RG, 18.11.1920 - VI 357/20

Daten
Fall: 
Urkunde über die Errichtung einer Familienstiftung
Fundstellen: 
RGZ 100, 230
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
18.11.1920
Aktenzeichen: 
VI 357/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Landgericht Bautzen
  • Oberlandesgericht Dresden

Auslegung bei Urkunde über die Errichtung einer Familienstiftung nach dem Willen des Stifters.

Tatbestand

Der 1838 verstorbene Rittergutsbesitzer Joh. Friedr. R. in Wilthen hat in seinem Testamente vom 8. Januar 1836 außer einem Familienfideikommiß eine Familienstiftung für fünf Stämme seiner Seitenverwandten errichtet. Diese Stiftung ist durch Verordnung des Ministeriums des Kultus und öffentlichen Unterrichts vom 29. Juli 1874 auf Grund des § 6 a des Sächsischen Gesetzes vom 15. Juni 1868 (Ges-. u. VBl. 1868 Nr. 12) als juristische Person anerkannt. Der Kläger gehört zu den Anwärtern der durch die Stiftung berufenen Stämme. Er bezieht sich auf § 15 des Testaments, der bestimmt, daß, wenn einer aus den fünf berufenen Stämmen studieren wolle, sogleich zwei Jahre hintereinander jedes Jahr 1000 Taler aus den Stiftungseinkünften zurückzulegen seien.

Der Kläger macht Ansprüche an diesen Studienfonds. Nachdem er das landständische Seminar in Bautzen 1916 nach bestandener Reifeprüfung verlassen hatte und danach als Volksschullehrer in Sachsen tätig war, wurde er im Sommerhalbjahr 1918 als Studierender der Landwirtschaft an der Universität Jena immatrikuliert und studiert seitdem Landwirtschaft; er gibt an, Lehrer der Landwirtschaft an einer landwirtschaftlichen Lehranstalt werden zu wollen. Bereits 1917 hatte er seine Ansprüche bei der Stiftung angemeldet. Über die Zuteilung der im Testament ausgesetzten Bezüge haben nach § 35 des Testaments die Ältesten der fünf Familien als Vorsteher der Stiftung gemeinschaftlich zu beschließen, und zwar mit Stimmenmehrheit, sofern dadurch nicht den Bestimmungen der Stiftung zuwidergehandelt wird. Diese wiesen die Ansprüche des Klägers laut Schreiben vom 10. Februar 1919 durch einen in der Vorstehersitzung einstimmig gefaßten Beschluß ab. Der Kläger hat darauf klagend verlangt, daß die Beklagte ihm den aus ihren Einkünften der Jahre 1918 und 1919 gebildeten Studienfonds oder einen Studienfonds in gleicher Höhe überweise.

Diesem Antrage haben beide Vordergerichte mit einem dem § 13 des Testaments entsprechenden Zusatze stattgegeben. Auf die Revision der Beklagten hat das Reichsgericht die Sache an das Berufungsgericht zur anderweiten Entscheidung zurückverwiesen.

Gründe

Der Streit betrifft die Auslegung des § 15 des Testaments vom 8. Januar 1836.

Während die fünf Stiftungsvorsteher, die nach § 35 des Testaments unter Beobachtung der Stiftungsbestimmungen darüber zu entscheiden haben, wer den Studienfonds zu erhalten hat, einstimmig beschlossen haben, dem Kläger einen Studienfonds nicht zuzustellen, weil ein Reifezeugnis des Seminars (auch wenn es zum Studium der Landwirtschaft auf der Universität Jena ausreiche) nicht im Sinne des Stifters zum Studium berechtige, hat das Berufungsgericht diesen Beschluß für unwirksam erklärt und die Bestimmung des § 15 des Testaments selbständig wie folgt ausgelegt: Der Stifter habe nichts darüber gesagt, welche Universitätsstudien zum Genusse der Stiftung berechtigen; er habe zwar "zunächst" an die zur Zeit der Testamentserrichtung auf den Universitäten gelehrten Wissenschaften gedacht, aber auch an die Weiterentwicklung des Universitäts- und Berufswesens, und habe deshalb gewollt, daß das Testament gemäß dieser Entwicklung auszulegen sei. Nach dem Willen des Stifters sei daher (ebenso wie der, der Ingenieur werden und auf einem Polytechnikum studieren wolle) auch derjenige genußberechtigt, welcher Landwirtschaftslehrer werden wolle, deshalb auf einer Universität studieren und an einer landwirtschaftlichen Lehranstalt geprüft werden müsse. Daß für dieses Studium schon eine seminaristische Vorbildung (das ehemalige Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis) genüge, sei in der Entwicklung des Schul- und Universitätswesens begründet und daher nicht ausschlaggebend. Auch ein solcher Student sei vollberechtigt und erlange durch die bestandene Prüfung die Fähigkeit, als Landwirtschaftslehrer an Landwirtschaftsschulen zu wirken, wenn auch nicht an den sog. berechtigten Landwirtschaftsschulen in Preußen. Ohne Bedeutung sei, daß nach der Anordnung des Stifters der Genußberechtigte die halben Zinsen des Studienfonds schon während der Schuljahre bekommen solle; denn daraus folge nicht, daß nur derjenige den Fonds erhalten solle, der schon die Schule im Hinblick auf seine Studienabsicht ausgewählt habe. Unerheblich sei ferner der Hinweis, daß Volkschullehrer und Volkschullehrerinnen nach bestandener Wahlfähigkeitsprüfung schlechthin, wie in Preußen, zum Studium der Pädagogik zugelassen werden; auch sie würden genußberechtigt sein, wenn sie eine Stellung erlangen wollen, die ein Studium und eine Prüfung an einer Hochschule voraussetzt. Ob dadurch andere, die eine Reifeprüfung an einer höheren Schule abzulegen und danach zu studieren gedächten, benachteiligt würden, könne nicht von Einfluß sein.

Die Revision bezeichnet diese Auslegung als verfehlt, indem sie ausführt: Der Wille des Stifters sei nur nach seiner Auffassung bei Errichtung des Testaments auszulegen, und es sei nicht angängig, sein Einverständnis mit den späteren Bestimmungen über die Zulassung zur Universität von vornherein zu unterstellen; der Stifter habe überhaupt nur die Universität in ihrer damaligen Einrichtung in vier Fakultäten und den ihm vertrauten Studiengang von einer neunstufigen Schule zur Universität im Sinne gehabt und die Möglichkeit einer anderweiten Entwicklung des Universitätswesens im Testament auch nicht einmal angedeutet. Bei der Bewilligung von Unterstützungen während der Schulzeit habe er eine Schule vorausgesetzt, die bestimmungsgemäß auf die Universität vorbereite, also nicht ein Seminar, das nur zum Volksschullehrer ausbilde. Entsprechend der damaligen Auffassung des Stifters könne sein Wille auch heute noch voll beachtet werden. Dagegen werde die Auslegung des Berufungsgerichts dazu führen, daß die Zahl der Bewerber erheblich vergrößert werde und sehr leicht ein Anwärter, der nur infolge des außerordentlich erleichterten Hochschulbesuchs studiere, die Wohltat des Studienfonds erlange, während ein anderer Verwandter die Möglichkeit eines Studiums, das noch heute den strengen Anforderungen zur Zeit der Testamentserrichtung gerecht werde, verliere; das habe der Stifter nach dem Wortlaute seines letzten Willens doch nicht gewollt.

Die Revision muß zur Aufhebung des Berufungsurteils führen. Zwar sagt das Berufungsgericht nichts über das von ihm angewendete Recht; aber es kann nicht zweifelhaft sein, daß die Rechtslage, wie sie durch die Stiftung vom Jahre 1836 begründet worden ist, nach dem damaligen gemeinen Rechte, das vor dem Inkrafttreten des Sächsischen BGB. vom 2. Januar 1863 im Bezirke des Berufungsgerichts in Geltung war, zu beurteilen war. Die Anwendung dieses Rechtes, das auch die gemeinrechtlichen Auslegungsvorschriften umfaßt, unterliegt nach § 549 ZPO. der Nachprüfung des Revisionsgerichts (vgl. Warneyer 1912 Nr. 258).

Nach § 35 des Testaments haben die fünf Stiftungsvorsteher über die Zuteilung des Studienfonds gemeinschaftlich mit Stimmenmehrheit zu beschließen; nur dürfen sie "dadurch nicht den Bestimmungen der Stiftung entgegenhandeln". Daß der Beschluß der Vorsteher, der den Anspruch des Klägers auf den Studienfonds sogar einstimmig für stiftungswidrig erklärt hat, ordnungsmäßig nach den Bestimmungen der Stiftung gefaßt worden ist, ist nicht streitig. Der Beschluß entspricht objektiv den Anordnungen des Stifters und ist innerhalb der Grenzen der den fünf Vorstehern zugewiesenen Befugnisse in formgültiger Weise zustande gekommen. Insoweit besteht also für den Kläger kein Anlaß, das Gericht anzurufen, das allerdings dann auf Klage zu befinden hätte, wenn die Vorsteher objektiv den Bestimmungen der Stiftung entgegengehandelt haben würden, sei es durch Nichtherbeiführung eines ordnungsmäßigen Mehrheitsbeschlusses oder durch Überschreitung der ihnen durch die Stiftung eingeräumten Verwaltungsstellung. Davon kann hier keine Rede sein, wo die Vorsteher ausdrücklich die Anordnung des Stifters im § 35 des Testaments befolgt und darüber beschlossen haben, ob der Kläger zum Studienfonds zuzulassen sei. Indem sie sich hierbei einer Auslegung des Testaments unterzogen haben, um nach ihrer Überzeugung dem wirklichen Willen des Stifters gerecht zu werden, kann ihnen in keiner Weise vorgeworfen werden, daß sie dabei, wie es im § 35 heißt, den Bestimmungen der Stiftung entgegenhandelt haben.

Gleichwohl würde auch diese Auslegung der Stiftung der Gegenstand einer im Klagewege gerichtlich auszutragenden Streitigkeit sein können, wenn dies nach den Bestimmungen der Stiftung, insbesondere nach der vom Stifter selbst vorgesehenen verfassungsmäßigen Organisation der Stiftung, als sein Wille anzunehmen ist. Auf diesen Gesichtspunkt ist aber das Berufungsgericht überhaupt nicht eingegangen und hat die weiter in dieser Hinsicht in Betracht kommenden und vorgetragenen Bestimmungen des Testaments vollkommen unberücksichtigt gelassen. Zu untersuchen war, ob durch die Verfassung der Stiftung, für die sowohl nach gemeinem Rechte wie nach § 85 BVB. in erster Linie das Stiftungsgeschäft, hier also die testamentarischen Anordnungen des Stifters, maßgebend sind, auch geregelt ist, welche Stiftungsorgane über etwaige bei der Verwaltung und Verwendung des Vermögens auftretende Zweifel und Streitigkeiten entscheiden sollen, und weiterhin, welchem Organ und mit welchen Machtbefugnissen die Oberaufsicht zur Wahrung des Stiftungszwecks anvertraut ist. Diese Untersuchung berührt begrifflich auch die Frage, ob und wieweit über etwaige Stiftungsstreitigkeiten, Auslegung der Stiftungsurkunde usw. lediglich die Stiftungsorgane und die Aufsichtsbehörde zur Entscheidung berufen sind, so daß gegen deren Entscheidung die Beschreitung des Rechtswegs nach dem Willen des Stifters nicht zuzulassen wäre. Im gegebenen Falle, wo es sich nur um Behebung von "Zweifeln über die Auslegung" der Stiftung handelt, war daher der § 43 des Testaments zu beachten, der die Entscheidung hierüber "vertrauensvoll in die Hände der erwählten hohen Fideikommißbehörde gelegt" hat. Daß aber der § 43, der schlechthin die Entscheidung über jedwede Zweifel wegen Auslegung "dieser meiner Fideikommißstiftung" vorsieht, sich auch auf die Auslegung des den Studienfonds besonders behandelnden § 15 des Testaments beziehen soll, wird in Anbetracht des einheitlichen Charakters der Stiftungsurkunde und bei dem inneren Zusammenhange zwischen dem Studienfonds und dem übrigen Fideikommißvermögen, zumal Gegenteiliges nicht bestimmt ist, wenigstens nach der jetzigen Sachlage unbedenklich anzunehmen sein. Der Stifter hat weiter in § 42 des Testaments um die "Oberaufsicht über die getreue und sorgfällige Aufrechterhaltung des gestifteten Familienfideikommisses" das damalige Appellationsgericht zu Bautzen ersucht, also mit der Entscheidung über etwaige Auslegungszweifel ein höheres Gericht als Aufsichtsbehörde betraut. Diesen Bestimmungen der §§ 35, 42, 43 des Testaments gegenüber wird daher vom Berufungsgericht, und zwar von Amts wegen, zu untersuchen sein, ob es im Willen des Stifters gelegen hat, seinen Verwandten überhaupt einen bei Gericht durch Klage verfolgbaren Anspruch auf den Bezug des Studienfonds zu gewähren, oder ob nicht vielmehr anzunehmen ist, daß hier, wo nur die Auslegung der Bestimmungen über den Studienfonds zweifelhaft geworden ist, lediglich die eigenen Organe der Beklagten als einer selbständigen Stiftung und die ihr übergeordnete Aufsichtsbehörde zu entscheiden berufen sind (vgl. die Urteile des IV. Senats vom 26. März 1917 IV 417/16 in LeipzZ. 1917 Sp. 1075 und vom 7. Juni 1917 IV 68/17 das. 1918 Sp. 268).

Allerdings kommt das in § 42 des Testaments in Aussicht genommene Appellationsgericht in Bautzen praktisch nicht mehr in Frage. Welche andere Behörde jetzt mit einer entsprechenden Oberaufsicht über die durch Verordnung vom 29. Juli 1874 als juristische Person anerkannte Stiftung betraut ist. läßt das Berufungsgericht ungesagt. In dieser Hinsicht wird auf die nach § 85 BGB. in zweiter Linie anzuwendenden Vorschriften des sächsischen Landesrechts einzugehen sein (vgl. Kloß, Sächsisches Landesprivatrecht 2. Aufl. 1908 § 29 und die dort in Anm. 3 angeführte VO. vom 7. November 1831 Nr. 4 E; Fricker, Die Verfassungsgesetze des Kgr. Sachsen 1895 S. 53, 190; Breit, Sächs. AusfBestimm. zum BGB. 3. Aufl. 1913 S. 1 Anm.).

Da die Frage, ob der Anspruch des Klägers auf Zulassung zum Studienfonds nach dem Willen des Stifters und der Verfassung der Stiftung mittels Klage verfolgbar ist, noch offen steht, sieht das Revisionsgericht davon ab, zu der Auslegung des § 15 des Testaments auf Grund des beiderseitigen Parteivorbringens Stellung zu nehmen. Demnach war bei der jetzigen Sachlage die Sache, wie geschehen, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.