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RG, 07.07.1920 - I 114/20

Daten
Fall: 
Ausführungsbestimmungen zur Eisenbahnverkehrsordnung
Fundstellen: 
RGZ 99, 250
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
07.07.1920
Aktenzeichen: 
I 114/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG I Berlin
  • KG Berlin

Zur Veröffentlichung von Ausführungsbestimmungen zur Eisenbahnverkehrsordnung.

Tatbestand

Eine Firma in M. übersandte dem Kläger am 16. April 1919 mit der Eisenbahn als Expreßgut einen Ballen, enthaltend 89,20 m Buxkinstoff im Gewichte von 31 Kg. Das Gut geriet bei der Beförderung in Verlust. Der Kläger erhob gegen den preußischen Eisenbahnfiskus Klage auf Schadensersatz zum Betrage von 5262,80 M nebst Zinsen.

Das Landgericht gab der Klage statt. Die Berufung des Beklagten wurde zurückgewiesen. Auch die Revision blieb erfolglos.

Gründe

"Der Beklagte lehnt seine Ersatzpflicht vornehmlich deshalb ab. weil der verloren gegangene Ballen Buxkinstoff einen Wert von mehr als 150 M für das kg gehabt habe, deshalb im Sinne der am 1. März 1919 eingeführten Ausführungsbestimmungen zu § 54 Abs. 2 B I EVO. als Kostbarkeit anzusehen und von der Beförderung als Expreßgut ausgeschlossen gewesen sei. Das Berufungsgericht hat die Anwendbarkeit der Ausführungsbestimmung auf den vorliegenden Fall verneint, weil die Bestimmung an dem Tage, an dem das Gut zur Beförderung aufgeliefert worden sei, dem 16. April 1919, noch nicht ordnungsmäßig bekannt gemacht gewesen sei und deshalb der Wirksamkeit ermangelt habe.

Vergeblich wird dieser Entscheidungsgrund von der Revision bekämpft. Nach § 2 Abs. 1 EBO. können Ausführungsbestimmungen von der Eisenbahn mit Genehmigung der Landesaufsichtsbehörde getroffen werden. Sie dienen dazu, das Gesetzesrecht für den Eisenbahnverkehr, das vorzugsweise im Handelsgesetzbuch und in der Eisenbahnverkehrsordnung enthalten ist, durch vertragsmäßige Bestimmungen, die den Beförderungsgeschäften allgemein zugrunde zu legen sind, zu ergänzen. Insbesondere sollen sie die Anwendung der Eisenbahnverkehrsordnung durch ergänzende und erläuternde Zusätze erleichtern und solche Punkte, die dort unberücksichtigt geblieben sind, einheitlich regeln. Da sie im Vertragsrechte wurzeln, so stehen sie im engsten Zusammenhange mit den Tarifen, die nicht nur die Beförderungspreise enthalten, sondern eine Zusammenfassung aller Bedingungen bringen, unter denen die Beförderung von Personen und Gütern im öffentlichen Eisenbahnverkehr erfolgen soll (ROHG. Bd. 21 S.108). Demgemäß schreibt § 2 Abs. 3 EVO. vor, daß die Ausführungsbestimmungen zu ihrer Gültigkeit der Aufnahme in den Tarif bedürfen, mit dem Zusatz: "Auch die Genehmigung muß aus dem Tarife zu ersehen sein."

Die Bekanntmachung der Tarife an die Allgemeinheit wird durch § 6 EVO. geregelt. Danach bedürfen die Tarife zu ihrer Gültigkeit der Veröffentlichung, vor deren Bewirkung sie nicht in Kraft treten. Über die Art und Weise der Veröffentlichung verhält sich eine Ausführungsbestimmung zu § 6, die im deutschen Eisenbahngütertarife, Teil I Abt. 4 - gültig vom 1. Mai 1917 - bekannt gegeben worden ist. Ihr zufolge werden Änderungen und Ergänzungen der Tarife in der Regel durch neue Tarife oder Tarifnachträge veröffentlicht; werden jedoch neue Frachtsätze oder Entfernungen oder neue Tarifvorschriften für den Tier- und Güterverkehr nur durch Bekanntmachung veröffentlicht, so wird in den zur Veröffentlichung benutzten Blättern oder in einem dem Publikum zugänglichen Tarifanzeiger einer deutschen Eisenbahnverwaltung die Höhe der neuen Frachtsätze oder Entfernungen oder der Wortlaut der neuen Tarifvorschriften bekannt gegeben, wobei es vorbehalten bleibt, auf bereits eingeführte Frachtsätze oder Entfernungen zu verweisen. Ferner wird im Vorworte desselben Tarifs hervorgehoben, daß die Ausgabe der beiden Teile des Tarifs I A und I B und der dazu erscheinenden Nachträge im deutschen Reichsanzeiger und in der Zeitung des Vereins deutscher Eisenbahnverwaltungen bekannt gemacht wird, daß aber für die Gültigkeit der Tarifänderungen lediglich die Bekanntmachung durch den Reichsanzeiger entscheidend ist.

Hiernach läßt sich die Rechtslage, die sich für die Veröffentlichung der in Rede stehenden Ausführungsbestimmung teils aus Gesetzes-, teils aus Verlagsrecht ergibt, wie folgt zusammenfassen: Die Ausführungsbestimmung mußte, da derartige Vorschriften den Tarifen völlig gleichgestellt sind, entweder in einen ordnungsmäßig veröffentlichten Tarif oder Tarifnachtrag aufgenommen werden, oder ihr Wortlaut war in den zur einfachen Bekanntmachung benutzten Blättern zu veröffentlichen. Für die Gültigkeit der durch sie herbeigeführten Abänderung der bisher maßgebenden Vorschriften ist jedoch ausschließlich die Bekanntmachung durch den Reichsanzeiger entscheidend. Als weiteres Erfordernis kommt hinzu, daß aus der Bekanntmachung auch die Genehmigung der Ausführungsbestimmung durch die Landesaufsichtsbehörde - d.i. für Preußen der Minister der öffentlichen Arbeiten - ersichtlich sein muß.

Diese Voraussetzungen sind hinsichtlich der fraglichen Ausführungsbestimmung bis zum 16. April 1919, dem Versendungstage, nicht erfüllt worden. Der Tarifnachtrag V. der die Bestimmung in ihrem Wortlaute wiedergibt, ist erst im August 1919 veröffentlicht worden, kommt also als Unterlage für den am 16. April 1919 geschlossenen Beförderungsvertrag nicht in Betracht. Bis dahin war der Wortlaut der Bestimmung nur in dem von der Eisenbahndirektion Berlin herausgegebenen "Gemeinsamen Tarif- und Verkehrsanzeiger" vom 17. Februar 1919 bekannt gemacht, auch war im Deutschen Reichsanzeiger vom gleichen Tage durch eine Anzeige der Eisenbahndirektion Berlin darauf hingewiesen worden, daß "vom 1. März 1919 ab neue Tarifbestimmungen für die nach § 54 (2) B I EVO. bedingungsweise zur Beförderung zugelassenen Gegenstände (Gold- und Silberwaren, Platina, Geld und andere Kostbarkeiten sowie Kunstgegenstände) eingeführt würden" und "der Wortlaut der neuen Bestimmungen in der nächsten Nummer des preußisch-hessischen Tarif- und Verkehrsanzeigers für den Güter- und Tierverkehr veröffentlicht werden würde". In derselben Anzeige wurden auch einzelne Änderungen als wesentlich hervorgehoben, darunter zu Nr. 1: "Der Begriff Kostbarkeiten wird dahin festgelegt, daß hierzu solche Gegenstände rechnen, deren Wert 150 M für 1 kg der Ware übersteigt." Diese Art der Bekanntmachung wird mit Recht vom Berufungsgericht als vorschriftswidrig beanstandet. Sie setzt sich hinweg über die Ausführungsbestimmung zu § 6 EVO. und die Vorschrift des Tarifvorworts, aus welchen beiden Vorschriften zusammengenommen sich ergibt, daß Änderungen des Tarifs und der ihm gleichgestellten Ausführungsbestimmungen zu ihrer Gültigkeit der Bekanntmachung ihres Wortlauts durch den Reichsanzeiger bedürfen. Die kurz gefaßte Anzeige im Reichsanzeiger, die den Zusammenhang der Änderungen mit den aufrecht erhaltenen Bestimmungen und demgemäß die rechtliche Tragweite der Änderungen nicht genügend ersichtlich macht, kann als zulässiger Ersatz für die vorgeschriebene Veröffentlichung des Wortlauts nicht angesehen werden. Dieser Mangel wird auch nicht, wie die Revision meint, dadurch behoben, daß der Wortlaut im Tarif- und Verkehrsanzeiger mitgeteilt und hierauf in der Ankündigung im Reichsanzeiger besonders hingewiesen worden ist. Denn da das Vorwort des Tarifs "für die Tarifänderung lediglich die Bekanntmachung durch den Deutschen Reichsanzeiger entscheidend sein" läßt, so erscheint es nicht rechtsirrig, wenn das Berufungsgericht die Veröffentlichung des vollen Wortlauts im Reichsanzeiger für unerläßlich und die Bezugnahme auf die Veröffentlichung in einem andern Blatte für unzulässig erachtet. Dieser Auffassung ist um so mehr beizupflichten, als die Eisenbahnen selbst die Fassung des Tarifvorworts bewirkt und deshalb die Folgen einer unklaren oder unvollständigen Fassung selbst zu tragen haben (Eger EVO. § 6 Anm. 27 a. E., 3. Aufl. S. 26).

Beizutreten ist dem Berufungsgerichte ferner auch darin, daß die Bestimmung des § 2 Abs. 3 Satz 2 EVO., wonach die Genehmigung der Ausführungsbestimmungen aus dem Tarife zu ersehen sein muß, als eine zwingende Vorschrift anzusehen ist. deren Nichtbeobachtung die Nichtigkeit der Ausführungsbestimmungen zur Folge hat. Über die Genehmigung der streitigen Ausführungsbestimmung durch die zuständige Behörde besagt nun die Bekanntmachung im Reichsanzeiger nichts, ebensowenig diejenige im Gemeinsamen Tarif- und Verkehrsanzeiger. Die Revision meint zwar, daß der Genehmigungsvermerk trotz Kleidung der Vorschrift in die "Muß"-Form nicht wesentliches Erfordernis sei. und die gleiche Ansicht wird auch von Eger (§ 2 Anm. 7 S. 7) und Rundnagel (in Ehrenbergs Handbuch des Handelsrechts Bd. 5 Abt. 2 S. 290 Anm. 1) vertreten. Die Begründung, die von beiden Schriftstellern für ihre Ansicht gegeben wird, erscheint aber nicht stichhaltig. Sie verweisen darauf, daß in dem vorerwähnten Satze 2 die die Androhung der Ungültigkeit enthaltenden Worte des unmittelbar vorangehenden Satzes 1 ("bedürfen zu ihrer Gültigkeit") fehlen. Dabei übersehen sie aber, daß Satz 2 durch das Wort "auch" eingeleitet wird, welches deutlich zum Ausdruck bringt, daß die Folge der Unterlassung im Falle des Satzes 2 die gleiche sein soll, wie im Falle des Satzes 1, also die Nichtigkeit der Ausführungsbestimmung. Es entspricht demnach durchaus dem engen Zusammenhange der in den beiden Sätzen enthaltenen Vorschriften, wenn für die Anordnung des zweiten Satzes die Mußform gewählt worden ist, die in der neueren Gesetzgebung überhaupt, vor allem seit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, angewendet wird, um die Vorschrift als eine zwingende, die Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts bei Nichtbeachtung herbeiführende zu kennzeichnen. Wenn Rundnagel a. a. O. sagt, daß in der Eisenbahnverkehrsordnung die scharfe Unterscheidung der Worte "muß" und "soll" nicht, wie in anderen Reichsgesetzen, überall durchgeführt worden sei (vgl. auch Rundnagel, Die Haftung der Eisenbahnen § 29 2. Aufl. S. 223 flg.), so trifft diese Bemerkung jedenfalls nicht den vorliegenden Fall, wo der Zusammenhang und die sprachliche Verbindung der beiden vorerörterten Sätze erkennen lassen, daß die Nichtbeobachtung der Formvorschrift des ersten wie des zweiten Satzes die Nichtigkeit der Bestimmung herbeiführen soll.

Ist hiernach die Ausführungsbestimmung, die den Kostbarkeitsbegriff neu regelt, bis zum 16. April 1919 nicht ordnungsmäßig veröffentlicht worden und demgemäß bis dahin auch nicht in Kraft getreten, so ist die frühere Rechtslage für die Beurteilung des Streitfalls maßgebend geblieben. Nach den bisherigen Bestimmungen hat das Berufungsgericht den in Verlust geratenen Buxkinstoff nicht als Kostbarkeit, sondern als gewöhnliches Frachtgut aufgefaßt. Dabei hat es erwogen, daß der Wert von 59 M für das Meter des Stoffes, zumal bei der jetzigen allgemeinen Preissteigerung, nicht als ungewöhnlich hoch anzusehen sei, auch ein ungewöhnliches Mißverhältnis des Wertes zum Umfange oder Gewichte der Sendung nicht vorliege, da ein Ballen von etwa 9 mm dickem Wolljoppenstoff ein Frachtstück von beträchtlichem Umfange bilde, auch ein erhebliches Gewicht aufweise. Dies wird von der Revision angezweifelt, die darauf hinweist, daß das Gewicht des Ballens auf 62 Pfund angegeben sei, mithin das Frachtstück von einem Manne bequem habe fortgetragen werden können. Der Angriff erscheint indes verfehlt."