BVerfG, 27.05.1958 - 2 BvQ 1/58
Urteil
des Zweiten Senats vom 27. Mai 1958
- 2 BvQ 1/58 -
in dem Verfahren über den Antrag, durch einstweilige Anordnung die Ausführung des hamburgischen Gesetzes betreffend die Volksbefragung über Atomwaffen vom 9. Mai 1958 (GVBl. S. 141) bis zur Entscheidung über die Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit dem Grundgesetz auszusetzen - Antragsteller: die Bundesregierung, vertreten durch den Bundesminister des Innern.
Einstweilige Anordnung:
Die Durchführung der auf den 8. Juni 1958 anberaumten Volksbefragung gemäß dem hamburgischen Gesetz betreffend die Volksbefragung über Atomwaffen vom 9. Mai 1958 (GVBl.S. 141) wird bis zu Entscheidung über die Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit dem Grundgesetz ausgesetzt.
Gründe
A.
I.
Der Deutsche Bundestag lehnte am 25. März 1958 Anträge der Oppositionsparteien ab, die Bundesregierung zu ersuchen, auf die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen zu verzichten und anzustreben, daß in keinem Teil Deutschlands Atomwaffen gelagert oder Atomwaffenanlagen errichtet werden (vgl. StenProt. über die 21. Sitzung vom 25. März 1958, S. 1152 C und passim sowie die Umdrucke 33 bis 46). Diese Beschlüsse des Bundestages lösten heftige Diskussionen in der Öffentlichkeit und die Forderung nach einer allgemeinen Volksbefragung über Atomwaffen aus.
Die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg beschloß ein Gesetz betreffend die Volksbefragung über Atomwaffen - im folgenden kurz "das Gesetz" genannt -, das am 9. Mai 1958 verkündet wurde (GVBl. S. 141). Nach dem Gesetz sollen die Wahlberechtigten am 8. Juni 1958 folgende Fragen beantworten:
"1. Sind Sie für eine Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Waffen?
2. Sind Sie für eine Lagerung von Atomwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik?
3. Sind Sie für die Errichtung von Abschußbasen für Atomraketen im Gebiet der Bundesrepublik?"
Die Bundesregierung hält das Gesetz für verfassungswidrig, weil es mittels Befragung eines Landesvolkes eine Art Plebiszit über Bundesangelegenheiten einführe und weil das Gesetz die ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes über Verteidigung und auswärtige Angelegenheiten verletze. Sie hat am 12. Mai 1958 beantragt, die Ausführung des Gesetzes nach § 32 BVerfGG bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen.
Gleichzeitig kündigte sie an, sie werde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG den Antrag stellen, das Gesetz für nichtig zu erklären. Dieser Antrag zur Hauptsache ist am 16. Mai 1958 beim Bundesverfassungsgericht eingegangen.
Zur Begründung des Antrags auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung hat die Bundesregierung vorgetragen:
Der Streit um das Gesetz werfe Fragen der repräsentativen Demokratie und der föderalistischen Struktur der Bundesrepublik, also Fragen von grundlegender Bedeutung für das Verfassungsleben auf. Werde die für den 8. Juni 1958 geplante Volksbefragung in Hamburg durchgeführt, so sei dadurch ein Einbruch in die grundgesetzliche Ordnung repräsentativer Demokratie vollzogen, der durch eine spätere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr beseitigt werden könne. Andererseits entstehe der Freien und Hansestadt Hamburg im Falle der Verfassungsmäßigkeit des hamburgischen Gesetzes durch die einstweilige Anordnung kein unzumutbarer Nachteil, weil sie nur zu einer Terminverschiebung führe.
II.
Das Bundesverfassungsgericht hat der Freien und Hansestadt Hamburg Gelegenheit zur Äußerung gegeben und über den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung am 27. Mai 1958 mündlich verhandelt. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat beantragt,
Sie führt aus, für eine einstweilige Anordnung sei kein Raum, weil der Bundesregierung der näherliegende Weg des Bundeszwangs - zunächst also die Anrufung des Bundesrats - zur Verfügung stehe. Es müsse auch bezweifelt werden, daß die vom Gericht im Hauptverfahren zu entscheidende Frage justiziabel sei; damit entfalle die Möglichkeit, im Zusammenhang mit der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Überdies liege in dem gerichtlichen Gebot, die Volksbefragung zu unterlassen,praktisch die Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache; das sei unzulässig. Eine einstweilige Anordnung dürfe ferner nur ergehen, wenn die Hauptsache eine gewisse Aussicht auf Erfolg biete; daran fehle es hier. Der Volksbefragung und ihrem Ergebnis gehe zudem jede rechtliche Verbindlichkeit ab. Würden sich aber die Verfassungsorgane des Landes Hamburg oder seine Vertreter im Bundesrat bei ihren Entschließungen am Ergebnis der Volksbefragung orientieren, so würden sie nicht verfassungswidrig handeln. Schließlich stelle die Durchführung der Volksbefragung im Stadtstaat Hamburg auch dann, wenn nachträglich die Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt würde, keinen schweren Nachteil für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik dar. Im Grunde sehe die Bundesregierung den in § 32 BVerfGG geforderten schweren Nachteil ausschließlich darin, daß ihrer Auffassung nach das Gesetz verfassungswidrig sei; das allein rechtfertige den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht. Andererseits führe die - auch nur vorübergehende - Unterbindung der Volksbefragung zu einem nutzlosen Verwaltungsaufwand und zu einer erheblichen finanziellen Belastung des Haushalts des Landes, also zu einem schweren Nachteil.
B.
I.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum allgemeinen Wohl dringend geboten ist.
Auch im Zusammenhang mit einem Normenkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ist ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zulässig (BVerfGE 1, 85 [86]; 1, 281 [282]; 2, 103).
II.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
1. Eine einstweilige Anordnung ist hier auch bei Anlegung eines strengen Maßstabes, wie er vom Bundesverfassungsgericht gerade bei einstweiligen Anordnungen gegen den Vollzug eines Gesetzes gefordert wird (BVerfGE 3, 41 [44]; 6, 1 [3]), dringend geboten.
Das Gericht hält auch nach neuerlicher Überprüfung daran fest, daß bei Würdigung der Umstände, die für oder gegen den Erlaß einer einstweiligen Anordnung sprechen, die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache lauten wird, grundsätzlich außer Betracht bleiben muß (a. A. Arndt, NJW 1958 S. 337). Zwar darf eine einstweilige Anordnung nicht ergehen, wenn die Entscheidung über die Hauptsache offensichtlich nicht in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts fällt oder wenn die in der Hauptsache begehrte Feststellung unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (vgl. BVerfGE 3, 267 [281 ff.]; Urteil des BVerfG vom 13. November 1957 - 1 BvR 78/56 -, NJW 1958 S. 337 [338]); ebensowenig ist für eine einstweilige Anordnung Raum, wenn das Bundesverfassungsgericht die Hauptsache so rechtzeitig zu entscheiden vermag, daß durch diese Entscheidung die vorauszusehenden schweren Nachteile gebannt werden können. Daraus folgt: Die einstweilige Anordnung kann gerade deshalb nötig werden, weil dem Gericht die zur gewissenhaften und umfassenden Prüfung der für die Entscheidung der Hauptsache erheblichen Rechtsfragen erforderliche Zeit fehlt; gerade dann aber wäre es nicht angängig, den Erlaß einer einstweiligen Anordnung von etwas Ungewissem, von einer summarischen Abschätzung der Erfolgschancen in der Hauptsache, abhängig zu machen. Grundsätzlich muß überdies davon ausgegangen werden, daß, wenn verfassungsrechtliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Bundesverfassungsorganen oder zwischendem Bund und einem Lande sich zu einem Streit vor dem Bundesverfassungsgericht verdichten, der Ausgang des Hauptverfahrens so sehr "offen" ist, daß von einer "Unhaltbarkeit" der einen oder anderen Rechtsauffassung nicht die Rede sein kann. Das gilt auch für die Frage der Justiziabilität.
2. Die Bundesregierung war im vorliegendem Fall nicht gezwungen, vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 84 Abs. 4 GG den Bundesrat einzuschalten; dies ergibt sich aus den Gründen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 1957 (BVerfGE 6, 309 [328 ff.]). Ob die Bundesregierung im übrigen zur Erhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung die Mittel des Bundeszwanges (Art. 37 GG) anwenden oder eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG herbeiführen will, steht in ihrem verfassungsgerichtlich nicht überprüfbaren Ermessen. Unter diesem Gesichtspunkt können deshalb Bedenken gegen den Erlaß einer einstweiligen Anordnung nicht geltend gemacht werden.
3. In dem Verfahren über die Hauptsache werden Grundfragen des Bundesverfassungsrechts aufgeworfen, die einer eingehenden Prüfung bedürfen. Diese kann vor dem für die Volksbefragung vorgesehenen Tage nicht zu Ende geführt werden. Würde aber die Volksbefragung vor der Entscheidung in der Hauptsache durchgeführt, so drohten dem gemeinen Wohle folgende schweren Nachteile:
a) Eine Volksbefragung auf Grund eines Gesetzes, dessen Rechtsgültigkeit in der Öffentlichkeit hart umstritten und dessen Verfassungsmäßigkeit Gegenstand eines beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens ist, könnte die Befragten verwirren und möglicherweise das Ergebnis der Volksbefragung verfälschen. Es muß damit gerechnet werden, daß im politischen Kampf um die Stimmen der Abstimmungsberechtigten das Argument der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der Volksbefragung ebenso wie ungerechtfertigte Schlußfolgerungen aus einer Ablehnung der einstweiligen Anordnung eine nicht unerhebliche Rolle spielen; gerade von derartigen Überlegungen müssen aber die Auseinandersetzungen freigehalten werden. Eine ähnliche Lage hat das Bundesverfassungsgericht zu seiner einstweiligen Anordnung vom 9. September 1951 im Streit um den Südweststaat bewogen (BVerfGE 1, 1 [2]).
b) Die Entscheidung in der Hauptsache wird die Interpretation fundamentaler Verfassungsprinzipien erfordern. Die - auch nur einmalige und im Glauben an die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahme begangene - Verletzung solcher Verfassungsprinzipien muß jedenfalls als schwerer Nachteil für das gemeine Wohl angesehen werden. Das erfordert die Achtung vor der Verfassung. Ihre substantielle Verletzung stellt stets eine unmittelbare Bedrohung der Ordnung und Sicherheit des Staates dar. Auch mit dem Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, dem das Grundgesetz den Schutz der Verfassung so anvertraut hat, daß es bei verfassungsrechtlichen Meinungsverschiedenheiten rechtzeitig und wirkungsvoll einschreiten kann, wäre es unverträglich, wenn seine Entscheidung an einer vollendeten Tatsache nichts mehr zu ändern vermöchte. Weiterhin stellte es einen schweren Nachteil dar, wenn die - neben anderen Verfassungsorganen - für die Einhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung verantwortliche Bundesregierung in einer politisch höchst bedeutsamen, folgenreichen Angelegenheit zusehen müßte, daß eine Maßnahme, die sie für verfassungswidrig hält, in einer nicht mehr rückgängig zu machenden Weise vollzogen wird, bevor die Richtigkeit oder Unrichtigkeit ihrer Auffassung für jedermann verbindlich festgestellt ist.
c) Ist die Volksbefragung in Hamburg erst einmal durchgeführt, so kann eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts daran nichts mehr ändern. Das Gesetz, das die Grundlage nur für eine einmalige, nicht wiederholbare Maßnahme abgeben soll, hätte damit seinen Zweck erfüllt. Eine der Wirkungen, die der verfassungsgerichtlichen Entscheidung im vorliegenden Falle nicht genommen werden darf - nämlich die Verhinderung einer verfassungswidrigen Volksbefragung -, würde also möglicherweise ausgeschlossen. Hinzu kommt, daß mit der Durchführungder Volksbefragung ihr politisches Gewicht und ihre von den Initiatoren beabsichtigte Wirkung sofort zur vollen Geltung käme. Das könnte durch eine - möglicherweise - im Sinne des Antrages der Bundesregierung ergehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr rückgängig gemacht werden. Auch aus diesem Gesichtspunkt ist der Erlaß einer einstweiligen Anordnung dringend geboten.
4. Demgegenüber müssen die von der Freien und Hansestadt Hamburg ins Feld geführten Nachteile einer einstweiligen Anordnung zurücktreten.
Die einstweilige Anordnung schafft keinen endgültigen und irreparablen Zustand für Hamburg; sie nimmt insbesondere auch im Effekt - die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorweg. Die Volksbefragung kann stattfinden, wenn und sobald das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, daß ihrer Durchführung verfassungsrechtliche Hindernisse nicht entgegenstehen. Es ist auch nicht zu befürchten, daß die mit der einstweiligen Anordnung möglicherweise verbundene, zeitlich begrenzte Verschiebung der Volksbefragung ihren Ausgang beeinflussen wird. Daß die Freie und Hansestadt Hamburg bisher schon zur Vorbereitung der Volksbefragung Verwaltungsarbeit und finanzielle Aufwendungen geleistet hat, muß in Kauf genommen werden.