RG, 24.11.1880 - I 506/79
Wird nach A.L.R. I. 5. §§. 320. 321 der Geber von der Haftung frei, wenn bei der Unmöglichkeit für den Empfänger, sich der Sache zu bedienen, mit seinem Verschulden ein Verschulden des Empfängers konkurriert? Aufgerufensein eines Inhaberpapieres zur Amortisation als den Käufer zur Redhibition berechtigender Mangel. Verlust des Redhibitionsrechtes bei verschuldeter Nichtunterbrechung des Amortisationsverfahrens durch den Käufer. Nichtverlust, wenn die Amortisation ohne Verschulden des Käufers erfolgt, sofern den Verkäufer bei Erfüllung durch Lieferung des aufgerufenen Papieres ein Verschulden trifft. Umfang der Sorgfaltspflicht des verkaufenden Bankiers und des kaufenden Nichtbankiers.
Tatbestand
B., der Tapetenhändler in Berlin ist, fordert von der beklagten Bankhandlung in Berlin die Lieferung von 18 rumänischen Eisenbahnaktien an Stelle der früher in Erfüllung eines geschlossenen Kaufes gelieferten, die, wie er erst später erfahren, schon zur Zeit der Lieferung als abhanden gekommen durch gerichtlichen, mittels einmaligen Einrückens in die Berliner Börsen- und Vossische Zeitung und sechswöchentlichen Aushanges an der Berliner Börse bekannt gemachten Aufruf zur Amortisation aufgeboten waren und innerhalb sechs Wochen nach Lieferung nach nochmaligem Aufruf in den gedachten Zeitungen durch rechtskräftig gewordenes Erkenntnis für kraftlos erklärt wurden.
Gründe
... "Der zweite Richter nimmt an, die Beklagte treffe bei Erfüllung des geschlossenen Genuskaufes durch Lieferung der 18 bereits durch öffentliche Bekanntmachung zur Amortisation aufgerufenen Aktien ein Verschulden, da ihr nicht ohne Vernachlässigung der erforderlichen Sorgfalt jenes Aufgerufensein gedachter Aktien bei Wahl derselben als Erfüllungsgegenstand hätte unbekannt sein können. Gleichwohl erachtet er dieselbe von jeder Verantwortung frei, weil Kläger die Amortisation durch sein Dazwischentreten noch hätte aufhalten können und, wenn er in seinen Angelegenheiten als sorgfältiger Mann gehandelt hätte, das Schweben des Verfahrens noch rechtzeitig hätte erfahren müssen. Zu diesem Schlusse der Freiheit der Beklagten von jeder Verantwortung kommt das zweite Erkenntnis, ohne das Verhältnis der Schuld der Beklagten bei Erfüllung des Vertrages zu der eigenen Schuld des verletzten Klägers bei Wahrnehmung seiner Angelegenheiten näher zu prüfen.
Über die Wirkungen der Konkurrenz von Verschuldungen seitens des Verletzenden und Verletzten enthält A.L.R. I. 6. §§. 18 - 21 besondere Vorschriften, nach denen namentlich bei grobem Versehen des Beschädigers trotz konkurrierenden mäßigen Versehens des Beschädigten letzterem von ersterem der mittelbare Schaden zu ersetzen ist. Die Anwendbarkeit dieser allerdings nur bei unerlaubten Handlungen ausgesprochenen Grundsätze auch auf Verträge wird von der preußischen Praxis konstant bejaht.
Vgl. Entsch. des O.-Trib. Bd. 38 S. 40; Striethorst, Archiv Bd. 29 S. 54; Gruchot, Beiträge Bd. 3 S. 477; Förster, Privatr. 2. Aufl. Bd. 1 S. 545.
Die Grade der beiderseitigen Verschuldungen hat der zweite Richter nicht abgewogen und insbesondere den des Verschuldens der Beklagten nicht näher qualifiziert, weil er A.L.R. I. 5. §. 321 als eine spezielle Vorschrift auffaßt, nach welcher, insofern nur überhaupt zur Unmöglichkeit, sich der gegebenen Sache nach der Natur und dem Inhalte des Vertrages zu bedienen, ein Versehen des Empfängers mitgewirkt habe, der Schadloshaltungsanspruch wegen der fehlenden Eigenschaften gegen den Geber schlechthin verwirkt sein solle, auch wenn diesem selbst ein Verschulden zur Last falle. Diese Auffassung des §. 321 ist rechtsirrtümlich. Die §§. 320 und 321 behandeln zwei einander gegenüberstehende Fälle. Nicht enthält aber der §. 321 eine Einschränkung des im §. 320 ausgesprochenen Prinzips. Während §. 320 den Fall behandelt, daß an dem Geber das Verschulden der Gebrauchsunmöglichkeit liegt, und dessen Schadensersatzpflicht nach Maßgabe dieses Verschuldens ausspricht, behandelt der §. 321 den Fall, daß das Verschulden am Empfänger liegt, nicht aber den Fall der Konkurrenz beiderseitiger Verschuldungen. Es ist bei §. 321 der Fall vorausgesetzt, daß zwar ein Grund oder Keim des die vertragsmäßige Verfügung ausschließenden Fehlers bereits vor der Übernahme vorhanden war, daß aber, ohne daß den Geber bei Erfüllung durch Übergabe dieser Sache ein Verschulden trifft, bei Entwickelung zum wirklichen, die vertragsgemäße Verfügung über die Sache ausschließenden Fehler ein Mangel an Sorgfalt des Empfängers gewirkt hat. Für den Fall einer Konkurrenz von Verschuldungen auf beiden Seiten ist von den Allgemeinen Grundsätzen nicht abgewichen.
Vgl. Bornemann, Preuß. Civilr. 2. Ausg. Bd. 2 S. 351; Koch, Kommentar, Note zu §. 321 A.L.R. I. 5.
Demgemäß unterliegt das zweite Erkenntnis der Vernichtung.
Bei freier Beurteilung der Sache kommt es zunächst nicht sowohl auf die nach der Lieferung der Aktien in Folge des Amortisationsurteils eingetretene Unmöglichkeit für den Kläger, sich der Aktien zu bedienen, und das hieraus sich ergebende Verhältnis gegen die Beklagte, als vielmehr darauf an, ob die Aktien schon zur Zeit der Lieferung infolge des öffentlichen Aufgerufenseins zur Amortisation vertragsmäßig vorausgesetzter Eigenschaften entbehrten und schon aus diesem Grunde der jetzt erhobene Anspruch gerechtfertigt erscheint. Ob sich gedachte Fehler dem Kläger unmittelbar oder vermöge der späterhin wirklich erfolgten Kraftloserklärung nur mittelbar fühlbar gemacht haben, erscheint gleichgültig. Auch im letztgedachten Falle erscheint Kläger berechtigt, seinen Anspruch auf jene Fehler zu stützen. Bei Würdigung des Anspruches von diesem Standpunkte kommt die wirklich eingetretene Kraftloserklärung aber nur unter dem Gesichtspunkte des Außerstandeseins des Klägers, die Aktien als validierende Papiere zurückzugeben - A.L.R. I. 5. §. 328 - in Betracht. Ein Papier, über welches zur Zeit der Lieferung ein Amortisationsverfahren schwebt, entbehrt aber unbedenklich, wenn auch die Gefahr der Amortisation noch abzuwenden ist, schon wegen jenes Schwebens des gedachten Verfahrens gewöhnlich vorausgesetzter Eigenschaften. Als solche sind zu erachten sowohl das derzeitige Unangetastetsein der rechtlichen Geltung des Papieres in den Händen des Erwerbers, so daß diesem zur Erhaltung solcher schon in Frage gestellten Geltung nicht erst noch besondere Aufwendungen von Mühen und Kosten obliegen, und ferner die anstandslose weitere Begebbarkeit desselben. Daß der Erwerber sich innerhalb kurzer Zeit mit einem Einsprüche an das Gericht wenden und einen Streit mit dem angeblichen Verlierer aufnehmen, bezw. sich über den redlichen Erwerb des Papieres ausweisen muß, um sich die Rechte aus dem Papier zu erhalten, läßt das Papier in der erstgedachten Richtung gegenüber anderen Papieren gleicher Gattung mangelhaft erscheinen. Aber der Erwerber ist auch, so lange jenes Verfahren nicht abgewendet und der Streit mit dem Verlierer nicht entschieden ist, an der weiteren Begebung des Papieres behindert. Ohne unredlich zu handeln, kann er seinem Abnehmer das schwebende Verfahren nicht verhehlen, und dieser wird bei Kenntnis desselben das Papier als geeignetes Lieferungsobjekt zurückweisen.
Was nun den Umstand anlangt, daß Kläger die empfangenen Aktien im Zustande der Geltung nicht mehr zurückzugewähren vermag, so kann demselben in Bezug auf die Nichthinderung der Amortisation ein Verschulden überhaupt nicht zur Last gelegt werden. Um ein solches anzunehmen, kann es doch nicht ohne weiteres genügen, daß er die beiden Zeitungsnummern, in denen der Aufruf noch einmal gestanden, oder in denselben jenen Aufruf nicht gelesen hat, oder daß überhaupt noch wahrend seiner Besitzzeit 6 -7 Wochen verflossen sind, in welchen für den, welcher von dem Aufrufe Kenntnis erhielt, die Amortisation noch abzuwenden war. Kläger ist Tapetenhändler, und auch wenn er die Aktien als Kapitalanlage für seinen Handlungsfonds gemacht haben sollte - eine weitere Bedeutung könnte die Anwendung der Präsumtion des Art. 274 H.G.B. hier nicht haben - so erwächst daraus, da man diese erworbenen Aktien nicht deshalb den vom Kaufmann in seinem Geschäft mit Specialfachkunde und ganz besonderen, ihre Erhaltung unbedingt sichernden Veranstaltungen zu behandelnden Waren gleichstellen kann, für ihn keine andere Sorgfaltspflicht, als die eines geschäftskundigen Kapitalisten.
Nun ist allerdings unter der Herrschaft einer Gesetzgebung, welche eine Amortisation, wie die hier stattgehabte, in so kurzer Frist, anscheinend ohne Abwarten eines der die Bethätigung des Papierinhabers provozierenden Dividendenzahlungstermine, zuläßt, ein stetes Risiko mit dem Besitz von Papieren verbunden. Aber ein Verschulden kann daraus nicht allein gefolgert werden, daß dem Besitzer der Papiere die geschehene Verkündigung des Aufrufes in mehreren Blättern entgangen ist. Daß innerhalb der kritischen Zeit ein Termin eingetreten wäre, in welchem der Besitzer der Aktien Dividenden oder neue Dividendenscheine zu erheben gehabt hätte, so daß ihm nach dieser Richtung eine Säumnis vorzuwerfen wäre, hat Beklagte nicht behauptet. Nach ihrer eigenen Erklärung ist der Aufruf in den regelmäßigen Verlosungslisten der namhafteren Blätter nicht verkündigt worden. Daß die Berliner Börsenzeitung und die Vossische Zeitung etwa die statutarischen Verkündigungsblätter für die Rumänische Eisenbahngesellschaft seien, hat Beklagte auch nicht behauptet. Es ist daher nicht ersichtlich, aus welchem Grunde es dem Kläger als Mangel an Sorgfalt in seinen Angelegenheiten angerechnet werden soll, wenn er die Vossische und die Berliner Börsenzeitung überhaupt nicht liest oder nicht täglich nach gerichtlichen Aufrufen gestohlener oder verlorener Papiere durchforscht. Es mag zugegeben werden können, daß in Rücksicht auf die Möglichkeit einer Amortisation der vorsichtige Besitzer von Papieren von Zeit zu Zeit danach Erkundigungen anstellen soll, ob im Verkehre Aufgebote von Papieren der Gattung, welche er besitzt, bekannt geworden sind. Beim Mangel jeder Bethätigung einer Aufmerksamkeit in dieser Richtung mag dann aus der Thatsache, daß der Aufruf in besonders verbreitete Verkehrsorgane oder weitere Verkehrskreise gedrungen ist, geschlossen werden, daß der Betreffende ihn, wenn er überhaupt eine Aufmerksamkeit angewendet hätte, auch erfahren haben würde. Allein, da Kläger die fraglichen Papiere nicht von einer beliebigen Privatperson, sondern von einem Berliner Bankgeschäft geliefert erhielt, so durfte er annehmen, daß zur Zeit ein Aufruf derselben im Verkehr nicht bekannt geworden war, und eine Sorglosigkeit unmittelbar nach solchem Erwerb und lediglich während eines Zeitraumes, innerhalb dessen ein vorher noch nicht begonnenes Amortisationsverfahren nicht zur Durchführung gelangen konnte - 6 - 7 Wochen genügten dazu nicht -, kann nicht als Verschulden erachtet werden. Daß Kläger das Recht zum Börsenbesuch hat, und von solchem mitunter Gebrauch macht, sowie daß er wiederholt Papiere an der Börse durch Makler hat ankaufen lassen, vermag zu keiner anderen Beurteilung seines Verhaltens zu führen und stellt insbesondere ihn in betreff des Umfanges der behufs Kenntnisnahme von solchen Aufrufen ihm obliegenden Veranstaltungen nicht einem Bankier gleich.
Einem eigenen Verschulden des Klägers in Bezug auf den Eintritt der Kraftloserklärung stände es nun allerdings für die Wirkung des Ausschlusses des Regreßanspruches, weil Kläger die Aktien als geltende Papiere nicht mehr zurückzugewähren vermag, gleich, wenn jene Kraftloserklärung während seiner Besitzzeit als ein reiner Zufall anzusehen wäre. Ob diese Auffassung als reiner Zufall zutreffend dadurch, daß das Aufgebotsverfahren schon bei Lieferung der Papiere schwebte, und daß man dieses Begonnenhaben des Amortisationsverfahrens als den vorhandenen Keim der später eingetretenen Kraftlosigkeit erachtet, beseitigt wird, kann hier unerörtert bleiben. Jedenfalls kann dann von einem solchen Zufall nicht die Rede sein, wenn die Unfähigkeit des Empfängers, die Aktien als geltende Papiere zurückzugewähren, infolge eines Verschuldens des Gebers bei Erfüllung des Vertrages durch Lieferung jener Papiere ohne Konkurrenz eines Mitverschuldens des Empfängers während seiner Besitzzeit eingetreten ist. Ein solches Verschulden der Beklagten ist aber anzunehmen. Es kann dahingestellt bleiben, ob es unter allen Umständen auf einem Verschulden beruhen muß, wenn es einem Bankier bei Lieferung eines Papieres entgeht, daß dasselbe irgendwo zur Kraftloserklärung als gestohlen oder verloren öffentlich aufgeboten sei. Im vorliegenden Falle handelt es sich um eine Berliner Bankhandlung und um ein Aufgebot von Papieren, welches in zwei der notorisch verbreitetsten Berliner Blätter, darunter einem sich ganz speziell dem Börsenverkehr widmenden, gestanden und bereits sechs Wochen lang ununterbrochen an der Berliner Börse ausgehangen hatte. Will man dem speziell mit Börsenpapieren Handeltreibenden, zu dessen täglichen beruflichen Aufgaben der Börsenbesuch gehört, es gestatten, durch einen Mangel an Veranstaltungen, vermöge deren derartige Publikationen ihm zugänglich werden würden, sich diesen Verkündigungen zu verschließen, so würden jene Publikationen jedes Sinnes und Zweckes entbehren, und es würde die bestandene Amortisations-Gesetzgebung und Praxis lediglich auf Fiktionen beruhen und für die Verkehrssicherheit gänzlich unerträglich gewesen sein müssen. Es wird in Rücksicht auf diese Gesetzgebung und den Umstand, daß die Börsenpapiere die Ware sind, mit welcher der Bankier handelt, demselben nichts unausführbares, noch eine zu große Belästigung zugemutet, wenn man von ihm fordert, daß er durch einen Angestellten regelmäßig oder doch in kürzeren Zeitabschnitten eines der verbreitetsten heimischen Börsenorgane und die Aushänge an der Börse nach solchen Aufrufen perlustrieren und die dabei ermittelten aufgerufenen Nummern zur eventuellen Einsichtnahme notieren lasse. Wie sich die Sachlage beim Verkehr zwischen Bankier und Bankier stellt, ob hier insbesondere der Liefernde aus unterlassener Prüfung des Empfangenden bei Empfang gegen dessen Regreß Einwendungen herleiten oder umgekehrt der Empfänger sich der Prüfung bei Empfang in Voraussetzung, daß der Liefernde geprüft habe, entschlagen kann, ist hier nicht zu entscheiden. Auch wenn die Beklagte im Verhältnisse zu der ihr liefernden Bankhandlung Bl. & Co. den Einwand des Mangels eigener Prüfung beim Empfange mit der Behauptung, sie habe die erfolgte Prüfung letzterer Handlung voraussetzen können, zurückzuweisen vermag, was hier dahingestellt bleiben kann, so war doch im Verhältnis zum Kläger Beklagte zur Prüfung verpflichtet, die sie, wenn ihr die Effekten, wie sie behauptet, erst unmittelbar vorher von Bl. & Co. geliefert worden waren, wenn auch im Vertrauen auf die von dieser Handlung erfolgte Prüfung, doch in betreff ihres Verhältnisses zum Kläger nur auf eigenes Risiko unterlassen konnte.
Liegt aber ein Verschulden des Beklagten vor, so kann auch von Anwendung der kurzen Verjährung der §§. 343. 344 A.L.R. I. 5 nicht die Rede sein. Es handelt sich vielmehr um die Kontraktsklage wegen Verschuldens der Beklagten bei der Vertragserfüllung, auf welche jene Verjährung keine Anwendung findet (vergl. Förster, preuß. Privatr. 2. Aufl. Bd. 1 S. 478. 484; Dernburg, Privatr. Bd. 2 S. 338). Ob beim Genuskauf nach kontraktwidriger oder mangelhafter Lieferung noch Nachlieferung einer anderen Spezies begehrt werden könne, kann hier dahingestellt bleiben. Steht dem Kläger das Recht auf Ersatz seines Interesses zu, so kann er dasselbe ebenso wie auf dem Wege der Forderung des Geldbetrages, für den er sich 18 rumänische Aktien anschaffen kann, auf dem Wege des Anspruches auf Lieferung anderer 18 Aktien geltend machen. Die Aufwendung der Beklagten, wenn sie in demselben Zeitpunkte das eine oder andere leistet, ist immer die gleiche. Daß, wenn die zweitgedachte Leistung verweigert wird und erst durch Erkenntnis zum Ausspruch gelangt, infolge von Kursänderungen ihr Geldbetrag sich ändern kann, hat sich der Verpflichtete, der die Erfüllung weigerte, allein zuzuschreiben."