RG, 18.06.1917 - VI 146/17

Daten
Fall: 
Beipflichteten
Fundstellen: 
RGZ 90, 368
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
18.06.1917
Aktenzeichen: 
VI 146/17
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Bonn
  • OLG Hamburg

1. Kann ein Vertrag, in welchem sich mehrere Personen gemeinschaftlich einem Dritten zu einer einheitlichen Leistung verpflichtet haben, für die verschiedenen Beipflichteten je nach ihrem Verständnis der Vertragsbestimmungen und ihrer dementsprechenden Willensmeinung einen verschiedenen Inhalt haben?
2. Oder ist der Vertrag einheitlich so zu verstehen, wie er vermutlicherweise von jedem aufzufassen war? Inwiefern kommt es hierbei auch auf den Willen des Berechtigten an?

Tatbestand

Die Klägerin als Gläubigerin, der Architekt W. als Hauptschuldner und fünf Bürgen ("Garanten"), unter denen sich an erster Stelle die beklagte Firma befindet, schlossen am 19. November 1910 einen Vertrag, worin die Klägerin dem W. ein Darlehen ("Vorschuß") von 50.00 M zu 5 % Zinsen und 1/2 % Kommission jährlich, unkündbar bis 1. Januar 1914 gewährte. Zur Sicherheit verpfändete M., der als stiller Gesellschafter sich bei der Bremer Filiale der Firma W. & L. in D. mit einer Einlage von 25.000 M beteiligt hatte, der Klägerin sein Auseinandersetzungsguthaben, seine Verzinsungs- und Gewinnansprüche aus dieser Beteiligung. Die Bürgen übernahmen die Ausfallbürgschaft für die Darlehnsschuld von 50.000 M, soweit die Klägerin aus dem Guthaben des Schuldners bei W. & L. nicht befriedigt werden sollte, in verschiedenen Höchstbeträgen, die Beklagte bis zum Betrage von 13.000 M. Das Darlehen ist ausgezahlt und dem Hauptschuldner zum 1. April 1914 gekündigt worden. Aus dem verpfändeten Guthaben hat die Klägerin in Höhe von 27.846,68 M Deckung erhalten. Die übrigen Bürgen haben die auf sie entfallenden Anteile an dem Ausfall bezahlt, die Beklagte, auf deren Anteil 8293,50 M entfallen würden, weigert sich dessen. Sie beruft sich auf den ursprünglichen Vertragsentwurf, dessen Sinn auch für den nachher geschlossenen Vertrag maßgebend geworden sei und nach der Auffassung der Beklagten habe maßgebend werden sollen; hieraus ergebe sich, daß eine andere Berechnung zu ihren Gunsten Platz zu greifen habe, nach der sie 2892,45 M schulde. Diesen Betrag hat sie im Laufe der zweiten Instanz bezahlt.

Das Landgericht verurteilte die Beklagte nach dem auf Zahlung von 8293,50 M nebst Zinsen gerichteten Klagantrage. Das Oberlandesgericht verurteilte unter teilweiser Aufhebung dieses Urteils in Berücksichtigung der inzwischen geleisteten Zahlung die Beklagte noch zur Zahlung von 5524,50 M nebst Zinsen und erklärte im übrigen den Klaganspruch für erledigt. Die Revision der Beklagten wurde zurückgewiesen aus folgenden Gründen:

Gründe

... .Dem Vertrage vom 19. November 1910 war ein Entwurf eines Darlehns- und Bürgschaftsvertrags zwischen der Klägerin und den in dem späteren Vertrag unter 1 bis 3 bezeichneten Bürgen, zu denen die Beklagte gehört, vorausgegangen. Dieser Entwurf sah in § 4 vor, daß die noch zu gewinnenden weiteren Bürgen, als welche die dem Schuldner verwandten Bürgen unter 4 und 5 des Vertrags in Aussicht standen, einen etwaigen Ausfall vor den Bürgen zu 1 bis 3 decken sollten. Der § 4 des endgültigen Vertrags hat diese Regelung nicht aufgenommen; er bestimmt nur, daß, wenn der Schuldner bei Fälligkeit "das Darlehen nur teilweise zurückzuzahlen oder aus anderen Mitteln als dem Auseinandersetzungsguthaben oder den Nebenrechten zu decken" imstande sei, "die Verringerung der Schuld den Garanten zu 1, 2 und 3 zunächst zugute" kommen sollte, die, bei einem etwa noch entstehenden Ausfalle zunächst für den Betrag, um welchen sich die Schuld verringert hat, pro rata der Höhe ihrer Garantiesummen von ihrer Bürgschaft befreit werden". Die Beklagte verfocht die Auffassung, daß der § 4 des Vertrags der angezogenen Bestimmung des früheren Entwurfes entsprechend auszulegen sei. Die Klägerin machte diese Auffassung in dem Vorprozesse, den der Bürge H. H. W. (zu § 4 des Vertrags) gegen sie führte auf Feststellung, daß er für den Ausfall aus dem Auseinandersetzungsguthaben nur gleich den anderen vier Bürgen hafte, zu ihrer eigenen und hat sie zugunsten der Bürgen 1 bis 3 vertreten. Die Gerichte zweier Instanzen entschieden jedoch auf Grund der Aussage des über die Entstehung des Vertrags vernommenen Richters Dr. D. zugunsten des damaligen Klägers. Dieses Urteil wurde rechtskräftig.

Im gegenwärtigen Prozesse hat die Beklagte zunächst an den Vertrag sich nicht mehr gebunden erklärt, da sie nur nach Maßgabe jenes Entwurfes eine Verpflichtung habe eingehen wollen, und hat deshalb den Vertrag wegen Irrtums angefochten. Im zweiten Rechtszuge hat sie diese Verteidigung verlassen und geltend gemacht, daß, gleichgültig wie der Vertrag an sich betrachtet auszulegen sei, er dennoch ihr gegenüber im Sinne des früheren Entwurfes zu verstehen sei, da über diese Auffassung beide Parteien einig gewesen seien. Diesen Standpunkt verwirft jedoch das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat sich nicht gleich dem Landgericht auf eine Würdigung der im Vorprozeß abgegebenen Zeugenaussage des Dr. D. eingelassen und nicht festgestellt, daß bei dem Abschlusse des Vertrags die sämtlichen Vertragsparteien über den Sinn der Bestimmung im § 4, so wie sie Vertragsinhalt geworden ist, im klaren waren, daß die Bürgen zu 4 und 5 eine darüber hinausgehende Verpflichtung im Sinne des früheren Entwurfes einzugehen sich ausdrücklich weigerten und die Bürgen zu 1 bis 3 sich schließlich fügten. Das Berufungsgericht geht vielmehr von der Unterstellung aus, daß die Beklagte die Bürgschaftserklärung nur in dem eingeschränkten Umfange des Entwurfes wirklich gewollt und die Klägerin auch diesen Willen erkannt habe, erachtet aber auch bei dieser Unterstellung den Standpunkt der Beklagten als rechtlich unhaltbar. Diese Unterstellung ist demgemäß auch für die rechtliche Nachprüfung der Revisionsinstanz maßgebend.

Die Revision macht geltend, daß, wenn die Klägerin und die Beklagte über den eingeschränkten Inhalt der Bürgschaftsverpflichtung der Beklagten einig gewesen seien, die abweichende Auffassung der Bürgen unter 4 und 5 die Haftung der Beklagten nicht zu erweitern vermöge, möge sie auch an sich für die objektive Auslegung des Vertrages, sowie er schließlich zustande gekommen ist, die richtige sein. Der Irrtum über dessen Inhalt, worin sich übereinstimmend die Klägerin und die jetzige Beklagte befanden, habe nur zur Folge, daß die Klägerin nunmehr nicht voll von den Bürgen befriedigt werde. Einer besonderen Abrede, wie sie das Berufungsgericht für einen von der objektiv richtigen Auslegung abweichenden Inhalt des Vertrags zwischen den Parteien fordere, bedürft es bei ihrem stillschweigenden Einverständnis nicht.

Die Revision erschien nicht begründet. Das Berufungsgericht verkennt keineswegs, daß die Vertragsparteien mit einer Bestimmung des von ihnen geschlossenen Vertrags einen anderen Sinn verbinden können, als die natürliche Auslegung ihn ergibt und wie der Vertrag von jedem zu verstehen war, sofern dieser andere Sinn noch irgendwie in der Vertragsurkunde gefunden werden kann. Es nimmt aber ohne Rechtsirrtum an, daß diese Ausnahme von dem Satze, daß der erklärte Wille und nicht der nichterklärte innere Wille den Inhalt eines Vertrags bestimme, im gegebenen Falle nicht Platz greift, weil jedenfalls die Bürgen unter 4 und 5 einen Vertrag mit dem Inhalte, wie ihn die Beklagte behauptet, nicht schließen wollten, und weil die in der Vertragsurkunde niedergelegte gemeinschaftliche Willenserklärung aller Beteiligten nur denjenigen Vertragsinhalt ergebe, den die Bürgen unter 4 und 5 in dem Vertrage finden mußten und auch fanden. Wenn aber für die Bürgen zu 4 und 5 und für die Klägerin ihnen gegenüber die Bestimmung im § 4 nur den bestimmten Inhalt haben könne, müsse derselbe Inhalt auch für die anderen Bürgen und für das Verhältnis der Klägerin zu diesen maßgebend sein, die sich gemeinschaftlich mit jenen in dem einheitlich gedachten, gewollten und geschlossenen Vertrage für dieselbe Schuld unter denselben Bedingungen verbürgten, sofern nicht eine besondere Abrede zwischen der Klägerin und einem Teile der Bürgen vorliege, daß trotz der abweichenden Vertragsbestimmung unter ihnen allein ein anderer Verpflichtungsinhalt gelten sollte.

Der Vertrag vom 19. November 1910 enthält eine gemeinschaftliche Verbürgung von fünf Personen für eine Forderung der Klägerin an einen Dritten, an der die einzelnen mit verschiedenen Höchstbeträgen beteiligt sind, die zusammen den Betrag der Forderung der Klägerin ausmachen; er ist ein einheitliches Rechtsgeschäft und kann nur einheitlich verstanden werden. Die Klägerin wie die sämtlichen am Vertrage beteiligten Bürgen hatten den Vertragswillen, daß die ersten als Gläubigerin der Darlehnsforderung an W. von 50.000 M wegen seiner ganzen Forderung durch die Bürgen Befriedigung erlangen sollte, wenn das Auseinandersetzungsguthaben des Schuldners bei der Firma W. & L. versagte. Diese Befriedigung erlangte die Klägerin sowohl, wenn für alle Bürgen die Bestimmung im § 4 des Vertrags den von den Bürgen zu 4 und 5 vertretenen und, wie jetzt unbestritten, mit der objektiv richtigen Auslegung des Vertragwillens aus der Vertragsurkunde übereinstimmenden Inhalt hatte, als wenn die Bestimmung für alle den Sinn haben sollte, den die Beklagte nach Maßgabe des früheren Entwurfes fälschlicherweise damit verband. Die Klägerin würde aber eine volle Deckung durch die Bürgschaften nicht finden können, wenn die Bürgschaftsverpflichtung von den Bürgen unter 1 bis 3 im Sinne des früheren Entwurfes eingegangen wäre (mithin diese Bürgen erst in Anspruch genommen werden konnten, wenn die Bürgschaften der Bürgen unter 4 und 5 den Ausfall nicht deckten), dagegen von den Bürgen unter 4 und 5 in dem Wortlaute des Vertrags und ihrem unstreitigen Willen entsprechenden Sinne, daß der Ausfall von allen Bürgen im Verhältnis ihrer Bürgschaftshöchstbeträge getragen werde und nur im Falle einer Teilbefriedigung der Klägerin durch Zahlungen des Schuldners oder aus anderen Quellen die Bürgen zu 1 bis 3 vor ihnen bevorzugt seien, diese Teilleistungen zunächst ihnen allein zugute gebracht werden und den Umfang ihrer Bürgschaftsverpflichtungen verringern sollten. Eine solche Regelung war von keiner der Vertragsparteien, auch nicht von der Klägerin und den Bürgen unter 1 bis 3. gewollt. Der wirtschaftliche Zweck des Bürgschaftsvertrags war die volle Ersatzbefriedigung der Gläubigerin durch die Bürgen im Falle des Versagens des verpfändeten Auseinandersetzungsguthabens; aus diesem einheitlich gewollten wirtschaftlichen Zwecke heraus muß der Vertrag verstanden werden. Er kann deshalb für alle Bürgen nur einen einheitlichen Inhalt haben. Von den beiden Auffassungen, deren eine die Bürgen unter 4 und 5 im Vorprozesse verfochten haben, und deren andere die Beklagte im gegenwärtigen Rechtsstreite vertritt, kann nur eine für den Vertrag Geltung haben, niemals beide gleichzeitig nebeneinander. Erklärt aber ist im Antrag einheitlich von allen Beteiligten der Wille, daß alle fünf Bürgen den Ausfall der Klägerin aus dem Auseinandersetzungsguthaben im Verhältnis ihrer Bürgschaftshöchstsumme in gleicher Weise zu tragen haben. Wie die Klägerin sich im Vorprozesse die Einrede gefallen lassen mußte, daß sie die Erklärung so gelten lassen müsse, wie sie natürlicherweise von jedem aufzufassen, wie jeder verständige Geschäftsmann sie zu verstehen berechtigt sei (RGZ. Bd. 68 S. 128), so muß auch jetzt die Beklagte dieselbe Entgegnung von der Klägerin sich entgegensetzen lassen. Der bestimmt und unzweideutig in die Erscheinung getretene Wille bestimmt den Inhalt des Vertrags und ist für alle Beteiligten maßgebend mit der einen Ausnahme, daß alle Beteiligten über einen anderen Sinn einig gewesen wären.

Der von der Revision beanstandete Satz des Berufungsurteils, daß ein anderes Ergebnis nur dann anzunehmen sein würde, wenn zwischen den Parteien des gegenwärtigen Prozesses vor oder nach Abschluß des Vertrags ein besonderes Abkommen getroffen sein sollte, wonach das in dem Vertrag Erklärte zwischen ihnen ohne Bedeutung und das in dem ursprünglichem Vertragsentwürfe Vorgesehene maßgebend sein sollte, ist hiernach für richtig zu erachten. In diesem Falle würde kein einheitlicher Bürgschaftsvertrag mehr vorliegen; es wären vielmehr zwei verschiedene Bürgschaftsverträge geschlossen mit verschiedenem Inhalte. Eine solche Sonderabmachung besteht aber nicht; es liegt nur der Tatbestand vor, daß ein von dem wirklich geschlossenen Vertrag abweichender Vertragsentwurf vorhanden war und daß die Beklagte und nach der Unterstellung des Berufungsgerichts auch die Klägerin, ohne den Vertrag auf seine Übereinstimmung mit dem früheren Entwürfe zu prüfen, der Meinung waren, es sei darin dasselbe ausgedrückt, was der frühere Entwurf vorgesehen hatte. Alle Beteiligten haben aber den Vertrag, wie er vorliegt, unterzeichnet und dadurch als ihre Willenserklärung festgelegt. Jener unterstellte Tatbestand, daß die Beklagte nur eine Bürgschaftsverpflichtung in dem beschränkten Umfange des früheren Entwurfes eingehen wollte und die Klägerin diesen Willen erkannte, würde, wenn es sich um einen nur zwischen diesen Personen abgeschlossenen Vertrag handelte, den von dem darin erklärten Willen abweichenden Inhalt der Bürgschaftsverpflichtung als den wahren Inhalt des Vertrags erscheinen lassen können. Gegenüber dem in dem einheitlichen Vertrage von fünf Bürgen und der Klägerin erklärten Vertragswillen, an den alle einheitlich gebunden sind, ist er bedeutungslos. Nur eine Anfechtung des Vertrags seitens der Beklagten wegen Irrtums über den Inhalt der Willenserklärung, die gerade auf den inneren Willen im Gegensatze zu dem erklärten sich stützt, wäre möglich gewesen. Diese hat die Beklagte im ersten Rechtszuge versucht; sie ist darauf aber später nicht zurückgekommen. Das Gericht erster Instanz hatte sie einmal auf Grund der Aussage des Dr. D. im Vorprozeß als unbegründet, außerdem aber auch nach Maßgabe des § 121 BGB. als verspätet zurückgewiesen." ...