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RG, 29.09.1920 - I 140/20

Daten
Fall: 
Eisenbahngütertarif, auffallender Gewichtsabgang
Fundstellen: 
RGZ 100, 82
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
29.09.1920
Aktenzeichen: 
I 140/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG I Berlin, Kammer für Handelssachen
  • KG Berlin

1. Zu den Bestimmungen des Eisenbahngütertarifs über Beförderung von Frachtgütern in offenen Wagen und Verladung von Gütern durch den Absender.
2. Zum Begriffe "auffallender Gewichtsabgang" im Sinne des § 86 Abs. 1 Nr. 1 der Eisenbahnverkehrsordnung.
3. Zur Haftung der Eisenbahn für den Schaden, der aus der mit dem Aufladen oder mit einer mangelhaften Verladung verbundenen Gefahr entsteht.

Tatbestand

Der Weingutsbesitzer H. sandte am 4. Juni 1919 mit der Eisenbahn zwei Wagenladungen Wein in Fässern von C. nach B. an die Klägerin. Beim Eintreffen der Sendung in B. wurde festgestellt, daß bei der einen Wagenladung, die 6 Fässer Wein im Gewichte von 6960 kg enthielt, 1509 l Wein fehlten, und bei der anderen, zu der 7 Fässer im Gewichte von 6580 kg gehörten, ein Verlust von 321 l eingetreten war. Den Wert des abhanden gekommenen Weins hat die Klägerin auf 7557,90 M berechnet und in Höhe dieses Betrags nebst Zinsen vom Beklagten Schadensersatz verlangt.

Das Landgericht wies die Klage ab. Die Berufung der Klägerin wurde vom Kammergericht zurückgewiesen. Ihre Revision hatte zum Teil Erfolg.

Gründe

Der Berufungsrichter sieht eine bestimmte Ursache für das Abhandenkommen des Weins nicht als erwiesen an. Er erklärt es für sehr wohl möglich, daß an den Fässern, die im Juni, also zur warmen Jahreszeit, befördert wurden und 14 Tage unterwegs waren, infolge der Hitze die Dauben zusammengetrocknet und durchlässig geworden sind. Er schließt aber auch die Möglichkeit nicht aus, daß unterwegs aus den Fässern Wein abgezapft wurden ist. Endlich führt er aus, daß bei zwei Fässern, an denen Stab- oder Daubenbruch ersichtlich gewesen sei, der Gewichtsverlust auch durch eine Beschädigung beim Aufladen oder durch mangelhafte Verladung herbeigeführt sein könne. Deshalb erachtet er die Befreiungsvorschriften des § 459 Nr. 1 und 3 HGB. (§ 86 Nr. 1 und 3 EVO.) zugunsten des Beklagten für anwendbar.

Diese Annahme ist nicht durchweg bedenkenfrei. Nach § 459 Nr. 1 HGB. (§ 86 Nr. 1 EVO.) haftet bei Gütern, die nach den Vorschriften der Eisenbahnverkehrsordnung oder des Tarifs oder nach einer in den Frachtbrief aufgenommenen Vereinbarung mit dem Absender in offenen Wagen befördert werden, die Eisenbahn nicht für den Schaden, der aus der mit dieser Beförderungsart verbundenen Gefahr entsteht. Hiervon macht die Eisenbahnverkehrsordnung zuungunsten der Bahn nur insofern eine Ausnahme, als sie bestimmt, daß auffallender Gewichtsabgang oder der Verlust ganzer Stücke nicht als ein solcher Schaden anzusehen ist. Daß der in Rede stehende Wein in offenen Wagen zu verladen war, kann nach dem deutschen Eisenbahngütertarif, Teil l, Abteilung V, gültig vom 1. April 1918, nicht zweifelhaft sein. Denn nach § 44 dieses Tarifs werden sämtliche Güter, soweit sie nicht nach § 43 in bedeckten Wagen befördert werden müssen, in offenen Wagen befördert. Eine der Sondervorschriften des § 43 trifft auf den vorliegenden Fall nicht zu; vielmehr wird im Verzeichnis IV des Tarifs unter Nr. 71 "Wein in Fässern mit einem Fassungsraum von mindestens 500 Litern" ausdrücklich unter den Gütern genannt, die "zur Beförderung in großräumigen offenen Wagen zugelassen" sind. Die Revision wendet sich zwar gegen die Zulässigkeit dieser Regelung und sucht auszuführen, daß Weinfässer als Stückgut in bedeckten, Wagen zu befördern seien. Aber alles das, was die Revision gegen die Gültigkeit der Tarifvorschriften vorbringt, erscheint nicht stichhaltig angesichts des Umstandes, daß die Aufstellung der Tarife, und demgemäß auch die Regelung aller für den Beförderungsvertrag maßgebenden Bestimmungen nach § 6 Abs. 1 EVO. dem pflichtmäßigen Ermessen der Eisenbahn überlassen ist, und daß das Gesetz die Verwendung bedeckter Wagen als Regelfall, wie es die Revision annimmt, nirgends vorschreibt. Auch übersieht die Revision, daß im vorliegenden Falle die Weinfässer nicht als Stückgüter, sondern als Wagenladungsgut aufgegeben worden sind. Danach ist mit dem Berufungsgericht die allgemeine Voraussetzung des § 459 Nr. 1 HGB. (§ 86 Nr. 1 EVO.), daß die Beförderung in offenen Wagen auf Grund des Tarifs erfolgte, zu bejahen. Es erscheint ferner unbedenklich, daß durch die Verwendung offener Wagen, im Vergleich mit der Güterbeförderung in bedeckten Wagen, die Einwirkung der Witterungsverhältnisse auf das Gut erhöht und die Gefahr des Diebstahls vergrößert wurde. Deshalb kann es nicht als rechtsirrtümlich angesehen werden, wenn das Berufungsgericht das durch die Junihitze herbeigeführte Eintrocknen und Undichtwerden der Faßdauben und das Berauben der Fässer zu den Gefahren rechnet, die unter die genannten Befreiungsvorschriften fallen. Daß tatsächlich ein solches Eintrocknen der Dauben oder ein Berauben der Fässer stattgefunden hat, ist vom Berufungsgericht nicht festgestellt worden. Einer solchen Feststellung bedurfte es auch nicht, da Absatz 2 der vorgenannten Gesetzesvorschriften für jeden Schaden, der aus der fraglichen Gefahr entstehen konnte, die Vermutung aufstellt, daß er aus der Gefahr entstanden ist. ...

Dagegen rügt die Revision mit Recht, daß das Berufungsgericht die Vorschrift des § 86 Nr. 1 EVO., nach welcher die Haftungsbeschränkung bei auffallendem Gewichtsverlust nicht eintreten soll, irrtümlich ausgelegt habe. Der Zusatz, daß unter dem Schaden, der aus der Beförderung des Gutes in offenen Wagen entsteht, "auffallender Gewichtsabgang oder der Verlust ganzer Stücke nicht zu verstehen ist", beruht augenscheinlich auf der Erwägung, daß aus der Verwendung offener Wagen sich neben schädlichen Witterungseinflüssen hauptsächlich die Gefahr des Diebstahls ergab. Für erhebliche Verluste durch Diebstahl wollte man die Eisenbahn haften lassen, und deshalb nahm man in die Eisenbahnverkehrsordnung zuungunsten der Eisenbahn jene allgemein gehaltene und nicht etwa auf den Fall des Diebstahls beschränkte Ausnahmevorschrift auf, die ihr Vorbild bereits im § 67 des Eisenbahnbetriebsreglements vom 11. Mai 1874 hatte. Hier ist für Güter, die sonst in gedeckten Wagen verladen, infolge besonderer Vereinbarung aber in ungedeckten Wagen befördert werden, die Bestimmung getroffen, daß unter der mit dieser Transportart verbundenen Gefahr, für die die Eisenbahn gewöhnlich nicht haftet, "auffallender Gewichtsabgang oder Abgang von ganzen Kolli" nicht verstanden werden soll. Schon unter der Herrschaft des Betriebsreglements durfte also die Bahn bei auffallendem Gewichtsabgang oder Verlust ganzer Stücke sich nicht darauf berufen, daß der Verlust durch die ordnungsmäßige Verwendung offener Wagen herbeigeführt worden sei, und an dieser Bestimmung ist in der jetzt gültigen ebenso wie in den älteren Eisenbahnverkehrsordnungen festgehalten worden (Rundnagel, Die Haftung der Eisenbahn, 2. Aufl. S. 177 flg, Eger, Eisenbahnverkehrsordnung § 86 Anm. 457, 3. Aufl. S. 462). Als "auffallender" Gewichtsabgang ist (mit Rundnagel a, a. O. S. 178) ein solcher zu verstehen, der dasjenige Maß übersteigt, das mit den Gefahren einer regelrecht verlaufenden Beförderung verbunden zu sein pflegt und in ihnen seine Erklärung findet. Im vorliegenden Falle fehlten nun an der einen Wagenladung von 6960 kg insgesamt 1509 l, die ungefähr ebenso vielen kg gleichzurechnen sind, an der anderen von 6580 kg insgesamt 321 l, gleich ebenso vielen kg. Daß diese Gewichtsverluste "auffallend" im Sinne der obigen Ausführungen sind, leuchtet ohne weiteres ein.

Dessen ungeachtet hält das Berufungsgericht die Ausnahmevorschrift hier gegenüber der Eisenbahn nicht für anwendbar, weil sie sich nur auf Fälle beziehe, bei denen die Schadensursache unerklärlich sei, hier aber nur Eintrocknen der Dauben, Diebstahl oder Leckage infolge Beschädigung der Fässer in Frage komme. Zur Unterstützung seiner Ansicht verweist es auf die in RGZ. Bd. 70 S. 175 abgedruckte Entscheidung des Reichsgerichts und auf Eger a. a. O., wo die Entscheidung gebilligt wird. Der damals behandelte Fall war aber vom gegenwärtigen grundsätzlich verschieden. Dort war während der Beförderung ein Möbelwagen mit Umzugsgut, der auf einen offen gebauten Wagen gesetzt war, durch Brand vollständig zerstört worden. Die Gerichte hatten zugunsten der Eisenbahn den mit § 86 Nr. 1 EVO. übereinstimmenden § 77 Nr. 1 der alten EVO. angewendet, und die Revisionsrüge daß "Verlust ganzer Stücke" vorliege und deshalb die Haftung der Eisenbahn bestehe, wurde vom Reichsgericht mit der Begründung abgelehnt, daß die Ausnahmevorschrift nur Fälle treffen wolle, bei denen die Ursache des Verlustes unaufgeklärt sei, daß sie vor allem die Möglichkeit von Diebstählen ins Auge fasse, aber unanwendbar sei, wenn die Ursache der Vernichtung des Gutes bekannt sei und in einem Brand bestehe, der das Gut gänzlich zerstört habe. Diese Erwägungen passen in keiner Weise zum vorliegenden Fall. Das Berufungsgericht führt selbst aus, daß hier die Ursache des Gewichtsabganges nicht aufgeklärt sei; es rechnet mit der Möglichkeit des Eintrocknens der Dauben, des Diebstahls und bei zwei Fässern auch mit der Möglichkeit der mangelhaften Verladung. Gerade Diebstahl, auf den, wie jene Entscheidung zutreffend hervorhebt, die Ausnahmevorschrift in erster Linie zugeschnitten ist, kommt im vorliegenden Falle als eine der möglichen Schadensursachen mit in Betracht. Wenn das Berufungsgericht das Anwendungsgebiet der Ausnahmevorschrift auf Fälle beschränkt, bei denen die Schadensursache unerklärlich ist, und sich hierfür auf jene Entscheidung des Reichsgerichts beruft, so trägt es in sie etwas hinein, was darin nicht enthalten und auch mit dem Gedankengange der Urteilsgründe unvereinbar ist. Hiernach besteht kein Anlaß, der Ausnahmevorschrift, die ihrem Wortlaute und Sinne nach auf den vorliegenden Fall zutrifft, die Anwendbarkeit zu versagen. Eben weil der Gewichtsabgang ein "auffallender" und seine Entstehungsursache nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht aufgeklärt ist, kann die Eisenbahn eine Befreiung von der ihr nach § 456 HGB. (§ 84 EVO.) allgemein obliegenden Haftpflicht hier aus der Vorschrift des § 459 Nr. 1 HGB. (§ 86 Nr. 1 EVO.) nicht herleiten.

In zweiter Reihe wendet das Berufungsgericht zugunsten des Beklagten die Befreiungsvorschrift des § 459 Nr. 3 HGB. (§ 86 Nr. 3 EVO.) an, diese freilich nur insoweit, als zwei Fässer bei der Ankunft in B. Stab- und Daubenbruch aufwiesen. Es geht davon aus, daß nach Abschnitt II des Gütertarifs Teil I Abteilung B dem Absender selbst die Verladung der Güter obgelegen habe und deshalb die Eisenbahn nach der eben genannten Befreiungsvorschrift nicht hafte für den Schaden, der aus der mit dem Aufladen oder mit einer mangelhaften Verladung verbundenen Gefahr entstehe. Weiter berücksichtigt es, daß nach § 459 Abs. 2 (§ 86 Abs. 2) in Ansehung solcher Schäden, die aus der fraglichen Gefahr entstehen konnten, die Vermutung besteht, daß sie aus dieser Gefahr auch wirklich entstanden sind. Demgemäß gelangt es zu dem Ergebnis, daß an den beiden Fässern mit Stab- und Daubenbruch der Gewichtsverlust auch durch eine Beschädigung beim Aufladen oder durch mangelhafte Beiladung herbeigeführt sein könne und der Beklagte hierfür nicht zu haften brauche.

Hiergegen wendet sich die Revision, indem sie die Rechtmäßigkeit der Tarifbestimmung über die Selbstverladung anzweifelt und die Nichterhebung des von der Klägerin angetretenen Gegenbeweises rügt.

Hinsichtlich des Ausladens der Güter schreibt der Tarif in § 42 Abs. 1 vor, daß Wagenladungsgüter vom Absender zu verladen sind, sofern nicht die Eisenbahn diese Leistung gegen die im Nebengebührentarif festgesetzten Gebühren übernimmt. Dem wird im Absatz 3 noch hinzugefügt, daß der Absender die Übernahme des Ausladens im Frachtbriefe zu beantragen hat. Weshalb diese Vorschriften nicht rechtswirksam sein sollen, ist nicht ersichtlich. Sie gehören zu den für den Beförderungsvertrag maßgebenden Bestimmungen, über die nach § 6 Abs. 1 EVO. die von der Eisenbahn aufzustellenden Tarife Auskunft geben sollen. Ein Antrag auf Übernahme der Verladung ist aber in den Frachtbriefen nicht gestellt worden.

Unbeachtlich erscheint auch die weitere Rüge der Revision. Denn die Begründung, mit der das Berufungsgericht die Erhebung des angetretenen Sachverständigenbeweises abgelehnt hat, ist nicht zu beanstanden. Es ist in der Tat nicht einzusehen, daß ein Sachverständiger, der die Fässer nicht einmal gleich nach der Ankunft gesehen hat, jetzt ein maßgebliches Urteil über die Entstehung des Verlustes und besonders über die Ursache für den Stab- und Daubenbruch sollte abgeben können. Wenn das Berufungsgericht es als möglich ansieht, daß der Stab- und Daubenbruch schon bei der Verladung oder als eine Folge mangelhafter Verladung entstanden ist und während der Beförderung die Ursache für das Auslaufen eines Teiles des Weins aus den beiden Fässern gebildet hat, so handelt es sich hierbei um eine Erwägung, die auf tatsächlichem Gebiete liegt und in der Revisionsinstanz nicht nachgeprüft werden kann. In rechtlicher Beziehung genügt diese Annahme, um die Anwendung des § 459 Nr. 3 HGB. (§ 86 Nr. 3 EVO.) zu rechtfertigen, unter die hauptsächlich Schäden fallen, die nach der Verladung, aber infolge der Ausführung der Verladung, entstanden sind.

Nach der Feststellung des Berufungsgerichts erstreckt sich die Haftbefreiung des Beklagten, soweit sie aus § 459 Nr. 3 (§ 86 Nr. 3) hergeleitet wird, nur auf die beiden Fässer mit Stab- oder Daubenbruch, aus denen zusammen 894 I Wein abhanden gekommen sind. ...