RG, 05.07.1920 - VI 76/20
Ist die Vorschrift des § 193 BGB. auf die in § 5 TG. vom 11. März 1850 vorgeschriebene präklusivische Frist von 14 Tagen anwendbar?
Tatbestand
Mit der vorliegenden Klage verlangt der Kläger einmal die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines ziffermäßig bestimmten Betrags, ferner die Feststellung, daß die Beklagte verpflichtet sei, ihm den gesamten weiteren Schaden zu ersetzen, der ihm dadurch entstanden sei und noch entstehe, daß ihn bei einem Auflauf in der Nacht vom 3. zum 4. Februar 1917 eine Kugel in den Kopf getroffen habe. Das Landgericht traf die beantragte Feststellung und erklärte den Leistungsanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt. In zweiter Instanz wurde die Klage abgewiesen. Die von dem Kläger eingelegte Revision hatte Erfolg aus nachstehenden Gründen:
Gründe
Nach dem Tatbestande zweiter Instanz wurde der minderjährige Kläger am Abend des 3. Februar 1917 in Berlin bei einem Auflaufe, der sich infolge einer Schlägerei entwickelt hatte, von einem Schutzmann in den Kopf geschossen. Durch Schreiben vom 19. Februar 1917, das nach der Behauptung des Klägers am gleichen Tag in der Wohnung des Oberbürgermeisters von Berlin eingegangen sein soll, zeigte der Vater des Klägers den Vorfall an und verlangte die Zahlung einer Rente. Am 7. März 1917 erhielt er von der Stadt einen ablehnenden Bescheid und erhob nunmehr die vorliegende Klage, die nach dem Urteil erster Instanz am 28. März 1917 zugestellt wurde.
In rechtlicher Hinsicht stützt sich die Klage auf das preußische Gesetz, betr. die Verpflichtung der Gemeinden zum Ersatz des bei öffentlichen Aufläufen verursachten Schadens, vom 11. März 1850. Nach § 5 daselbst muß der Verletzte, wenn er von der Gemeinde Schadensersatz fordern will, seine Forderung binnen 14 Tagen präklusivischer Frist, nachdem das Dasein des Schadens zu seiner Wissenschaft gelangt ist, bei dem Gemeindevorstand anmelden und binnen 4 Wochen präklusivischer Frist nach dem Tage, an welchem ihm der Bescheid des Gemeindenvorstands zugegangen ist, erforderlichenfalls gerichtlich geltend machen. Die erste dieser Fristen ist nach der Auffassung des Berufungsgerichts nicht gewahrt und daher die Klage in zweiter Instanz abgewiesen worden. Für erwiesen wird erachtet, daß der Vater des Klägers nach seiner eigenen Erklärung am 4. Februar 1917 die nötige Wissenschaft erlangt hatte, die Anmeldefrist sei daher am 18. desselben Monats abgelaufen. Dadurch, daß dieser Tag ein Sonntag gewesen sei, sei keine Verlängerung der Frist eingetreten.
Von dem Kläger war behauptet, daß sein Vater erst am 6. Februar den Sachverhalt erfahren habe, und die Revision stellt zur Nachprüfung, ob sich aus den Erklärungen des Vaters zur Genüge ergebe, daß er schon am 4. Februar 1917 die erforderliche Kenntnis besessen habe. Die Ausführungen des Berufungsgerichts lassen aber insoweit keinen Rechtsirrtum erkennen. Mit Recht nimmt das Berufungsgericht an, daß der Schaden zur Wissenschaft des Ersatzberechtigten gelangt ist, sobald er eine Klage gegen den Verpflichteten begründen kann (RGZ. Bd. 98 S. 121), es genügt aber, wie der Senat in Bd. 99 S. 39 angenommen hat, wenn diese Klage eine Feststellungsklage ist. Eine danach ausreichende Kenntnis konnte das Berufungsgericht aus den von dem Vater in dem Beweisaufnahmetermin vom 3. Juli 1919 abgegebenen Erklärungen entnehmen. Nach diesen ist ihm, am Sonntagmorgen auf der Polizei gesagt worden, sein Sohn sei bei einem Auflaufe gewesen, aber nicht direkt beteiligt. Der Schutzmann habe geschossen und die Kugel habe den Kläger am Halse getroffen. Am Sonntagnachmittag habe er seinen Sohn im Krankenhause gesehen und bemerkt, daß der Kopf verbunden war.
Dagegen kann der Ansicht des Berufungsgerichts nicht zugestimmt werden, daß die Anmeldefrist mit dem 18. Februar 1917 zu Ende gegangen sei. Über die Berechnung der beiden präklusivischen Fristen des § 5 enthält das TG. keine näheren Vorschriften; es bedurfte daher insoweit der Ergänzung durch das sonst in Preußen geltende Recht. An die Stelle des im Jahre 1850 gültigen Landesrechts aber sind jetzt die Vorschriften des BGB. getreten. In dem gleichen Sinne hat sich der Senat bereits in dem Urteile vom 22. Dezember 1919 (RGZ. Bd. 98 S. 11) ausgesprochen, als es sich um die Frage handelte, ob für die Höhe des zu erstattenden Schadens altes oder neues Recht maßgebend sei. Die damaligen Erwägungen treffen auch hier zu, so daß auf sie verwiesen werden kann.
Das BGB. enthält in den §§ 187 bis 193 eine Reihe von Auslegungsvorschriften, die gemäß § 186 für die in Gesetzen, gerichtlichen Verfügungen und Rechtsgeschäften enthaltenen Frist- und Terminsbestimmungen gelten sollen. Für den Beginn einer Frist bestimmt § 187 Abs. 1, daß dann, wenn für den Anfang ein Ereignis maßgebend sein soll, bei der Berechnung der Frist der Tag nicht mitzuzählen ist, in den das Ereignis fällt. Im vorliegenden Falle besteht das maßgebende Ereignis darin, daß der Vater des Klägers von dem Dasein des Schadens Wissenschaft erlangte; es fiel in den Lauf des 4. Februar 1917 und der 5. Februar ist daher als erster Tag zu zählen. Da es sich um eine nach Tagen bestimmte Frist handelt, so endete sie gemäß § 188 Abs. 1 BGB. mit dem Ablauf des 18. Februar, sofern nicht aus besonderen Gründen eine Verlängerung eingetreten ist. Für den Fall nun, daß, wie hier, der letzte Tag der Frist auf einen Sonntag fällt, schreibt § 193 vor, daß an die Stelle des Sonntags der nächstfolgende Werktag tritt, wenn innerhalb der Frist eine Willenserklärung abzugeben oder eine Leistung zu bewirken war. Ist diese Vorschrift hier anwendbar, so würde die Schadensanmeldung rechtzeitig sein, wenn sie am 19. Februar 1917 bei der zuständigen Stelle eingegangen sein sollte. Diese Ansicht vertritt die Revision und es ist ihr zuzustimmen.
Mit der Forderungsanmeldung gemäß § 5 TG. bringt der Anmeldende der Gemeinde gegenüber zum Ausdruck, daß er von ihr Schadensersatz verlangen wolle. Die Anmeldung enthält mithin eine Willenserklärung. Das Berufungsgericht will aber den § 193 BGB. nur dann anwenden, wenn zur Abgabe der innerhalb einer Frist abzugebenden Erklärung eine Verpflichtung bestand, nicht aber dann, wenn zwar das Unterbleiben der Erklärung Rechtsnachteile mit sich bringt, eine besondere Pflicht zur Willenserklärung aber nicht vorhanden war. Aus dem Wortlaute des Gesetzes läßt sich diese Auffassung nicht begründen. Wenn es dort heißt: "Ist... innerhalb einer Frist eine Willenserklärung abzugeben ...", so wird hiermit über den Grund, aus dem die Erklärung abgegeben werden soll, nichts näheres gesagt; er kann ebensowohl in einem bei dem Unterbleiben drohenden Rechtsnachteile wie in einer besonderen Erklärungspflicht bestehen. Auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift beweist nichts für die Auslegung des Berufungsgerichts. Der Entwurf des BGB. wollte von einer Regelung der Einwirkung von Sonn- und Feiertagen überhaupt absehen. Die für den Wechsel- und Handelsverkehr sowie für den gerichtlichen Verkehr getroffenen besonderen Bestimmungen seien nicht zur Übertragung auf das bürgerliche Recht geeignet; leitende Regel müsse sein, daß Sonn- und Feiertage, soweit nicht der Wille der Parteien ein anderes ergebe, auf die Zeitberechnung im allgemeinen ohne Einfluß seien (Mot. zu § 153 des Entw. Bd. 1 S. 287). Diese Auffassung wurde von der Kommission für die zweite Lesung nicht geteilt; die Mehrheit hielt es im Gegenteil für wünschenswert, Vorschriften über die Einwirkung der Sonn- und Feiertage auf Termine und Fristen in das BGB. aufzunehmen. Seitens der Kritik und insbesondere seitens der Mehrzahl der Handelskammern seien Wünsche in dieser Richtung vielfach ausgesprochen, und es empfehle sich, der in diesen Wünschen zum Ausdruck gelangenden berechtigten Zeitströmung, die auf größere Heilighaltung der Sonn- und Feiertage sowie auf Gewährung der Sonntagsruhe für die arbeitenden Klassen gerichtet sei, Folge zu geben. Demgemäß wurden zwei neue Paragraphen, 153 a und 153 b, beschlossen, von denen der letztere sich auf Fristen bezieht und nach Annahme eines Verbesserungsantrags folgende Fassung erhielt: "Hat eine Leistung innerhalb einer Frist zu erfolgen und ist der letzte Tag ein Sonntag oder ein am Leistungsorte anerkannter allgemeiner Feiertag, so tritt an die Stelle dieses Tags der nächstfolgende Werktag." Die Beschränkung der Vorschrift auf Leistungen wurde für angemessen erachtet und ein Antrag zu dem die Termine behandelnden § 153 a, der allgemein von "Rechtsgeschäften" sprach, abgelehnt (Prot. Bd. 1 S. 190 bis 194). Auf Willenserklärungen wurde die Vorschrift in der Reichstagskommission ausgedehnt. Der Bericht der Kommission, Ausgabe Guttentag, S. 46 ff., bemerkt, daß in bezug auf die Abgabe oder Annahme von Willenserklärungen, auf den Fristenablauf und auf Leistungen Anträge gestellt seien, die eine verstärkte Sonntagsheiligung bezweckten. Aus ihnen ist der Vorschlag eines § 188a hervorgegangen, der sich auf die Abgabe von Willenserklärungen und auf Leistungen bezog, während die Reichstagsvorlage in dem damaligen § 265 nur Leistungen behandelt hatte. Die Aufnahme der Willenserklärungen in die Vorschrift wurde von verschiedenen Seiten für bedenklich gehalten, weil sie von dem Prinzip der Sonntagsheiligung nicht gefördert werde und die ärmere Bevölkerung benachteilige, aber diese Ansicht drang nicht durch. Bei der zweiten Lesung in der Kommission wurde beantragt, die Aufnahme der Willenserklärung rückgängig zu machen, indessen wurde der Antrag trotz der Befürwortung durch den Regierungsvertreter abgelehnt. Aus diesen Vorgängen ergibt sich, daß die Vorschrift des § 193 BGB. ihre Entstehung vor allem dem Bestreben verdankt, eine bessere Sonntagsheiligung und eine ausgiebigere Sonntagsruhe zu ermöglichen, für die Erreichung dieses Zwecks kann es aber nicht darauf ankommen, ob eine spezielle Verpflichtung zur Abgabe einer Willenserklärung bestand oder nicht. Der umfassenderen Auslegung ist daher der Vorzug zu geben. Ob die Willenserklärung, wie behauptet wird, privatrechtlicher Natur sein muß, wenn sie unter § 193 fallen soll, kann dahingestellt bleiben, weil die Anmeldung einer Forderung bei dem, der als Schuldner in Anspruch genommen werden soll, privatrechtlichen Charakter hat. Wenn aber die ZPO. trotz der allgemeinen, in § 222 Abs. 1 enthaltenen Verweisung auf die Vorschriften des BGB. es für nötig hielt, im Abs. 2 das. noch besonders zu bestimmen, daß eine Frist, wenn ihr Ende auf einen Sonntag oder allgemeinen Feiertag falle, mit dem Ablaufe des nächstfolgenden Werktags ende, so liegt der Grund hier, für nach der Begründung der Novelle von 1898 (Materialien, herausgegeben von Hahn und Mugdan, S. 96 bis 97) darin, daß das BGB. nur Fälle betrifft, in denen es sich um eine Willenserklärung oder Leistung handelt, während der § 222 Abs. 2 ZPO., wie der III. Zivilsenat des Reichsgerichts sich ausdrückt, "eine durchgreifende Regel des gerichtlichen Verfahrens" aufstellt (RGZ. Bd. 97 S. 301). Mit dieser Auffassung setzt sich der erkennende Senat nicht in Widerspruch zu dem Urteile des V. Zivilsenats vom 7. Februar 1906 V 327/05, teilweise abgedruckt in der Zeitschr. f. Rechtspfl. in Bayern, 1906 S. 123. Dort wird der § 193 BGB. auf Verjährungsfristen nicht für anwendbar erklärt, weil er nur Termine und Fristen zur Abgabe rechtsgeschäftlicher Willenserklärungen im Auge habe. Um eine derartige Frist handelt es sich aber im gegebenen Falle, Verjährungs- und Ausschlußfristen sind voneinander wesentlich verschieden und auch die einzelnen Ausschlußfristen können verschiedene Tragweite haben (RGZ. Bd. 88 S. 295); jetzt war nur darüber zu entscheiden, ob die Auslegungsregel des § 193 BGB. auf die Anmeldefrist des § 5 TG. Anwendung zu finden habe. Da diese Frage zu bejahen ist und die Möglichkeit besteht, daß die Schadensanmeldung am 19. Februar 1917 an die zuständige Stelle gelangte, so muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die noch nicht entscheidungsreife Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.