RG, 20.05.1880 - Va 33/80

Daten
Fall: 
Lehnsqualität eines Gutes
Fundstellen: 
RGZ 2, 218
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
20.05.188
Aktenzeichen: 
Va 33/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • KreisG Schlawe
  • OLG Stettin

Muß die Lehnsqualität eines Gutes in der zweiten Abteilung des Grundbuches eingetragen sein, um die Ersitzung einer Grundgerechtigkeit an demselben mittels Besitzhandlungen gegen den zeitigen Lehnsbesitzer auszuschließen?

Tatbestand

Kläger behaupten, für ihre am Ostseestrande gelegenen Fischerkathen durch dreißigjährige Ersitzung an dem im Besitz des Beklagten befindlichen Gute S. Grundgerechtigkeiten des Inhaltes erworben zu haben, auf einem zu diesem Gute gehörigen Torfmoore ihren Bedarf an Torf stechen zu dürfen. Das Gut S. ist auf dem Titelblatt des Grundbuches als "ein alt v. B.'sches Lehn nach dem Lehnbrief vom 16. Dezember 1665" bezeichnet, und aus den Eintragungen in der ersten Rubrik ergiebt sich, daß dasselbe stets nach Lehnrecht vererbt ist.

Der erste Richter hat die Kläger abgewiesen, weil durch eine lediglich gegen den Lehnsbesitzer gerichtete Besitzausübung eine das Lehnsgut belastende Grundgerechtigkeit nicht erworben werden könne. Der Appellationsrichter hat dagegen den Klägern die beanspruchten Grundgerechtigkeiten zugesprochen, weil die Lehnseigenschaft des dienenden Grundstückes Dispositionen des zeitigen Lehnsbesitzers über dasselbe nicht unbedingt, sondern nur unter der Voraussetzung rechtlich verhindere, daß diese Eigenschaft dem dritten Erwerber bekannt war oder doch bekannt sein mußte, und weil letzteres nicht schon dann angenommen werden könne, wenn dieselbe aus dem Titelblatt des Grundbuches erhelle, sondern nur dann, wenn sie in Rubrik II eingetragen sei.

Auf die Revision des Beklagten ist das Appellationsurteil aufgehoben und das erste Erkenntnis wieder hergestellt.

Aus den Gründen

"Wenn die Lehnsqualität eines Gutes feststeht, so ist der zeitige Lehnsbesitzer in seiner Dispositionsbefugnis über die Substanz des Lehnsgutes durch die eventuellen Successionsrechte der Agnaten beschränkt, und es kann daher auch ein Dritter durch Besitzhandlungen, welche während rechtsverjährender Zeit lediglich gegen den zeitigen Lehnsbesitzer vorgenommen sind, ein die Rechte der Agnaten beschränkendes dingliches Recht an dem Grundstücke nicht erwerben. (Vgl. Präjudiz Nr. 2216, Entsch. des Obertribunals Bd. 53 S. 191 und Striethorst, Archiv Bd. 34 S. 106.)

Dies folgt auch aus dem im §. 516 A.L.R. I. 9. ausgesprochenen Grundsatz, daß gegen denjenigen, welcher seine Rechte zu gebrauchen oder zu verfolgen gehindert ist, keine Verjährung anfangen kann. Daß aber ein Agnat während der Dauer des Nutzungsrechtes des Lehnsbesitzers außer stände ist, der faktischen Ausübung eines Servitutrechtes an dem Lehngute seitens eines Dritten mit Erfolg entgegen zu treten, ergiebt sich aus der Natur seines Rechtes, als eines bloß eventuellen Successionsrechtes. Ihm fällt daher auch eine Nachlässigkeit nicht zur Last, wenn er sich um dergleichen zunächst nur gegen den zeitigen Lehnsbesitzer gerichtete Besitzhandlungen nicht bekümmert. - (Vgl. Entsch. des Obertribunals Bd. 41 S. 255.)

Der Appellationsrichter erachtet diese Grundsätze nur unter der Voraussetzung für anwendbar, wenn der Verjährende sich nicht in gutem Glauben befunden, also die Lehnseigenschaft des Gutes gekannt hat oder davon hätte Kenntnis haben müssen, und will letzteres nur dann annehmen, wenn die Lehnseigenschaft gerade in der II. Rubrik des Grundbuches eingetragen ist. Da indes in der durch Verjährung herbeigeführten Rechtsveränderung einerseits ein positiver Verlust und andrerseits ein Gewinn von Rechten liegt, und aus diesem Grunde die Gesetze als Voraussetzungen der Möglichkeit jeder Verjährung erfordern, daß dem Verlierenden eine Nachlässigkeit zur Last fallen, der Erwerbende dagegen sich in einem unverschuldeten Irrtum befinden muß (vgl. Savigny, Besitz, Einleitung S. LXXII), so könnte es sich zunächst fragen, ob, wenn die Verjährung gemäß §. 516 A.L.R. I. 9. ausgeschlossen ist, weil der Berechtigte sein Recht zu verfolgen gehindert war, es überhaupt noch darauf ankomme, ob der Verjährende die Lehnsqualität gekannt habe oder bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte kennen müssen, oder nicht.

Diese Frage kann indes dahin gestellt bleiben, weil im vorliegenden Falle nicht angenommen werden kann, daß die Kläger, falls ihnen die Lehnseigenschaft des Gutes S. überhaupt unbekannt gewesen sein sollte, ohne mäßiges Versehen in diesen Irrtum gerathen seien, und weil ihnen der Grundsatz des §. 19 A.L.R. I. 4 entgegensteht, daß niemand sich mit der Unbekanntschaft einer im Hypothekenbuche eingetragenen Verfügung entschuldigen dürfe. Denn es ist unbestritten, daß die Lehnseigenschaft des Gutes S. auf dem Titelblatt des Grundbuches mit Bezugnahme auf den Lehnsbrief vom 16. Dezember 1665 vermerkt ist, und daß aus allen Besitztitelberichtigungen in der I. Rubrik klar erhellt, daß das Gut nach der Lehnsfolge vererbt wird. Die Kläger würden daher nach dem Hypothekenbuche über die Rechtsverhältnisse des Gutes nicht im unklaren haben bleiben können.

Die Annahme des Appellationsrichters, daß lediglich durch eine Eintragung in Rubrik II der Lehnsqualität eine die Kläger bindende Publicität hätte gegeben werden können, und seine Bezugnahme auf die Entscheidung des Obertribunals vom 17. Februar 1820 ( Simon u. Strampff, Rechtsprechung Bd. I S. 221) erscheinen verfehlt. Freilich schreiben die §§. 33. 47 und 50 Tit. II der Hypothekenordnung von 1783 vor, daß die Eintragung der Lehnsqualität nicht bloß auf dem Titelblatt, sondern auch in der II. Rubrik erfolgen solle. Diese reglementarische Bestimmung entscheidet aber darüber nichts, welchen Einfluß es auf die sonst im A.L.R. ausgesprochenen Grundsätze in betreff der Voraussetzungen des guten Glaubens eines dritten Erwerbers ausübe, wenn die Lehnseigenschaft zwar nicht in der II. Rubrik eingetragen, aber aus dem übrigen Inhalt des Grundbuches mit Leichtigkeit ersichtlich ist. Diese Frage ist daher lediglich aus den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechtes zu entscheiden.

Nach diesen, sowie nach den Grundsätzen der Hypothekenordnung ist aber das dingliche Recht der Agnaten am Lehngut von der Eintragung ins Grundbuch ebenso unabhängig wie das Eigentum; sie haben also auch ohne Eintragung ein wohlerworbenes Recht, dem die volle Wirksamkeit gegen Dritte nur versagt werden kann, wenn und soweit positive gesetzliche Bestimmungen dieselbe ausdrücklich beschränken. Dies ist nun allerdings im Interesse der Aufrechterhaltung des öffentlichen Glaubens des Hypothekenbuches und der dadurch bedingten Rechtssicherheit durch verschiedene Vorschriften geschehen, aber ausdrücklich nur unter der Voraussetzung, daß sich der Dritte im Vertrauen auf die Richtigkeit des Inhaltes des Hypothekenbuches mit dem als Eigentümer oder sonstigen berechtigten Eingetragenen in Verhandlungen eingelassen hat, also nur für den Fall der freiwilligen Übertragung eines Rechtes vermöge eines mit diesem abgeschlossenen Rechtsgeschäfts. Das Gesetz geht davon aus, daß in diesem Falle eine Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen über den Erwerb und Verlust dinglicher Rechte deshalb gerechtfertigt erscheint, weil derjenige, welcher den durch den Inhalt des Hypothekenbuches beglaubigten Angaben des Besitzers vertraut hat, ohne alle Schuld lediglich durch die Unrichtigkeit des Hypothekenbuches in Schaden kommen, andrerseits aber der Berechtigte einen Verlust lediglich seiner eignen Nachlässigkeit zuzuschreiben haben würde, weil er die Eintragung seines Rechtes zu bewirken unterlassen hat. Überall, wo das Allgemeine Landrecht eine solche Abweichung anordnet, stellt es daher die Notwendigkeit des Daseins jener Voraussetzung auf, so namentlich in den §§. 7 und 8. I. 8, §.5221.20, §§. 258 und 259, 288-291 I. 18. Die letzteren Gesetzesstellen knüpfen sogar die Ausschließung des Anfechtungsrechtes der nicht eingetragenen Agnaten außerdem noch an die Voraussetzung, daß die angefochtene Disposition des Lehnsbesitzers in das Hypothekenbuch eingetragen sein müsse. Alle diese Voraussetzungen lagen denn auch in dem von dem Obertribunal am 17. Februar 1820 entschiedenen Falle vor, da es sich um Löschung eines durch eine Disposition des Lehnsbesitzers einem Dritten eingeräumten Pfandrechtes an dem Lehnsgut handelte.

Da nun die hier in Rede stehenden Grundsätze des Hypothekenrechtes anomaler Natur sind, mithin, wie das Obertribunal (Entscheidungen Bd. 10 S. 162) überzeugend ausgeführt hat, nicht weiter ausgedehnt werden dürfen, als die bestimmten Worte und die strengste Konsequenz gebieten, so kann die Unzulässigkeit der Anwendung der- derselben auf den Erwerb durch Ersitzung nicht zweifelhaft sein. Denn bei dieser Erwerbsart treffen alle jene die Unkenntnis des Erwerbenden entschuldigenden Voraussetzungen nicht zu. Die Kläger haben sich mit dem Lehnsbesitzer in keinerlei Verhandlungen eingelassen, sind also auch nicht durch die mit dem Inhalte des Hypothekenbuches übereinstimmenden Versicherungen desselben über seine Dispositionsbefugnis getäuscht worden, sondern sie stützen ihren Erwerb lediglich auf Besitzhandlungen, welche sie vorgenommen haben, ohne sich bei dem Lehnsbesitzer über die Rechtsverhältnisse des Gutes zu erkundigen oder das Hypothekenbuch überhaupt einzusehen. Es ist daher nicht erfindlich, welchen Einfluß der mangelhafte Inhalt des Hypothekenbuches auf die Entschuldbarkeit ihres Irrtums sollte haben können. Das Erkenntnis des Obertribunals vom 17. Februar 1820 spricht auch, abgesehen davon, daß es sich auf einen Erwerb durch Ersitzung gar nicht bezieht, keineswegs aus, daß der Mangel der Eintragung der Lehnsqualität in Rubrik II den Irrtum des Erwerbenden unter allen Umständen entschuldbar erscheinen lasse. Denn die Entscheidungsgründe legen zutreffend besonderes Gewicht auf den Umstand, daß es sich um die Rechte des Obereigentümers eines Lehnschulzengutes handelte, und daß diese Rechte meistens abgeschafft sind, so daß derjenige, dem der eingetragene Besitzer ein Pfandrecht einräumte, aus der bloßen Bezeichnung des Gutes als eines Lehnschulzengutes auf dem Titelblatt beim Mangel eines in Rubrik II eingetragenen Vermerks in der That nicht zu entnehmen vermochte, daß noch jemandem ein Obereigentum an dem Gute zustehe. In dem vorliegenden Falle dagegen handelt es sich um die Rechte der Agnaten, und daß diese noch bestehen, geht aus der Bezeichnung des Gutes als eines alten v. B.'schen Lehns und aus dessen steter Vererbung nach der Lehnsfolge klar hervor. Daß aber ein dritter Erwerber auch den sonstigen Inhalt des Hypothekenbuches prüfen muß und sich zur Entschuldigung seiner Unkenntnis der Lehnsqualität nicht auf den Umstand allein berufen kann, daß gerade in Rubrik II kein Vermerk eingetragen sei, darüber läßt die Vorschrift des §. 260 A.L.R. I. 18 keinen Zweifel, wonach der Lehnsherr von seinem Rechte nur gegen denjenigen keinen Gebrauch machen kann, welcher dem Glauben des Hypothekenbuches nach gehöriger Prüfung der darin eingetragenen und allegierten Urkunden gefolgt ist."