RG, 28.12.1880 - II 324/80
Sind die Voraussetzungen der Rechtskraft nach dem Rechte zu beurteilen, welches für das Gericht gilt, vor welchem die Einrede der Rechtskraft vorgeschützt wird, oder nach dem Rechte desjenigen Gerichtes, welches das Urteil gefällt hat, auf welches die Einrede gestützt wird? Bedeutung der Abweisung angebrachtermaßen.
Tatbestand
Die Kläger, welche mit ihren vor den Königl. sächsischen Gerichten erhobenen Klagen "angebrachtermaßen" abgewiesen worden waren, stellten eine neue Klage vor dem Königl. Stadtgerichte in Berlin an; es wurde die Einrede der Rechtskraft vorgeschützt und entstand dabei insbesondere die Frage, ob die Bedeutung einer solchen Abweisung nach sächsischem oder nach preußischem Rechte zu beurteilen sei. Das Nähere ergiebt sich aus den Gründen:
Gründe
"Da der gegenwärtige Rechtsstreit vor preußischen Gerichten geführt wird, ist nach preußischem Rechte zu beurteilen, welches die Voraussetzungen für die Einrede der rechtskräftig entschiedenen Sache sind; soweit aber zu den Bedingungen für die Einrede ein bereits ergangenes rechtskräftiges Urteil gehört, ist, da die beiden hier in Frage kommenden Urteile von Königl. sächsischen Gerichten erlassen worden sind, für die Bedeutung und Tragweite dieser Urteile das sächsische Recht maßgebend.
Es ist nun die erste von V. wegen angeblich unbefugter Aufführung der Oper "Tannhäuser" gegen den jetzigen Beklagten erhobene Klage durch das vom Reichsoberhandelsgericht am 21. April 1874 bestätigte Urteil "in der angebrachten Maße" deshalb abgewiesen worden, weil eine Theaterobservanz dahin angenommen wurde, daß der Pachter eines stehenden Theaters das Aufführungsrecht eines dramatisch-musikalischen Werkes für diese Bühne und nicht für seine Person erwerbe, und weil unbestritten Wirsing, der Pachtvorgänger des Beklagten, bereits im Jahre 1853 das Aufführungsrecht der gedachten Oper von deren Komponisten Richard Wagner erworben habe. Auch die zweite das Aufführungsrecht derselben Oper betreffende von V. gegen denselben Beklagten erhobene Klage ist in der "angebrachten Maße" abgewiesen und dies vom Reichsoberhandelsgericht unterm 29. Juni 1876 bestätigt worden.
Letztere Entscheidung beruht darauf, daß es nach dem zuerst erwähnten Urteile, dem Kläger unbenommen sein sollte, den erhobenen Anspruch durch eine neue Klage zu verfolgen, wenn er besondere Umstände darzulegen vermöchte, aus denen zu entnehmen wäre, daß die Ausübung des Aufführungsrechtes dem Pachtvorgänger des Beklagten nicht "für die Bühne in Leipzig", sondern nur seiner Person überlassen sei; daß nun aber in der neuen Klage solche besondere Umstände nicht geltend gemacht worden seien.
Diese Annahme des letzteren Urteiles, daß nach sächsischem Rechte durch die Abweisung angebrachtermaßen eine materielle, der Rechtskraft fähige Entscheidung geschaffen werde, deren Sinn und Umfang den Urteilsgründen zu entnehmen sei, entspricht vollkommen der in Sachsen geltenden Doktrin und Praxis. Vergl. Zeitschrift für Rechtspflege und Verwaltung N. F. Bd. 3 S. 387 Note 2, S. 394 flg,; Bd. 6 S. 203 unter 2; Bd. 19 S. 428; Bd. 34 S.138; Bd. 36 S.147; Bd. 38 S. 528. Es kann dahingestellt bleiben, ob nicht die erste Klage anstatt angebrachtermaßen definitiv abzuweisen gewesen wäre, weil es eigentlich nicht an der Schlüssigkeit derselben fehlte, sondern, weil die Einrede, observanzmäßig habe die Leipziger Bühne das Aufführungsrecht erworben, nicht durch eine Replik dahin entkräftet worden, daß im gegebenen Falle der Pachter Wirsing nur für seine Person kontrahiert habe; bei dem Grundsatze der sächsischen Prozeßpraxis, daß einer liquiden Einrede schon in der Klage begegnet werden müsse ( Osterloh, der ordentliche bürgerliche Prozeß §. 215), hat jene erste Abweisung angebrachtermaßen jedenfalls den Sinn, daß eine neue Klage nur erhoben werden könne, wenn darin solche besondere Umstände geltend gemacht würden, welche die liquide Einrede beseitigen, daß die vom Theaterpächter erworbenen Aufführungsrechte in der Regel für die Bühnen erworben seien.
Hiervon geht eigentlich auch die jetzige Klage vom 12. Juli 1878 aus, indem sie im Anschlusse an das Urteil vom 29. Juni 1876 der zu erwartenden Einrede der Rechtskraft mit der Behauptung solcher besonderen Umstände begegnet, aus welchen hervorgehen soll, daß der Pachtvorgänger des Beklagten das Aufführungsrecht nur für seine Person erworben habe. Nimmt man an, wozu deren Inhalt berechtigt, daß sie überhaupt nur auf diese Behauptungen gegründet werden sollte, so hat das Kammergericht die Einrede der Rechtskraft gar nicht zum Nachteile der Kläger, sondern nur zum Nachteile des Beklagten gewürdigt, weil es die Begründung einer neuen Klage durch Behauptung besonderer Umstände gedachter Art für zulässig erklärte, und müßte deshalb der Angriff der Nichtigkeitsbeschwerde für gegenstandslos erklärt werden. Aber auch, wenn man annehmen wollte, die Klage habe nicht nur auf diese Umstände, sondern in erster Linie auf das Autorrecht der Kläger, bezw. ihres Rechtsgebers und die neuesten Eingriffe in dasselbe durch den Beklagten gestützt werden wollen, so kann doch nicht angenommen werden, daß die Grundsätze über die Rechtskraft verletzt seien. Dem erkennenden Richter lag eine, wie bereits erwähnt, rechtskräftige Entscheidung, des Inhaltes vor, daß nach bestehender Observanz angenommen werden müsse, die Aufführungen der Oper Tannhäuser durch den Beklagten auf der Leipziger Bühne seien rechtmäßige, weil ohne den Nachweis besonderer Umstände angenommen werden müsse, die Ausübung des Aufführungsrechtes sei für gedachte Bühne erlangt worden. Ob die Rechtskraft des Urteiles, wenn es in Preußen ergangen wäre, einen anderen Sinn gehabt hätte, ob überhaupt nach preußischem Prozeßrechte jene erste Klage angebrachtermaßen abgewiesen werden durfte, war gegenüber der Thatsache, daß einmal ein solches Urteil der sächsischen Gerichte vorlag, nicht zu prüfen; übrigens mag darauf hingewiesen werden, daß die preußische Gerichtspraxis anerkennt nicht nur, daß eine im Tenor des Urteiles unbedingt lautende Klagabweisung thatsächlich doch nur eine solche angebrachtermaßen sein könne, sondern auch, daß zur Erklärung des Sinnes sowohl eines solchen als auch eines in der angebrachten Art abweisenden Urteiles die Gründe herangezogen werden dürfen. Vergl. Entsch. des R.O.H.G.'s Bd. 5 Nr. 35 S. 162. 163, Bd. 10 Nr. 25 S. 141, Bd. 11 Nr. 86 S. 256. 257, Bd. 16 Nr. 3 S. 9, Bd. 17 Nr. 74 S. 339. Wenn auch früher nur V. als Kläger aufgetreten war, während dermalen dieser und B. die Klage erhoben haben, so fehlt deshalb doch nicht die Identität der Prozeßparteien, denn, wie das Kammergericht mit Recht den Gründen zum Urteile vom 21. April 1874 entnimmt und thatsächlich feststellt, hatte V. früher für sich und als Cessionar des B. geklagt, indem dieser jenem seine Rechte aus dem von ihnen gemeinschaftlich am 24. Februar 1872 mit Richard Wagner abgeschlossenen Vertrage abgetreten hatte.
Auch die Thatsache ist ohne Einfluß, daß gegenwärtig wegen unbefugter Aufführungen aus den Jahren 1875 und 1876 geklagt wird; es mag hierwegen auf die Gründe zum Urteile des R.O.H.G.'s vom 29. Juni 1876 verwiesen werden, welche insofern auch für die nach preußischem Rechte zu beurteilende Voraussetzung der Rechtskraft zutreffen, als auch danach, der Verschiedenheit der verfolgten Ansprüche ungeachtet, die Identität der Rechtsstreite anzunehmen ist, wenn diese Ansprüche auf demselben Rechtsverhältnisse beruhen, über welches im früheren Prozesse entschieden worden ist. Vergl. z. B. die Entscheidung des Obertribunals vom 1. November 1875 (Entsch. Bd. 76 S. 267), wo beim Wechsel der Parteirollen und der Verschiedenheit des Klageantrages der Gesichtspunkt für entscheidend erklärt worden ist, daß das der Klage zu Grunde liegende Rechtsverhältnis durch die rechtskräftige Vorentscheidung seine endgültige rechtliche Feststellung und Lösung erhalten habe."