RG, 21.03.1887 - IIIa 404/86

Daten
Fall: 
Versicherungszwang
Fundstellen: 
RGZ 17, 86
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
21.03.1887
Aktenzeichen: 
IIIa 404/86
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Dresden
  • OLG Dresden
Stichwörter: 
  • Krankenversicherungspflicht der Schauspieler.

Sind Schauspieler und Orchestermitglieder, welche von dem Unternehmer eines ständigen Theaters (§. 32 GewO) engagiert sind, als "Personen, welche in einem stehenden Gewerbebetriebe gegen Gehalt oder Lohn beschäftigt sind", dem Versicherungszwange nach §. 1 des Reichsgesetzes, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, vom 15. Juni 1883 unterworfen?

Aus den Gründen

"Nach dem Statute der Ortskrankenkasse VI zu D., errichtet vom Stadtrate zu D. am 11. August 1884 und genehmigt von, der Königl. Kreishauptmannschaft zu D. am 23. desselben Monates, §. 1 sind dieser Krankenkasse unter anderem zugeteilt die Betriebe der Theater. Von der genannten Kasse aufgefordert, sein bei ihm beschäftigtes Personal, einschließlich der Musikkapelle, zur Krankenversicherung anzumelden, hat der Kläger K., Direktor des ........theaters zu D., zwar bezüglich des von ihm beschäftigten sog. technischen Personales, Theatermeister, Schnürbodenmeister, Bühnenarbeiter, Beleuchter, Requisiteure und Garderobiers, jener Aufforderung Folge geleistet, dagegen in Ansehung des künstlerischen Personales, als: Schauspieler, Sänger, Choristen und Musiker, remonstriert, worauf vonseiten des Stadtrates zu D. am 30. April 1886 der Bescheid erging, daß das Theaterpersonal, soweit dessen täglicher Lohn oder Gehalt 6 2/3 M nicht übersteigt, namentlich auch die Musiker und Choristen, versicherungspflichtig seien, und Theaterdirektor K. deshalb verbunden sei, für dasselbe die Beiträge zur Ortskrankenkasse zu entrichten. Die hiernächst von K. gegen die Ortskrankenkasse VI zu D. erhobene negative Feststellungsklage wurde vom Landgerichte kostenfällig abgewiesen, wogegen auf vom Kläger eingewendete Berufung das Oberlandesgericht mit Urteil vom 22. November 1886 abändernd, unter Aufhebung der Entscheidung des Rates zu D. vom 30. April 1886, auf Feststellung dahin erkannte, daß die vom Kläger im ...... theater beschäftigten Schauspieler, Sänger, Ballettänzer, Choristen und Musiker der Versicherungspflicht nach §. 1 des Krankenversicherungsgesetzes vom 15. Juni 1883 nicht unterliegen und Kläger nicht verbunden sei, für diese Personen die geordneten Beiträge zu der beklagten Kasse zu entrichten. In den Gründen zu diesem, von der Beklagten mit Revision angefochtenen Urteile ist ausgeführt, Beklagte habe die künstlerische Befähigung und Thätigkeit des vom Kläger beschäftigten Bühnen- und Orchesterpersonales nicht bezweifelt, sondern ihre Rechtsverteidigung nur darauf gestützt, daß das Unternehmen des Klägers als ein Gewerbsunternehmen zu behandeln und sein Personal daher ein solches sei, welches "in einem stehenden Gewerbebetriebe gegen Gehalt oder Lohn beschäftigt werde"; damit seien die Voraussetzungen des §. 1 Ziff. 2 des Krankenversicherungsgesetzes erfüllt; die Art der Beschäftigung sei für die Versicherungspflicht nicht entscheidend. Dieser von der ersten Instanz adoptierten Anschauung könne das Berufungsgericht sich nicht anschließen. Das Krankenversicherungsgesetz bezeichne sich selbst als Gesetz betreffend die Krankenversicherung "der Arbeiter". Schon hieraus ergebe sich, daß, ungeachtet der allgemeinen Fassung des §. 1, nicht alle Klassen von "Personen", deren Thätigkeit bei einem stehenden Gewerbebetriebe Verwendung finde, der Wohlthaten des Krankenversicherungsgesetzes teilhaftig werden sollen, sondern nur solche Personen, welche sich als gewerbliche Arbeiter bezeichnen lassen. In der Fassung des Regierungsentwurfes sei dieser Gedanke zu unzweideutigem Ausdrucke gelangt, denn §. 1 laute:

Alle in Bergwerken, Salinen - beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten, letztere, insofern ihr Arbeitsverdienst etc. für den Arbeitstag 6 2/3 M nicht übersteigt, sind - zu versichern. Dasselbe gilt

  1. von allen im Handwerke gegen Lohn beschäftigten Gesellen und Lehrlingen;
  2. von allen Gehilfen und Arbeitern, welche in sonstigen stehenden Gewerbebetrieben gegen Lohn beschäftigt sind, soweit sie nicht unter §. 2 fallen.

In den Motiven des Entwurfes sei die Frage nach der Begrenzung des Versicherungszwanges dahin beantwortet, daß dem letzteren "alle Arbeiter zu unterwerfen seien, hinsichtlich deren die Durchführung des Zwanges gesichert werden könne," und daraus die Beschränkung auf diejenigen "Arbeiter" hergeleitet, hinsichtlich deren ein "Arbeitgeber" für die Eingehung und Aufrechterhaltung des Versicherungsverhältnisses verantwortlich zu machen sei. Diese Voraussetzung treffe bei allen Arbeitern, die unter das Unfallversicherungsgesetz fallen, und in der Regel auch bei sonstigen Gehilfen und Arbeitern zu, welche in einem stehenden Gewerbebetriebe beschäftigt sind.

Bei den Kommissionsberatungen sei die Scheidung des §. 1 in zwei Absätze aufgehoben, der Inhalt des ersten Absatzes der Regierungsvorlage aus Nr. 1 in den §. 1 aufgenommen, die Bezeichnung der in §. 1 Abs. 2 des Entwurfes unter Ziff. 1. 2 aufgeführten Personen unter Nr. 2 zusammengezogen und eine neue Klasse Versicherungspflichtiger unter Nr. 3 hinzugefügt. Hierzu bemerke der Kommissionsbericht:

"Den §§. 1-3 der Vorlage entsprechen die §§. 1 Abs. 1a. 2 und 3 der Kommissionsbeschlüsse. Die Zusammenfassung sämtlicher nach §. 1 Versicherungspflichtiger unter der gemeinsamen Bezeichnung "Personen, welche gegen Gehalt oder Lohn beschäftigt sind", erschien im Interesse größerer Kürze erwünscht und zugleich unbedenklich."

Bei der Beratung im Plenum sei §. 1 in der Fassung der Kommission angenommen worden. Die Debatte gebe keinen Anhalt dafür, daß die von der Kommission gewählte gemeinsame Bezeichnung "Personen, welche ........" in einem von der Regierungsvorlage abweichenden Sinne aufgefaßt worden wäre. Es habe vielmehr Einverständnis geherrscht darüber, daß das Gesetz den gewerblichen Arbeitern, den Lohnarbeitern, den arbeitenden Klassen zu gute kommen solle; einzelne Redner hätten die geplante Krankenversicherung geradezu als eine "Arbeiterversicherung" bezeichnet, und der Vertreter der verbündeten Regierungen habe betont, daß es sich nur um eine Fortbildung des Bestehenden handele, um eine Gestaltung der Ortskrankenkasse, entsprechend denjenigen Kassen, welche örtlich für einzelne Gewerbszweige bereits beständen.

Hiernach habe unzweifelhaft der Gesetzgeber unter den in §. 1 Ziff. 2 a. a. O. erwähnten "Personen" nur die gewerblichen Arbeiter verstanden wissen wollen, welche in stehenden Gewerbebetrieben Beschäftigung finden. Gleicher Ansicht sei Wödtke, Kommentar S. 24; ähnlich erläutere Schicker im Kommentar S. 2 Anm. 8 jenen Ausdruck.
Vgl. auch Engelmann, Kommentar S. 27. 29 flg. und Balk, Kommentar S. 2.

Nun ließen sich aber Schauspieler, Sänger, Ballettänzer, Choristen und Musiker im Dienste eines Theaterunternehmers, dessen Schaustellungen und Darbietungen einem höheren Kunstinteresse dienen, nicht auf eine Stufe mit den gewerblichen Arbeitern stellen, vielmehr fielen die Leistungen solcher Personen in das Gebiet der schönen Künste, deren Ausübung, auch wenn sie im Dienste eines Unternehmers erfolgt, nicht unter das Krankenversicherungsgesetz gestellt werden sollte. Dem lasse sich nicht einhalten, daß das Gesetz auch die Betriebsbeamten unter Umständen dem Versicherungszwange unterwerfe. Denn hierbei handele es sich, wie die im Gesetze vorgesehene Gehaltsgrenze ersehen lasse, nicht um Personen mit höherer wissenschaftlicher oder künstlerischer Ausbildung, und dann stehe der Betriebsbeamte immer noch in unmittelbarerer Beziehung zu dem Gewerbebetriebe des Unternehmers, als der mit einer gewissen Selbständigkeit seine Kunst ausübende Schauspieler und Musiker eines Theaterunternehmers. Zwar lasse die wirtschaftliche Lage mancher Bühnenkünstler und Musiker es wünschenswert erscheinen, sie an der Krankenversicherung teilnehmen zu lassen; allein das Gesetz biete keine Handhabe für ihre Heranziehung zu einer Zwangskasse. Ebensowenig vermöge dies die Gemeinde durch statutarische Bestimmungen herbeizuführen, da auch §. 2 des Gesetzes auf Bühnenkünstler und Musiker nicht zutreffe. Hiernach sei die Bestimmung in §. 1 Ziff. 2 des Statutes der Ortskrankenkasse VI ohne Belang, abgesehen davon, daß dieselbe ohnehin nur auf die eigentlichen Gewerbsgehilfen des Theaterunternehmers bezogen zu werden brauche.

Der vom Kläger angetretene Beweis, daß in keiner anderen Stadt Deutschlands eine Heranziehung des Künstlerpersonales der Theater zur Krankenversicherung stattgefunden, bedürfe hiernach nicht der Erhebung und sei der Berufung sofort Folge zu geben.

Diesen Ausführungen und Erwägungen, gegen welche der Revisionsangriff sich richtet, war im wesentlichen beizutreten. Es ist keineswegs, wie Revisionsklägerin meint, unzulässig, behufs Ausmittelung des Sinnes einer Gesetzesbestimmung auf die Entwürfe und Motive des Gesetzes, auf die Beratungen der Kommission und die Verhandlungen des Reichstages, mithin auf die Anschauungen und Äußerungen der verschiedenen Gesetzgebungsfaktoren, bezugzunehmen. Gegebenen Falles, wo schon der Titel des Gesetzes darauf hinweist, daß es sich um eine für die Arbeiter bestimmte Einrichtung handele, hat der Berufungsrichter die Grenzen der Auslegung nicht überschritten, wenn er aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes Anhaltspunkte für die Ermittelung desjenigen Personenkreises zu gewinnen strebte, auf welchen das Gesetz den Versicherungszwang erstrecken wollte. In den hierbei gewonnenen Resultaten aber wird dem zweiten Richter lediglich beigepflichtet; diese Resultate lassen sich dahin zusammenfassen, daß das Gesetz auf diejenigen Personen Anwendung findet, welche der Klasse der gewerblichen Arbeiter im weitesten Sinne angehören. Wie es nun einerseits keinem Zweifel unterliegt, daß Kläger als Unternehmer eines ständigen Theaters nach §. 32 der Gewerbeordnung ein stehendes Gewerbe betreibt, so ist andererseits vom zweiten Richter ohne Rechtsirrtum angenommen, daß das vom Kläger beschäftigte Bühnen- und Orchesterpersonal, wenngleich es vom Kläger Gehalt beziehungsweise Lohn erhält, nicht unter die gewerblichen Arbeiter des Klägers, mithin nicht zu den Personen zu rechnen, welche im Sinne des §. 1 des Krankenversicherungsgesetzes im Gewerbe des Klägers beschäftigt sind. Einen Behelf hierfür bietet schon der Sprachgebrauch, welcher bei Auslegung eines Gesetzes gleichfalls Berücksichtigung finden kann.

Zu keiner Zeit hat man die Sänger, Schauspieler, Ballettänzer und Orchestermusiker als die Arbeiter des Theaterunternehmers, letzteren als den Arbeitgeber der Bühnen- und Orchestermitglieder bezeichnet; ebenso ferne lag und liegt die Bezeichnung dieser vom Theaterunternehmer engagierten Künstler als Gewerbsgehilfen des Directors. Zwar weist das positive Gesetz das Theaterunternehmen selbst - vorausgesetzt, daß darin eine auf Erwerb gerichtete Thätigkeit in die Erscheinung tritt - den Gewerben zu; gleichwohl ist nicht anzunehmen, daß die einzelne Theatervorstellung, bei welcher die Bühnenkünstler und Musiker mitwirken, im Sinne der Gesetzgebung als Gewerbserzeugnis zu gelten hätte. Eine Theatervorstellung ist die mehr oder weniger freie Wiedergabe der dramatischen Erzeugnisse der Dichtkunst und musikalischen Komposition vermittelst der darstellenden, der rezitierenden und der Tonkunst in einem dazu hergerichteten Raume; das Produkt des Zusammenwirkens der hierbei mitwirkenden Künstler besteht nicht in einer greifbaren Sache, sondern hat lediglich die ideale Bestimmung, dem Publikum einen, teils die Sinne, teils den Geist und die Seele ergreifenden, vorübergehenden Genuß zu bereiten. Die Aufgabe des "Theaterpersonales" im engeren Sinne nun beruht hauptsächlich in der Vorführung der Theatervorstellungen, und außerdem in der Vorbereitung hierzu durch Studium und Proben.

Ist aber diese Thätigkeit weder selbst, noch in ihrem Gesamtprodukte auf Herstellung eines Gewerbserzeugnisses gerichtet, so besteht offenbar zwischen den Theatervorstellungen als solchen und dem Theaterunternehmer als Gewerbe kein innerer, sachlicher, sondern nur der äußerliche Zusammenhang, daß der Unternehmer mittels Benützung reiner Kunstleistungen einen Erwerb zu machen beabsichtigt. Hieraus folgt, daß die Schauspieler, Sänger und Musiker, welche lediglich jene künstlerische Thätigkeit entwickeln, nicht aber zur Herstellung eines Gewerbserzeugnisses mitwirken, nicht als "im Gewerbebetriebe des Theaterunternehmers beschäftigte Personen" gelten können. Daß dieselben auch nicht in die Kategorie von Betriebsbeamten im Sinne des §. 1 des Krankenversicherungsgesetzes fallen, bedarf kaum der Andeutung. Sind aber, was gleichfalls kaum bestritten werden wird, die Sänger und Schauspieler, welchen selbständige Rollen zugeteilt sind und welche oft den Ruf von Künstlern ersten Ranges besitzen, nicht den gewerblichen Arbeitern oder Gewerbsgehilfen des Theaterunternehmers beizuzählen - und der Stadtrat zu D. scheint selbst von dieser Anschauung ausgegangen zu sein, da er die vom Gesetze nur bei den Betriebsbeamten, nicht auch bei den Arbeitern nach der Höhe des Gehaltes gezogene Grenze als maßgebend erachtet, wofür im Gesetze sich gar keine Handhabe bietet -, so fällt auch nicht das übrige Bühnenpersonal in jene Kategorie; denn der Umstand, daß die Choristen, das Balletkorps und ein Teil der Musiker mehr untergeordnete Kunstleistungen darbieten, hebt den Charakter dieser Leistungen nicht auf und hat insbesondere nicht die Folge, daß die Stellung oder das Verhältnis der letztgenannten Personen zu dem Theaterunternehmer als Gewerbetreibenden einerseits zu den Theatervorstellungen andererseits grundsätzlich andere wären, als jene der besseren und höher bezahlten Bühnen- etc. Künstler. Die Ziehung jener willkürlichen Grenze findet auch in §. 2 des Krankenversicherungsgesetzes keine Stütze, da dieser §. 2 augenfällig auf Schauspieler nicht anwendbar ist. Wenn Revisionsklägerin ausführt, daß nach der Anschauung des zweiten Richters der Musterzeichner, Porzellanmaler, Konstrukteur etc. als Künstler gleichfalls vom Versicherungszwange ausgeschlossen bleiben müßten, so geht dieser Angriff gänzlich fehl; denn diejenigen Künstler, welche von einem Gewerbetreibenden zur Herstellung eines - wenn auch kunst- - gewerblichen Erzeugnisses beschäftigt werden und in diesem Sinne ihre Kunst in den Dienst des Gewerbes stellen, werden ohne Rechtsirrtum als gewerbliche Arbeiter, als Gewerbsgehilfen, ihre Geschäftsherren als ihre Arbeitgeber bezeichnet werden und auch im täglichen Leben bezeichnet. Gerade dieses Argument spricht daher nicht für, sondern gegen die Revisionsklägerin.

Da auch sonst vom Berufungsrichter Rechtsnormen nicht verletzt sind, so mußte, wie geschehen, der Revision Erfolg versagt werden."

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