollzug des Asylgesetzes sei zu schwer, es gebe zu viele Unstimmigkeiten und unklare Begriffe. Brüning befürchtete zusätzliche Arbeitslast in den Ausländerbehörden, die kaum zu bewältigen sei. Der geplante Solidaritätsmechanismus werde zulasten Deutschlands und seiner Kommunen gehen. "Es gibt Nachsteuerungsbedarf" Apl. Prof. Dr. Andreas Dietz, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Augsburg, sprach von einer Herkulesaufgabe, das dicke Paket europäischer Normen ins deutsche Recht zu transferieren. Den vorliegenden Entwurf halte er für eine gute Grundlage. Es gebe aber Nachsteuerungsbedarf. Neu am GEAS sei die fast ausschließliche Verwendung von automatisch anzuwendenden Verordnungen. Das solle die Anwendung in der EU erleichtern, lasse aber den Mitgliedstaaten nur noch geringe Spielräume. Die EU-Normen seien komplex und ihr Zusammenspiel untereinander hochkompliziert. Mancher Nachbesserungsbedarf werde sich erst in der tatsächlichen Anwendung durch Behörden und Gerichte ab Sommer 2026 zeigen. "Schutzzusagen für besonders vulnerable Personen fehlen weitgehend" Sophia Eckert, Handicap International, trug vor, 10 bis 15 Prozent der Geflüchteten hätten Schätzungen zufolge eine Behinderung. Die tatsächliche Zahl sei wohl höher, besonders bei psychischen Beeinträchtigungen. Behinderung im Kontext mit Flucht sei also keine Randerscheinung. Der Anspruch geflüchteter Menschen auf Schutz, Teilhabe und Unterstützung nach der UN-Behindertenrechtskonvention, der EU-Aufnahmerichtlinie und dem Grundgesetz sei keine Empfehlung, sondern eine rechtlich bindende Verpflichtung – auch für Bundesregierung und den Gesetzgeber. Dieser Pflicht werde mit den vorliegenden Gesetzesentwürfen nicht nachgekommen. Schutzzusagen für besonders vulnerable Personen fehlten weitgehend. Die Expertin beklagte, die GEAS-Reform bedeute den tiefsten Einschnitt ins deutsche Asylrecht seit 1993 und einen massiven Rückschritt für den Flüchtlingsschutz in Europa. Eckert bezog das unter anderem auf die Einführung von Asylgrenzverfahren unter ihr zufolge faktischen Haftbedingungen. "Freiheitsbeschränkungen drohen zur Regel zu werden" Dr. Annika Fischer-Uebler, Deutsches Institut für Menschenrechte, kritisierte, der Entwurf des GEAS-Anpassungsgesetzes berücksichtige die europarechtlichen Spielräume zugunsten von Schutzsuchenden nicht ausreichend. Gleichzeitig würden die Möglichkeiten, die Rechte zu beschränken, weitgehend ausgeschöpft. Insbesondere drohten Freiheitsbeschränkungen und Inhaftierungen von der Ausnahme zur Regel zu werden. Darüber hinaus enthalte der Gesetzentwurf Bestimmungen, die nicht Teil der GEAS-Reform seien. Fischer-Uebler verwies auf vorgezogene Asylverfahren an der Grenze. Sie sprach von erweiterten Möglichkeiten, Asylsuchende in ihrer Freiheit zu beschränken. Der Gesetzentwurf enthalte insgesamt Regelungen mit dem Risiko, Menschenrechte von Schutzsuchenden und Migrantinnen und Migranten zu verletzen. Verlangsamung der Verfahren prognostiziert Prof. Dr. Constantin Hruschka, Evangelische Hochschule Freiburg, erklärte, die Art und Weise, wie der Gesetzentwurf gemacht sei, führe dazu, dass er unlesbar sei. Deutschland laufe auf eine Phase zu, die die Gesetzesanwendung auf allen Ebenen sehr kompliziert mache. Das betreffe Behörden, Gerichte und die rechtliche Unterstützung der betroffenen Personen. Es werde zu einer Verlangsamung der Verfahren kommen, sagte Hruschka. Er erwarte eine Art vorprogrammiertes Chaos zumindest in der ersten Umsetzungsphase. Besonderen Anpassungsbedarf gebe es, wenn es um Garantien für besonders vulnerable Personen, insbesondere Kinder gehe. "Überforderte Migrationsverwaltung in den Mitgliedstaaten" Prof. Dr. Hansjörg Huber, Hochschule Zittau/Görlitz, erläuterte, Anlass für die umfangreiche Neugestaltung durch GEAS sei nicht zuletzt die Erfahrung, dass sich viele Antragsteller nicht im für sie zuständigen Staat aufhielten. Sogenanntes Durchwinken und Sekundärmigration ins Innere der EU seien aber bereits in der Vergangenheit weniger eine Folge fehlender rechtsverbindlicher Normen als vielmehr deren mangelnde Umsetzung in den Mitgliedsstaaten gewesen. Diese Vollzugsdefizite hätten aber auch auf überforderter Migrationsverwaltung in den Mitgliedstaaten beruht. Daran hätten auch die beiden in Eisenhüttenstadt und Hamburg errichteten Dublin-Zentren für die Unterbringung von Personen, für deren Asylverfahren andere Staaten in der EU zuständig sind, bisher nichts ändern können. "Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr umsetzen" Johann Friedrich Killmer, Deutscher Städtetag, bewertete GEAS als wichtigen Schritt zur besseren Steuerung der Migration in Europa. Dennoch bestehe weiterer Reformbedarf. Er verwies auf direkte Auswirkungen auf Rathäuser, Schulen, Kitas und Wohnquartiere. GEAS müsse rechtlich verlässlich und praktisch umsetzbar sein und dürfe nicht dazu führen, dass es zu mehr Bürokratie und umständliche Abfragen komme. Derzeit sei diese Gefahr leider gegeben. Insbesondere die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung übernehme grundlegende Probleme der Dublin-III-Verordnung. Den darin festgelegten Verpflichtungen müssten alle EU-Staaten und assoziierte Staaten nachkommen. Die Verfahren zur Überstellung in zuständige Länder müssten vereinfacht und beschleunigt werden. Die Möglichkeit der freiwilligen Rückkehr müsse zwingend umgesetzt werden. "IT-System muss neu entwickelt werden" Dr. Hans-Eckhard Sommer, Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, erklärte, die Umsetzung des neuen GEAS stelle alle beteiligten Behörden vor große Herausforderungen – in Deutschland ganz besonders sein Bundesamt. Es gelte, neue Verfahren zu implementieren. Nahezu alle Dienstanweisungen seien neu zu schreiben. Das IT-System müsse neu entwickelt werden. Er begrüßte deshalb, dass sich die Gesetzentwürfe im Kern auf eine Eins-zu-eins-Umsetzung beschränkten. Es gehe vor allem darum, den bürokratischen Aufwand verringern zu helfen. Weitere vielleicht wünschenswerte Regelungen könnten späteren Gesetzgebungsvorhaben vorbehalten bleiben. "Wichtiger Baustein" Prof. Dr. Daniel Thym, Universität Konstanz, verwies darauf, dass nationale Maßnahmen die meisten öffentlichen Debatten über die Asylpolitik dominierten. Dennoch sei die europäische Zusammenarbeit im ureigensten deutschen Interesse. Es sei illusorisch, die Asylpolitik nachhaltig an den grünen Landesgrenzen in Mitteleuropa steuern zu wollen. Stattdessen müssten nationale, europäische und internationale Maßnahmen ineinandergreifen. In diesem Sinne beinhalte die GEAS-Gesetzgebung einige Verbesserungen, um die teils tiefsitzenden Defizite bei der Migrationssteuerung im Schengen-Raum und darüber hinaus zu mildern. Er sprach von einem wichtigen Baustein, der jedoch nicht das Ende der Fahnenstange sein dürfe. Dr. Philipp Wittmann, Richter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, sagte, die vorgelegten Gesetzentwürfe seien notwendig, um für EU-rechtlich zwingend erforderliche Anpassungsschritte an die bereits beschlossene Reform des GEAS umzusetzen. Sie seien dazu auch weitgehend geeignet. Eine Verbesserung in einer Vielzahl von Details sei allerdings notwendig. (fla/03.11.2025)