RG, 05.06.1917 - VII 52/17
Kann auf die Mitteilung eines ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteils von den Parteien wirksam verzichtet werden?
Von wem hat die Mitteilung auszugehen?
Aus den Gründen
... "Zutreffend bezeichnet die Revision die Auffassung des Oberlandesgerichts als rechtsirrig, daß die Unterlassung der schriftlichen Mitteilung eines nach § 23 der Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 9. September 1915 ergangenen Urteils an die Parteien ein Mangel sei, auf dessen Rüge von ihnen nach § 295 Abs. 1 ZPO. gültig verzichtet werden könne. Mit der Bestimmung "die Verkündung der Entscheidung wird durch schriftliche Mitteilung ersetzt" (§ 23 Abs. 1 Satz 2 a. a. O.) bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, daß die letztere dieselbe rechtliche Bedeutung habe und dieselben rechtlichen Wirkungen äußere wie die Verkündung. Vor ihr bildet das gefundene Urteil lediglich eine innere Angelegenheit des Gerichts, darf es den Parteien in keiner Form - auch nicht auszugsweise - zugänglich gemacht werden, ist es, wenn es doch geschieht, unfähig, eine Rechtsmittelfrist in Lauf zu setzen (§§ 310, 311, 317 Abs. 2, 160 Abs. 2 Nr. 6 ZPO.). Erst mit der Verkündung beginnt sein selbständiges rechtliches Dasein, tritt es als eine mit staatlichen Machtmitteln erzwingbare, für die Richter, die es erlassen haben, unabänderliche Entscheidung in die Außenwelt (§ 318 ZPO.). Auch für den Antrag auf Berichtigung des Tatbestandes ist die Verkündung wesentlich. Er ist unzulässig, wenn er nicht binnen drei Monaten nach der Verkündung gestellt wird (§ 25 der Bekanntm. vom 9. September 1915). Aus alledem folgt, daß die dem Berufungsgerichte durch § 535 ZPO. auferlegte Prüfungspflicht sich auch darauf erstreckt, ob das Urteil formgerecht verkündet ist, und daß die danach von Amts wegen zu berücksichtigenden Mängel der Verkündung zu denjenigen gehören, welche nach § 295 Abs. 2 ZPO. durch eine ausdrückliche oder stillschweigende Erklärung der Parteien, sie ungerügt zu lassen, nicht geheilt werden können (vgl. RGZ. Bd. 16 S. 331, Bd. 17 S. 420, Jur. Wochenschr. 1905 S. 115 Nr. 16, Urt. des RGs. vom 11. März 1915. Rep. VI. 587/1914).
Obschon nach dem Gesagten das gleiche von der schriftlichen Mitteilung des Urteils im Sinne der Bekanntmachung vom 9. September 1915 gilt, kann der an sich berechtigte Revisionsangriff doch nicht zu einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung führen, weil der Ausgangspunkt des Oberlandesgerichts, eine amtliche schriftliche Mitteilung sei nicht erfolgt, unzutreffend ist und auf einer unrichtigen oder unvollständigen Würdigung prozessualer Vorgänge beruht ... (Es wird ausgeführt, daß eine schriftliche Mitteilung des Urteils an die Prozeßbevollmächtigten durch die Gerichtsschreiberei erfolgt ist. Dann wird fortgefahren:) Es fragt sich daher nur, ob durch die Mitteilung seitens des Gerichtsschreibers der Vorschrift des § 23 a. a. O. genügt ist. Das ist zu bejahen. Bei der Bekanntgabe nicht verkündeter Urteile kann eine Mitwirkung des Gerichts oder des Gerichtsvorsitzenden nicht in größerem Umfange verlangt werden, als sie die Zivilprozeßordnung für nicht verkündete Beschlüsse und Verfügungen vorschreibt. Danach genügt der Vorsitzende seiner Pflicht, wenn er die ordnungsmäßig unterschriebenen Beschlüsse oder Urteile zu den Akten und mit ihnen zur Gerichtsschreiberei gelangen läßt. Damit gibt er zu erkennen, daß die Entscheidungen mitteilungsreif sind, und gibt er zugleich die Anweisung, daß sie mitzuteilen seien. Die Mitteilung selbst erfolgt durch den Gerichtsschreiber, und zwar bei nicht verkündeten Beschlüssen durch Zustellung (§§ 329 Abs. 3, 209 ZPO.), dagegen bei nicht verkündeten Urteilen, deren Zustellung zum Zwecke der Eröffnung einer Rechtsmittelfrist oder zur Herbeiführung der Rechtskraft auf Betreiben der Parteien zu geschehen hat (§ 317 Abs. 1 ZPO.), durch einfache Benachrichtigung der Prozeßbevollmächtigten, welche, abgesehen von dem Erfordernis der Schriftlichkeit, an besondere Förmlichkeiten nicht gebunden ist. Das Oberlandesgericht hat daher mit Recht die Berufung für zulässig erklärt." ...