RG, 02.10.1920 - I 88/20
Über Seeversicherung auf veränderter Schätzungsgrundlage und Versicherung von imaginärem Gewinn sowie über die Bezeichnung des versicherten Interesses
Gründe
Zwischen den Parteien herrscht Einverständnis, daß die Policetaxe den Handelswert oder, falls ein Handelswert nicht bestehen sollte, den gemeinen Wert der Briefmarken am Ort und zur Zeit der Abladung erheblich übersteigt. Grundsätzlich ist für eine reine Güterversicherung dieser Wert des versicherten Guts am Ort und zur Zeit der Abladung als Versicherungswert nach § 22 AllgSVB. maßgebend. Es können aber daneben "zusammenhängende Interessen" mitversichert werden, Das kann insbesondere in dreierlei Art geschehen. Es kann Versicherung "auf behaltene Ankunft" genommen werden, § 102 AllgSVB. In solchem Falle braucht das indirekte, den eigentlichen Versicherungswert der Güter übersteigende Interesse in der Police nicht gesondert angegeben zu werden (Voigt, Seeversicherungsrecht, S. 19 Anmerkung); das Interesse muß aber im Schadensfälle nachgewiesen werden (Voigt S. 594 flg.). Zweitens kann das imaginäre Interesse gleichzeitig mit den Gütern versichert werden, Drittens kann nach § 22 eine andere Grundlage für die Schätzung als der vorstehend bezeichnete Versicherungswert vereinbart werden. Es fragt sich, welche dieser drei Formen im vorliegenden Falle gewählt ist.
In dem ersten Urteile des Berufungsgerichts war angenommen, daß eine reine Güterversicherung vorliege, daß aber von den Parteien bewußterweise eine Reihe werterhöhender Umstände und Eigenschaften mit berücksichtigt seien.
Das Urteil ist vom Reichsgericht aufgehoben worden, weil es einen Widerspruch enthalte, wenn einerseits das Vorliegen einer reinen Güterversicherung angenommen werde, anderseits aber die Rechtfertigung der den Versicherungswert übersteigenden Versicherungssumme aus solchen Umständen entnommen werde, die mit dem Werte der Ware nichts zu tun hätten, z.B. Kosten, die zur Einleitung des Geschäfts aufgewandt worden seien.
In dem zweiten, jetzt mit der Revision angefochtenen Urteil hat das Berufungsgericht angenommen, daß eine reine Güterversicherung nicht vorliege. Versichert sei vielmehr der Wert, den die Güter bei ihrer glücklichen Ankunft in Liberia für die Versicherte haben würden.
Eine Versicherung auf behaltene Ankunft ist nicht angenommen worden; ob eine Versicherung von imaginärem Gewinn oder eine Versicherung von Gütern mit einer von der Regel abweichenden Schätzungsgrundlage gegeben sei, ist dahingestellt gelassen.
Um eine Versicherung auf behaltene Ankunft handelt es sich vorliegendenfalls nicht, wie die Police zweifelsfrei ergibt und die Revision mit Recht hervorhebt.
Auch eine Versicherung auf veränderter Schätzungsgrundlage der versicherten Ware liegt nicht vor. Die innere Berechtigung einer solchen Versicherung ist mehrfach angefochten worden (Voigt S. 123 flg.). Was darunter zu verstehen ist, ist in den Vorarbeiten der Kommission zur Beratung eines ADHGB. eingehend, wenn auch nicht in ganz klarer Weise, erörtert worden. Die Kommission hat im allgemeinen Einverständnis ihre Willensmeinung wie folgt zusammengefaßt (vgl. Lutz, Protokolle Bd. 8 S. 4265): "es sei den Parteien unbenommen, sich darüber zu verständigen, wie das Interesse näher zu bestimmen, ob es nach dem Inhalt der Art. 691, 693 und 695 oder in welcher anderen Weise zu bemessen sei, also die im Gesetze als das präsumtiv Gewollte aufgeführten Grundlagen der Schätzung zu modifizieren und andere Grundlagen festzusetzen, und endlich den Wert des versicherten Interesse, möge es nun im konkreten Falle bei den gesetzlichen Grundlagen der Schätzung sein Verbleiben haben oder auch hierüber eine besondere Vereinbarung getroffen sein, auf eine bestimmte Summe festzusetzen". Klarer als aus dieser Zusammenfassung ergibt sich das, was die Kommission gewollt hat, aus den bei der Beratung angeführten Beispielen. Es wurde erwähnt, man könne bestimmen, daß die Güter "zum heutigen Börsenpreise" (S. 4262) oder zum Werte am Bestimmungsorte (S. 4264) versichert sein sollten. Gemeint ist also jedenfalls im wesentlichen die Festsetzung des Werts, den die Güter zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Orte, als bei der Abladung, haben (vgl. RGZ. Bd. 77 S. 304). Um derartiges handelt es sich im vorliegenden Falle nicht. Vielmehr wollte die Klägerin ihr Interesse an der Ausführung des mit dem Generalpostmeister von Liberia geschlossenen Vertrags versichern, nach welchem sie der Regierung von Liberia Marken zu liefern hatte, wogegen sie das Recht erhielt, gleichartige Marken in Deutschland und anderen Ländern zu verkaufen und zu diesem Zwecke solche Marken von den Behörden von Liberia abstempeln zu lassen. Ein derartiges Interesse fällt nicht unter den Begriff einer Versicherung von Gütern auf Grund einer anderen als der gesetzlichen Schätzung im Sinne des § 22.
Was die Klägerin decken wollte, war also - neben der Versicherung des Werts der Marken - die Versicherung, von sogenanntem imaginärem Interesse. Nun verlangt § 2 AllgSVB. (letzter Absatz), daß das zu versichernde Interesse richtig bezeichnet wird, widrigenfalls die Versicherung für den Versicherer unverbindlich ist. Es fragt sich, ob das geschehen ist. In dem ersten Urteil des Reichsgerichts ist bereits dargelegt worden, daß, wenn die Vertragsteile über die Art des zu versichernden Interesses einig waren, es nicht von Bedeutung ist, wenn dieses Einverständnis im Wortlaut der Police keinen klaren Ausdruck gefunden haben sollte. Nun hat das Berufungsgericht in tatsächlicher und deshalb unanfechtbarer Würdigung des Beweisergebnisses festgestellt, daß bei den Verhandlungen, die zum Abschluß der Versicherung führten, ausdrücklich von imaginärem Gewinn die Rede gewesen ist. Danach erstreckt sich die Versicherung auf das imaginäre Interesse der klagenden Firma. Worin das Interesse vorliegendenfalls bestand, ist bei den Vorverhandlungen nicht näher angegeben worden; allerdings ist gesagt worden, daß die "hohen Einstandskosten" gedeckt werden sollten, wie das Berufungsgericht feststellt. Es ist vorstehend bereits darauf hingewiesen worden, daß die Sachlage, wie folgt, war. Es handelte sich um ein neues Muster von Briefmarken. Die Liberianische Regierung sollte diese amtlich einführen. Darin bestand hauptsächlich das Interesse der Klägerin. Die Klägerin hatte dann die Berechtigung. beliebige Mengen in Liberia abstempeln zu lassen und sie an Markensammler zu verkaufen. Nun hat sich die Beklagte in den Instanzen darauf berufen, ein solches Interesse hätte besonders bezeichnet werden müssen; da das nicht geschehen sei, sei es durch die Versicherung nicht gedeckt. Dies ist in der Tat der eigentliche Kernpunkt d es Rechtsstreits. Es kann jedoch den Ausführungen der Beklagten nicht zugestimmt werden.
In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich, wenn imaginäres Interesse gedeckt wird, allerdings um Gewinn, der durch Weiterverkauf der versicherten Ware erzielt werden soll. Daraufhin wird in der Rechtslehre hin und wieder angenommen, daß der Regel nach unter imaginärem Gewinn ein solcher durch Verwertung der Ware zu erzielender Gewinn verstanden werde (vgl. Sieveking. Seevers. § 779, Anm. 27). Auffällig ist freilich demgegenüber, daß bei den Vorberatungen der neuen Allgemeinen Deutschen Seeversicherungs-Bedingungen einem Antrage der Handelskammern Lübeck und Flensburg, den Begriff des imaginären Gewinns in derartiger Weise zu beschränken, keine Folge gegeben worden ist (vgl. Bruck, Materialien, Bd. 1 S. 26). Immerhin mag es sein, daß unter Umständen, wenn es sich um einen auf ungewöhnliche Art und Weise zu erzielenden Gewinn handelt, der Versicherungsnehmer hierauf hinzuweisen hat. Einer grundsätzlichen Entscheidung bedarf diese Frage vorliegendenfalls jedoch nicht. Denn bei den Vorverhandlungen ist genügend zu Tage getreten, daß es sich um eine besonders geartete und nicht um die gewöhnliche Sachlage handelte. Der Zeuge B. hat am 29. Oktober 1919 bekundet: er wolle nicht sagen, daß er etwa nur die Vorstellung gehabt habe, die Marken würden in Liberia gegen einen Kaufpreis geliefert, der den einzigen Gewinn bei dem Geschäfte enthielte; ihm sei bekannt, daß viele Geschäfte ihren eigentlichen Vorteil nicht durch den darauf entfallenden Preis böten, sondern durch die Anbahnung eines weiteren Geschäftsverkehrs. Auch der Zeuge W. hat bekundet, er habe angenommen, daß die Versicherungssumme zum großen Teil auf den Preis entfalle, den man von der Regierung von Liberia erhalten werde. Auch dieser Zeuge muß also angenommen haben, daß zum anderen Teil der Gewinn auf andere Weise erzielt werden sollte. Danach hat bei den Vorverhandlungen Einverständnis darüber geherrscht, daß es sich nicht oder jedenfalls nicht nur um Gewinne unmittelbar aus der Lieferung der versicherten Marken handle. Darauf wies außerdem schon die Art und vor allem die Höhe der Versicherung hin. Denn daß für zehn Pakete Briefmarken ein Kaufpreis von 30000 M erzielt werden könne, das erschien doch immerhin so auffällig, daß die Beklagte ihrerseits Veranlassung gehabt hätte, Nachfrage zu halten, wenn sie nur den Verkaufspreis der Marken decken wollte. Aus diesen Gründen kann sich die Beklagte nicht darüber beschweren, daß sie im einzelnen über die Art des Gewinns nicht noch näher aufgeklärt worden ist.
Wenn weiter die Revision in der mündlichen Verhandlung mit besonderem Nachdruck auf § 24 AllgSVB. hingewiesen hat, so vermag auch das nicht zu einer anderen Beurteilung zu führen. Nach § 24 gelten bei einer taxierten Police 10 % vom Versicherungswert der Güter als imaginärer Gewinn. Diese Bestimmung soll die Grundlage für eine etwaige Anfechtung der Taxe der Güter oder des imaginären Gewinns abgeben. Eine Anfechtung kann aber nicht in Frage kommen, denn nach dem Tatbestand des Berufungsurteils hat die Beklagte zugegeben, daß die Taxe nicht wesentlich übersetzt sei, wenn das Interesse an der Durchführung des mit der Liberianischen Regierung geschlossenen Vertrags Gegenstand der Versicherung sei. Es kommt also nur darauf an, ob dies Interesse rechtsgültig unter Versicherung gebracht ist. Das ist, wie gezeigt, der Fall. Dabei mag noch darauf hingewiesen werden, daß nach der Behauptung der Klägerin ein Teil der versicherten Marien der Regierung geliefert, ein Teil aber nur zum Abstempeln eingereicht und sodann an Sammler verkauft werden sollte. Bezüglich dieses letzten Teils würde also jedenfalls zum Teil der gewöhnliche imaginäre Gewinn versichert sein.
Was endlich die Schlußfolgerungen des angefochtenen Urteils angeht, so rügt die Revision, daß diese in sich widerspruchsvoll seien und der Sachlage nicht gerecht würden. In der Tat spricht das Urteil an entscheidender Stelle davon, daß der Wert der Güter versichert sei, den diese mit ihrer glücklichen Ankunft in Liberia für die Klägerin erlangten. Dies erscheint nicht zutreffend, da - jedenfalls soweit die Marken nicht nur für die Klägerin abgestempelt, sondern der Regierung geliefert werden sollten - das Interesse der Klägerin nicht in dem Wert der Marken bestand. Ein Entgelt für die Marken hatte die Klägerin nach ihrem Vertrage mit der Regierung nicht zu erhalten. Sie hatte sie vielmehr umsonst zu liefern und hatte für die Berechtigung, gleichartige Marken an Sammler zu verkaufen, noch 2000 £ an die Regierung oder deren Vertreter obendrauf zu zahlen. An anderer Stelle spricht denn auch das Urteil von "dem Interesse an der Möglichkeit, die Marken in Liberia der dortigen Regierung zu liefern" und durch solche Lieferung "das Geschäft mit der Regierung durch Einführung der Marken in den amtlichen Verkehr ... in Gang zu bringen." Damit ist das Interesse der Klägerin in den wesentlichen Punkten richtig bezeichnet; und jedenfalls ist das Endergebnis, zu dem das Berufungsgericht gelangt ist, nach den obigen Ausführungen für zutreffend zu erachten.