BVerfG, 23.10.1958 - 1 BvL 45/56

Daten
Fall: 
Vaterschaft
Fundstellen: 
BVerfGE 8, 210; FamRZ 1958, 451; JZ 1959, 88; MDR 1959, 20; NJW 1958, 2059; Rpfleger 1958, 182
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
23.10.1958
Aktenzeichen: 
1 BvL 45/56
Entscheidungstyp: 
Beschluss

1. Die Zivilprozeßordnung in der Fassung des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit vom 12. September 1950 (BGBl. I S. 455) ist nicht vorkonstitutionelles Recht im Sinne der Entscheidung vom 24. Februar 1953 (BVerfGE 2, 124 [128]).
2. Art. 6 Abs. 5 GG enthält einen bindenden Auftrag an den Gesetzgeber; dieser verletzt die Verfassung, wenn er es unterläßt, den Verfassungsauftrag in angemessener Frist auszuführen.
3. Art. 6 Abs. 5 GG ist Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die Gerichte und Verwaltung im Rahmen der geltenden Gesetze bei der Ausübung des Ermessens bindet.

Inhaltsverzeichnis 

Beschluß

des Ersten Senats vom 23. Oktober 1958
– 1 BvL 45/56 –
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 644 der Zivilprozeßordnung, auf Antrag des Landgerichts Marburg, in dem Rechtsstreit des Minderjährigen Rolf Werner .. gegen Kurt .. – 4 O 81/56 -.
Entscheidungsformel:

§ 644 der Zivilprozeßordnung ist mit dem Grundgesetz vereinbar.

Gründe

I.

1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens (Kläger) ist ein außerehelich geborenes Kind. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens (Beklagter) hat sich in notarieller Urkunde zur Unterhaltszahlung verpflichtet, weigert sich aber, seine Vaterschaft gemäß § 1718 BGB anzuerkennen. Der Kläger hat deshalb vor dem Landgericht Marburg Klage erhoben und beantragt festzustellen, daß der Beklagte sein Erzeuger sei. Der Beklagte hat Klageabweisung erbeten mit der Begründung, daß kein rechtliches Interesse an der Feststellung bestehe, er im übrigen Zweifel an seiner Vaterschaft habe.

In einem vor dem Einzelrichter anberaumten Termin, in dem der Beklagte nicht vertreten war, erklärte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers, daß er keinen Antrag auf Erlaß eines Versäumnisurteils stelle, da nach seiner Auffassung das Verfahren als Statusprozeß zu behandeln sei, der nicht durch Versäumnisurteil entschieden werden dürfe.

Durch Beschluß vom 4. Juli 1956 setzte das Landgericht das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor,

"ob die Vorschrift des § 644 ZPO bezüglich einer Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens der blutmäßigen Abstammung eines unehelichen Kindes gegen die Vorschriften des Art. 6 Abs. 5, des Art. 3 Abs. 1 und 3 in Verbindung mit Art. 117 Abs. 1 des Bonner Grundgesetzes verstößt".

Zur Begründung der Vorlage führt das Landgericht aus: Es vermöge der jetzt herrschenden Ansicht nicht zu folgen, daß § 644 ZPO ein Statusverfahren nur dann ausschließe, wenn es sich um Feststellung der unehelichen Vaterschaft im Sinne der Zahlvaterschaft handle, nicht aber, wenn Feststellung der wahren natürlichen Abstammung begehrt werde. Ein solcher Unterschied zwischen Zahlvaterschaft und wirklicher Vaterschaft erscheine nicht gerechtfertigt. § 644 ZPO sei entsprechend seinem unmittelbaren Wortsinn und der früher herrschenden Auffassung dahin zu verstehen, daß er jedes Statusverfahren um die uneheliche Vaterschaft schlechthin ausschließe. Von dieser Interpretation des § 644 ZPO ausgehend, halte das Landgericht die Bestimmung für grundgesetzwidrig. Art. 6 Abs. 5 GG gebiete dem Gesetzgeber, den unehelichen Kindern die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern. Dazu gehöre auch, daß den unehelichen Kindern die Möglichkeit gegeben werde, ihre Abstammung von einem bestimmten Manne im Statusverfahren, das heißt in einem der Parteidisposition weitgehend entzogenen Verfahren, mit Wirkung auch gegenüber Dritten, klarzustellen. § 644 ZPO sei jedoch trotz Neuverkündung der Zivilprozeßordnung im Jahre 1950 unverändert geblieben, also mit Art. 6 Abs. 5 GG unvereinbar.

Ebenso stehe der Ausschluß des Statusverfahrens für die Feststellung der außerehelichen Vaterschaft in Widerspruch zu Art. 3 Abs. 3 GG, da das Differenzierungsverbot nach der "Abstammung" in dieser Vorschrift sich auch auf die eheliche oder außereheliche Geburt beziehe.

Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 644 ZPO sei für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich: Sei § 644 ZPO gültig, so müsse die Klage, da der Kläger ausdrücklich eine Feststellung im Statusverfahren und nicht nach § 256 ZPO im einfachen Verfahren begehre, ohne weitere Sachprüfung abgewiesen werden; sei hingegen § 644 ZPO nichtig, so wäre das Verfahren als Statussache zu behandeln und nach den Vorschriften der §§ 606 ff., 640 ff. ZPO zu führen, insbesondere wäre in eine vom Grundsatz der Amtsermittlung (§ 622 ZPO) bestimmte Beweisaufnahme einzutreten.

2. Im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht hat sich der Bundesminister der Justiz dahin geäußert, daß § 644 ZPO auch dann mit dem Grundgesetz vereinbar sei, wenn er im Sinne des vorlegenden Gerichts ausgelegt werde.

Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat ausgeführt, daß nach seiner ständigen Rechtsprechung § 644 ZPO der Klage auf Feststellung der unehelichen Vaterschaft im Statusverfahren nach §§ 640 ff. ZPO nicht entgegenstehe, es sei denn, Gegenstand des Rechtsstreites wären nur die unterhaltsrechtlichen Auswirkungen der Vaterschaft.

Der Kläger hat sich dieser Interpretation des § 644 ZPO angeschlossen, jedoch hinzugefügt, daß er die Vorschrift als Benachteiligung der unehelichen Kinder für grundgesetzwidrig halten würde, wenn die Interpretation des vorlegenden Gerichts zuträfe.

II.

Die Vorlage, über die ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (BVerfGE 2, 213 [217 f.]), ist zulässig.

1. § 644 ZPO ist nicht vorkonstitutionelles Recht im Sinne der Entscheidung vom 24. Februar 1953 (BVerfGE 2, 124 [128 ff.]) und unterliegt daher der Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG.

Die Zivilprozeßordnung gilt heute in der Fassung des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950, BGBl. I S. 455 (Vereinheitlichungsgesetz). § 644 ZPO dieser Fassung stimmt zwar wörtlich überein mit der vor Inkrafttreten des Grundgesetzes geltenden Fassung (vgl. Bekanntmachung der ZPO vom 8. November 1933, RGBl. I S. 821 [882]), doch hat der Bundesgesetzgeber die Zivilprozeßordnung in ihrem ganzen Inhalt neu beschlossen: Während im Regierungsentwurf des Vereinheitlichungsgesetzes nur eine Ermächtigung an den Bundesjustizminister vorgesehen war, den Wortlaut des Gerichtsverfassungsgesetzes, der Zivilprozeßordnung und der Strafprozeßordnung mit diesem Gesetz und früheren Änderungsgesetzen und Verordnungen in Einklang zu bringen und im Bundesgesetzblatt neu bekanntzumachen (BT I/1949 Drucks. Nr. 530 Art. 9 S. 74), schlug der Bundesrat bereits im ersten Durchgang vor, die Bekanntmachung der Neufassung jener Gesetze "als Anlagen des" (Vereinheitlichungs-)"Gesetzes zu veröffentlichen und sie damit zum Bestandteil des Gesetzes zu machen" (Drucks. Nr. 530 Anl. II S. 30). Die Bundesregierung nahm diese Anregung auf. Auch für die Anlagen des Gesetzes ist das volle Verfahren der Gesetzgebung durchgeführt worden (vgl. Drucks. Nr. 530 Anl. III S. 35 zu Ziff. IV und Drucks. Nr. 1138, Bericht des Ausschusses für Rechtswesen über den Entwurf des Wiederherstellungsgesetzes). Die Anlagen dienten sonach nicht nur der deklaratorischen Klarstellung der Gesetzestexte; vielmehr umfaßt die konstitutive Entscheidung des Gesetzgebers ihren Gesamtinhalt, das heißt auch den Gesamtinhalt der Zivilprozeßordnung (vgl. Art. 9 des Vereinheitlichungsgesetzes). Beim Vorliegen eines solchen formellen Gesetzgebungsaktes kann die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 1957 (BVerfGE 6, 55 [64 bis 66]) erörterte Frage, ob der Gesetzgeber eine Norm in seinen Willen aufgenommen hat, gar nicht auftauchen.

2. Die vorgelegte Frage ist auch vom Rechtsstandpunkt des Landgerichts aus gesehen für dessen Entscheidung erheblich. Die Auffassung des Landgerichts, daß § 644 ZPO jedes Statusverfahren um die uneheliche Vaterschaft ausschließe, ist vielfach und mit guten Gründen vertreten worden; der Kommentar zur Zivilprozeßordnung von Baumbach/Lauterbach bezeichnet sie noch in der 20. Auflage 1951 als "zur Zeit überwiegend". Auch die Ansicht des Landgerichts, daß der Rechtsschutzanspruch im Statusverfahren nach §§ 640 ff., 606 ff. ZPO ein aliud gegenüber dem Rechtsschutzanspruch im gewöhnlichen Verfahren sei, daß also bei Gültigkeit des § 644 ZPO die ausdrücklich ein Statusurteil begehrende Klage a limine abzuweisen, im Falle der Verfassungswidrigkeit dieser Vorschrift aber in das besonders gestaltete Statusverfahren einzutreten wäre, ist jedenfalls nicht offensichtlich unhaltbar. Das genügt, um die Zulässigkeit der Vorlage zu bejahen (BVerfGE 2,181 [191 f.]).

III.

Die Bedenken des Landgerichts gegen die Grundgesetzmäßigkeit von § 644 ZPO sind nicht begründet.

1. Das Landgericht sieht in erster Linie Art. 6 Abs. 5 GG als verletzt an, der sagt, daß "den unehelichen Kindern ... durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen (sind) wie den ehelichen Kindern".

Mit dem Landgericht ist davon auszugehen, daß es zu diesen "gleichen Bedingungen" gehört, ein Verfahren bereitzustellen, welches den unehelichen Kindern die Möglichkeit gibt, ihre Abstammung von einem bestimmten Mann mit Wirkung auch gegenüber Dritten klarzustellen. Dagegen kann kein Einwand daraus hergeleitet werden, daß es auch für das eheliche Kind keine Möglichkeit gibt, die Abstammung von seinem Vater durch Feststellungsklage im positiven Sinne zu klären, und daß es gegenüber dem Scheinvater im Anfechtungsprozeß auf die Rolle des Beklagten beschränkt ist (§§ 1593 ff. BGB). Die tatsächliche und die rechtliche Lage des unehelichen Kindes im Familienverband unterscheidet sich durch das Fehlen des ehelichen Vaters grundlegend und unabänderlich von der des ehelichen Kindes. Während die Familie, in die das eheliche Kind hineingeboren wird, eine Erweiterung der Ehegemeinschaft seiner – gemeinsam sorge und erziehungsberechtigten – Eltern ist, besteht eine Familiengemeinschaft für das uneheliche Kind stets nur mit der – allein sorge- und erziehungsberechtigten – Mutter. Die Aufgabe, "gleiche Bedingungen" zu schaffen, kann also im Familienrecht nur bedeuten, daß die rechtliche Situation des unehelichen Kindes, soweit sie für seine leibliche und seelische Entwicklung und seine Stellung in der Gesellschaft von Belang ist, der Situation des ehelichen Kindes möglichst gleichwertig gestaltet werden soll. Es besteht kein Zweifel, daß Ungewißheit über die Person des Vaters die leibliche und seelische Entwicklung eines Kindes und seine Stellung in der Gesellschaft beeinträchtigen kann, zumal unsere Rechtsordnung – wie unten erörtert – an die Abstammung vielfältige Rechtsfolgen knüpft. Die "gleiche Bedingung", um die es sich in diesem Zusammenhang handelt, ist also die Gewißheit über einen Status: die Abstammung von einem bestimmten Mann. Sie wird den ehelichen Kindern unmittelbar durch das Gesetz gewährt, da sie bis zur rechtskräftigen Feststellung des Gegenteils – mit Wirkung gegen alle – als Kinder des Ehemannes ihrer Mutter gelten (§ 1591 BGB). Eine entsprechende Bestimmung des materiellen Rechts kann es nach den tatsächlichen Verhältnissen für die unehelichen Kinder nicht geben. Hingegen ist die Möglichkeit, über die Person des Vaters im Wege der Feststellungsklage Gewißheit zu schaffen, ein der tatsächlichen Lage des unehelichen Kindes angepaßter Ausgleich für die beim ehelichen Kind von vornherein, kraft Gesetzes bestehende Gewißheit (so auch BGH- Urteil vom 4. Juli 1956 LM § 640 ZPO Nr. 14).

2. Daraus folgt jedoch nicht, daß Art. 6 Abs. 5 GG durch 644 ZPO verletzt wird.

a) Art. 6 Abs. 5 GG ist durch die Formulierung "sind durch die Gesetzgebung ... zu schaffen" unzweideutig eine Anweisung an den Gesetzgeber; der Bestimmung fehlt also – trotz Art. 1 Abs. 3 GG – zunächst derogatorische Kraft gegenüber bisherigem entgegenstehendem Recht. So ist sie auch von den Schöpfern des Grundgesetzes gedacht und in Rechtsprechung und Literatur verstanden worden. Das Ob und Wann der Erfüllung des Gesetzgebungsauftrages liegt jedoch nicht im freien Belieben des Gesetzgebers. Ist die Verheißung einer bestimmten Gesetzgebung zum Verfassungsrechtssatz erhoben, so ist er vielmehr gebunden, die Verheißung zu erfüllen, und er verletzt die Verfassung, wenn er es unterläßt, den Verfassungsauftrag in angemessener Frist auszuführen (BVerfGE 6, 257 [265/266]). Das Grundgesetz will auch in Art. 6 Abs. 5 ernster genommen werden, als die inhaltsgleiche Bestimmung des Artikels 121 der Weimarer Reichsverfassung von der Gesetzgebungspraxis genommen worden ist. Das Bundesverfassungsgericht hat beim Ausbleiben des Anpassungsgesetzes zu Art. 3 Abs. 2 GG (Gleichberechtigung von Mann und Frau) nach Ablauf der dem Gesetzgeber in Art. 117 GG gesetzten Frist den unmittelbaren Vollzug des Art. 3 Abs. 2 durch die Gerichte gebilligt, dieser Norm also von jenem Zeitpunkt an derogatorische Kraft gegenüber entgegenstehendem Recht und die Bedeutung einer Generalklausel für das gesamte Recht beigemessen (BVerfGE 3, 225 ff.). Es mag dahinstehen, ob dem Art. 6 Abs. 5 GG ein zum unmittelbaren Vollzug geeigneter präziser Rechtsgehalt innewohnt, so daß dieser Artikel eine ähnliche Funktion übernehmen könnte wie Art. 3 Abs. 2 GG. Im vorliegenden Fall bedarf es keiner endgültigen Entscheidung, ob und in welchen Grenzen das Ausbleiben des Anpassungsgesetzes zu Art. 6 Abs. 5 GG einen solchen Funktionswechsel der Norm vom Gesetzgebungsauftrag zur aktuellen Rechtsnorm mit derogatorischer Kraft und der Bedeutung einer Generalklausel für das gesamte Unehelichenrecht zur Folge haben kann.

Denn auch wenn man Art. 6 Abs. 5 GG lediglich als Gesetzgebungsauftrag versteht, ist er Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die Gerichte und Verwaltung im Rahmen der geltenden Gesetze bei der Ausübung des Ermessens bindet. Die praktische Bedeutung dieser Bindung für die Gerichte liegt darin, daß die in der Verfassungsnorm ausgeprägte Wertauffassung bei der den Gerichten anvertrauten Interessenabwägung und vor allem bei der Interpretation der einfachen Gesetze zugrunde zu legen ist. Diese Funktion des Art. 6 Abs. 5 GG reicht aus, um die vorgelegte Verfassungsfrage zu entscheiden.

b) Die Wertauffassung des Art. 6 Abs. 5 GG ist auch bei der Entscheidung über die Auslegung von § 644 ZPO zu berücksichtigen. Bei der materiellen Prüfung der vorgelegten Verfassungsnorm kann das Bundesverfassungsgericht nicht wie bei der Zulässigkeitsprüfung ohne weiteres von der Auslegung des § 644 ZPO durch das vorlegende Gericht ausgehen. Das Bundesverfassungsgericht muß vielmehr diese Auslegung selbständig vornehmen, da die richtige Beantwortung der Frage nach der Vereinbarkeit der Bestimmung mit dem Grundgesetz nur möglich ist, wenn man dabei von der zutreffenden Interpretation ausgeht (BVerfGE 2, 181 [193]; 7, 45 [50]).

In Rechtsprechung und Literatur hat sich eine einheitliche Ansicht bisher nicht gebildet. Eine Gruppe – so auch das vorlegende Gericht – versteht § 644 ZPO, seinem Wortlaut entsprechend, dahin, daß er ein Statusverfahren um die Feststellung der unehelichen Vaterschaft schlechthin ausschließe. Die andere – jetzt überwiegende – Gruppe folgt der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der, wenn das Verfahren nicht auf die vermögensrechtlichen Auswirkungen der Vaterschaft beschränkt ist, die Durchführung der Feststellungsklage um die uneheliche Vaterschaft im Statusverfahren trotz des Wortlautes von § 644 ZPO für zulässig und geboten hält (vgl. vor allem die grundlegenden Entscheidungen BGHZ 5, 385 ff. und BGH LM § 640 ZPO Nr. 14).

Der Bundesgerichtshof begründet diese einschränkende Interpretation des § 644 ZPO damit, daß § 644 im Zusammenhang mit den sonstigen die Rechtsstellung der unehelichen Kinder betreffenden Vorschriften gesehen und verstanden werden müsse. Bei der Schaffung des § 644 ZPO sei der Gesetzgeber, den Vorstellungen seiner Zeit gemäß, davon ausgegangen, daß ein Rechtsschutzbedürfnis nur für die Feststellung der Zahlvaterschaft bestehe, daß dafür aber schon angesichts der Beweiserleichterung des § 1717 BGB das ordentliche Verfahren besser geeignet sei als das Statusverfahren. Ein Verfahren für die Feststellung der wirklichen, nicht nur der möglichen Vaterschaft zur Verfügung zu stellen, habe er bei dem damaligen Stande der Wissenschaft und den damaligen praktisch wenig bedeutenden Nebenwirkungen der unehelichen Vaterschaft nicht für notwendig gehalten (Eheverbot, Legitimation durch nachfolgende Ehe oder durch Staatsakt, und Strafbarkeit des Beischlafes). § 644 ZPO habe also nur klarstellen sollen, daß auf eine Klage, die die Feststellung der unehelichen Zahlvaterschaft zum Gegenstand hat, die Vorschriften über das Statusverfahren nicht anzuwenden seien. Inzwischen sei der Nachweis der wirklichen Vaterschaft durch die Entwicklung der biologischen Wissenschaft in weit größerem Maße möglich als bei Schaffung des § 644 ZPO; auch seien im öffentlichen Recht, insbesondere in der Sozialversicherung, zugunsten der unehelichen Kinder Vorschriften geschaffen worden, die auf der Anerkennung von Rechtswirkungen der unehelichen Vaterschaft über die bürgerlich-rechtliche Unterhaltspflicht hinaus beruhten und ohne verbindliche Feststellung der Vaterschaft nicht voll zur Auswirkung kommen würden. Es sei durch diese Entwicklung ein starkes Bedürfnis nach Feststellung der wirklichen unehelichen Vaterschaft mit Wirkung gegen Dritte entstanden und eine Gesetzeslücke offenbar geworden, die von den Gerichten geschlossen werden müsse. Das könne im Hinblick darauf, daß die "natürliche Verwandtschaft – vgl. Ehegesetz § 4 – über die an dem Feststellungsprozeß unmittelbar Beteiligten hinaus wirke, sinngemäß nur dadurch geschehen, daß für das Feststellungsverfahren über die wirkliche uneheliche Vaterschaft die Vorschriften der §§ 640 ff. ZPO angewendet würden.

Diese Interpretation des § 644 ZPO durch den Bundesgerichtshof verdient gegenüber der reinen Wortinterpretation den Vorzug: Als § 644 ZPO geschaffen wurde, war weder die Blutgruppenuntersuchung noch die erbbiologische Untersuchung als Beweismittel bekannt; die wirkliche uneheliche Vaterschaft war daher, wenn sie bestritten wurde, kaum mit Sicherheit beweisbar, und die Gerichte waren aus diesem praktischen Grunde auf die von erleichterten Beweisbedingungen abhängige Feststellung der Zahlvaterschaft beschränkt. Überdies bestand für eine Feststellung der unehelichen Vaterschaft mit Wirkung gegenüber Dritten kein großes praktisches Bedürfnis, da die uneheliche Vaterschaft für öffentlich- rechtliche Ansprüche kaum eine Rolle spielte. Der Grundsatz, daß auch für alle öffentlich-rechtlichen Ansprüche nur die ehelichen Kinder als Kinder ihres Vaters galten, wurde erstmals 1911 für die Unfallversicherung (RVO § 588) durchbrochen und änderte sich in weiterem Umfang erst, seitdem bei Beginn des ersten Weltkrieges "die Unterstützung für die Familien der eingezogenen Mannschaften in gleicher Höhe den unehelichen wie den ehelichen Kindern zugesprochen wurde" (Klumker in Nipperdey: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Berlin 1930, Bd. II, 109). Heute gibt die natürliche Verwandtschaft dem unehelichen Vater wie dem unehelichen Kind die verschiedensten Ansprüche im Beamten- und Besoldungsrecht, im Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht und in anderen verwandten Rechtsgebieten. Erst durch diese Entwicklung ist deutlich geworden, daß es sich bei der unehelichen Abstammung über die Unterhaltsansprüche des Kindes gegen den unehelichen Vater hinaus um ein Rechtsverhältnis im Sinne eines besonderen personenrechtlichen Grundverhältnisses handelt, das die einheitliche Quelle verschiedener Ansprüche ist. Dementsprechend geht das Personenstandsgesetz – in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. August 1957 (BGBl. I S.1125), § 30 Abs. 1 davon aus, daß für jedes Kind, ob ehelich oder unehelich geboren, ein der Registrierung fähiges Statusverhältnis der Abstammung gegeben ist.

Es ist durchaus möglich, ja wahrscheinlich, daß § 644 ZPO um die Jahrhundertwende nur dahin gemeint und verstanden wurde, daß er das Statusverfahren für die Feststellung der Zahlvaterschaft ausschloß – etwas anderes als der Streit um die Zahlvaterschaft kam gar nicht vor. Auch die Neuverkündung der Zivilprozeßordnung im Jahre 1950 steht dieser Interpretation des § 644 ZPO nicht entgegen. Mangels konkreter Anhaltspunkte spricht nichts dafür, daß "durch die Aufrechterhaltung der alten Bestimmung des § 644 ZPO eine gesetzgeberische Entscheidung getroffen worden ist, die... den Weg zu der Auffassung des Bundesgerichtshofes versperrt" (Vorlagebeschluß S. 5). Es muß vielmehr unterstellt werden, daß der Bundesgesetzgeber die Richtlinie des Art. 6 Abs. 5 GG berücksichtigen wollte, daß er also von der Vorstellung ausging, die Feststellung der wirklichen unehelichen Vaterschaft im Statusverfahren mit Wirkung inter omnes werde von § 644 ZPO nicht berührt. Diese Annahme liegt um so näher, als nicht nur zahlreiche Gesetze der Leistungsverwaltung und die Registrierfähigkeit der "Abstammung" im Personenstandsregister dazu drängen, materiell ein einheitliches Grundverhältnis der "natürlichen Vaterschaft" anzuerkennen. § 30 Abs. 1 des Personenstandsgesetzes unterstellt auch, daß ein Verfahren zur Verfügung steht, in welchem die Abstammung des unehelichen Kindes allgemein verbindlich festgestellt werden kann (worauf ebenfalls der Bundesgerichtshof bereits hingewiesen hat, BGHZ 5, 385 [398]).

Es handelt sich also bei der Auslegung des § 644 ZPO durch den Bundesgerichtshof nicht um eine Interpretation contra legem, durch die einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz ein entgegengesetzter Sinn gegeben würde, mit der das Gericht also in verfassungsrechtlich unhaltbarer Weise in die Kompetenzen des Gesetzgebers eingriffe (BVerfGE 8, 28 [33/34]). Die Interpretation dient vielmehr der legitimen richterlichen Aufgabe, den Sinn einer Gesetzesbestimmung aus ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung zu erforschen, ohne am Wortlaut des Gesetzes zu haften.

Sind aber zwei verschiedene Deutungen einer Norm möglich, so verdient diejenige den Vorzug, die einer Wertentscheidung der Verfassung besser entspricht. Das hat auch der Bundesgerichtshof angedeutet; er ist zwar zu seiner Interpretation gelangt, ohne die Verfassung heranzuziehen, hat aber seine Ansicht mit dem Hinweis darauf bekräftigt, daß "es zur Ausführung des genannten Verfassungsgrundsatzes" (des Art. 6 Abs. 5 GG) "unerläßlich ist, dem unehelichen Kind die Möglichkeit der Klärung seiner Abstammung in einem die Ermittlung der Wahrheit weitgehend gewährleistenden Verfahren und mit allgemein bindender Wirkung zu geben" (BGH-Urteil vom 4. Juli 1956 LM Nr. 14 zu 640).

Entspricht die Deutung des § 644 ZPO durch den Bundesgerichtshof hiernach der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 5 GG besser als die Deutung durch das vorlegende Gericht, so kann nur von jener ausgegangen werden.
3. Schließt § 644 ZPO das Statusverfahren nach §§ 640 ff. ZPO nur für die Feststellung der Zahlvaterschaft, nicht aber für die Feststellung der wirklichen unehelichen Vaterschaft aus, so entfällt die vom Landgericht beanstandete Benachteiligung des unehelichen Kindes und damit jeder Grund für eine etwaige Unvereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 5 GG.

Einer Prüfung, ob § 644 ZPO mit Art. 3 Abs. 3 GG vereinbar ist, bedarf es nicht, weil jedenfalls für die hier zu entscheidende Rechtsfrage Art. 6 Abs. 5 GG gegenüber Art. 3 Abs. 3 GG lex specialis ist.