RG, 01.03.1917 - IV 322/16
Ist über die Berufung des dem beklagten Staatsanwalt gemäß § 666 Abs. 3 ZPO beitretenden Antragstellers bei dessen Ausbleiben durch Versäumnisurteil oder durch streitiges Endurteil zu entscheiden, wenn der Staatsanwalt zur Sache verhandelt und die Zurückweisung der Berufung beantragt?
Tatbestand
Der Kläger ist auf den Antrag seiner Schwester, Frau G., wegen Geisteskrankheit entmündigt worden. Er hat diesen Beschluß mittels der gegen den Staatsanwalt erhobenen Klage angefochten. Frau G. trat dem Staatsanwalt mit dem Antrag auf Klagabweisung bei. Das Landgericht erkannte auf Aufrechterhaltung des angefochtenen Beschlusses mit der Maßgabe, daß die Entmündigung des Klägers wegen Geistesschwäche erfolgt. Frau G. legte Berufung ein und beantragte gänzliche Abweisung der Klage. Die Staatsanwaltschaft nahm an dem Verfahren teil. In dem Verhandlungstermine vom 29. Juni 1916 entfernten sich die Prozeßbevollmächtigten der Frau G. nach Ablehnung eines Vertagungsantrags, ohne sachliche Anträge zu stellen. Der Kläger und der Vertreter der Staatsanwaltschaft verhandelten sodann zur Sache, wobei der Staatsanwalt die gesamten Behauptungen, die von Frau G. zur Begründung ihrer Berufung vorgebracht waren, vortrug und sich zu eigen machte, sie aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht für geeignet erklärte, eine Abänderung des erstinstanzlichen Urteils zu rechtfertigen, und deshalb die Zurückweisung der Berufung beantragte. Der Kläger erbat gleichfalls die Zurückweisung der Berufung und zwar, in erster Linie durch kontradiktorisches Urteil, in zweiter Linie durch Versäumnisurteil. Das Kammergericht wies die Berufung unter Würdigung des gesamten Prozeßstoffs als sachlich unbegründet zurück. Frau G. legte sowohl Einspruch als auch Revision ein. Sie vertrat den Standpunkt, daß gegen sie nur ein Versäumnisurteil habe erlassen werden dürfen.
Die Revision wurde als sachlich unbegründet zurückgewiesen.
Aus den Gründen
"Die Zulässigkeit der Revision unterliegt keinem Bedenken. Die Begründung des Berufungsurteils ergibt, daß das Kammergericht die Frau G. im Termine vom 29. Juni 1916 als durch den zur Sache verhandelnden Oberstaatsanwalt gemäß § 62 ZPO. vertreten angesehen, die Voraussetzungen für den Erlaß eines Versäumnisurteils als nicht gegeben erachtet und demgemäß ein streitiges Endurteil hat erlassen wollen. Wäre diese Absicht des Berufungsgerichts für die dem Urteile beizumessende Bedeutung maßgebend, so würde sich daraus ohne weiteres ergeben, daß das Berufungsurteil vom 29. Juni 1916 nicht dem Einspruch unterliegt, sondern mit der Revision angefochten werden kann. Das Reichsgericht hat aber bereits mehrfach ausgesprochen, daß ein Urteil, das seinem Inhalte nach den Ausschluß einer Partei mit neuem Vorbringen als Säumnisfolge ergibt, auch dann ein Versäumnisurteil sei, wenn die Absicht des Gerichts nicht auf den Erlaß eines Versäumnisurteils gerichtet gewesen ist (RGZ. Bd. 28 S. 393; 35 S. 345; 50 S. 387; Jur. Wochenschr. 1916 S. 751 Nr. 17; Warneyer 1916 Nr. 259). Auch die von diesem Standpunkt aus gebotene Nachprüfung des Berufungsurteils führt zu dem Ergebnis, daß es kein Versäumnisurteil ist.
Frau G. ist zufolge ihrer Ladung zu dem auf die Klage anberaumten Verhandlungstermine dem in der Parteirolle des Beklagten befindlichen Staatsanwalt beigetreten, sie gilt daher gemäß § 666 Abs. 3 ZPO. im Sinne des § 62 als Streitgenosse des Beklagten. Daraus ergibt sich, daß Frau G., wenn sie auch nicht selbst Partei geworden, sondern Nebenintervenient geblieben ist, nicht den im § 67 ZPO. bezeichneten Beschränkungen unterliegt, vielmehr für den Prozeßbetrieb einem Streitgenossen gleichsteht und Prozeßhandlungen auch im Widerspruche mit denen der Hauptpartei wirksam vornehmen kann (RGZ. Bd. 34 S. 363; 42 S. 392), daß ferner auch im Verhältnis zwischen ihr und dem Staatsanwalt die Vorschrift des § 62 gilt, nach der bei Versäumung eines Termins oder einer Frist durch einen Streitgenossen der Säumige als durch den Nichtsäumigen vertreten angesehen wird und in dem späteren Verfahren zuzuziehen ist. An dieser Rechtsstellung der Frau G. im Prozeß ist auch in der Berufungsinstanz keine Änderung eingetreten. Die Berufung, die von ihr eingelegt ist, nachdem das erstinstanzliche Urteil sowohl ihr selbst als auch dem Staatsanwalt zugestellt war, war dem Staatsanwalt gegenüber dergestalt wirksam, daß er für die Berufungsinstanz Partei blieb, obwohl er selbst keine Berufung eingelegt hatte, und daß er auch zu dem Verfahren in der Berufungsinstanz zuzuziehen war (Urteil vom 20. März 1906, III. 350/05; 10. Januar 1907, IV. 238/06). Der Staatsanwalt ist auch dadurch, daß er den Antrag stellte, die Berufung zurückzuweisen, nicht Gegner der Frau G. und Streitgenosse des Klägers geworden. Das Gesetz weist dem Staatsanwalt, sofern er nicht selbst als Kläger auftritt, in dem Verfahren auf Anfechtung des Entmündigungsbeschlusses die Rolle des Beklagten zu (§ 666 Abs. 1 ZPO.); er ist daher mit Notwendigkeit auch Beklagter, wenn er der Anfechtungsklage des Entmündigten zustimmt und sich dem Antrage des Klägers anschließt (RGZ. Bd. 13 S. 432). Dem Antragsteller, der das Entmündigungsverfahren veranlaßt hat, versagt dagegen das Gesetz im Anfechtungsprozeß eine selbständige Parteirolle, es gestattet ihm nur den Beitritt zu einer der beiden Hauptparteien mit der Wirkung, daß er als notwendiger Streitgenosse derjenigen Hauptpartei gilt, der er beigetreten ist. Der Antragsteller, der die Anfechtungsklage bekämpft, wird daher auch dann als Streitgenosse des Staatsanwalts im Sinne des § 62 ZPO. behandelt, wenn der Staatsanwalt den Klagantrag unterstützt. Die Prozeßlage ist in diesem Falle die gleiche, wie wenn von zwei notwendigen Streitgenossen einander widersprechende Anträge gestellt werden, d. h. keiner der Streitgenossen kann grundsätzlich durch seine Prozeßhandlungen diejenigen des andern verhindern oder vereiteln. Demgemäß vermag der Staatsanwalt durch seinen Antrag auf Zurückweisung der Berufung des Antragstellers die Durchführung der Berufung nicht zu verhindern, es muß vielmehr von dem Gericht auf Grund der gesamten Sach- und Rechtslage über die Berufung in gleicher Weise entschieden werden, als wenn sich der Staatsanwalt der Berufung angeschlossen hätte. Aber auch in diesen Fällen gilt die Vorschrift des § 62 ZPO., daß bei der Versäumung eines Termins der säumige Streitgenosse durch den nichtsäumigen als vertreten anzusehen ist.
Die Ansicht der Revision, daß diese Vorschrift nur dann zur Anwendung kommen dürfe, wenn der säumige und der nichtsäumige Streitgenosse eine sich deckende Haltung im Prozeß einnähmen, findet im Gesetze keine Stütze. Der Vertretungsgrundsatz ist im § 62 für alle dort behandelten Fälle der notwendigen Streitgenossenschaft ohne jede Einschränkung aufgestellt und muß, da für die notwendigen Streitgenossen kein gesetzlicher Zwang zu gemeinsamem Handeln besteht, auch bei ihrem widerstreitenden Verhalten im Prozeß Anwendung finden. Die Vorschrift des § 62 ZPO. bezweckt, für einer einheitlichen Entscheidung bedürfende Prozesse den Erlaß widersprechender Entscheidungen zu verhüten. Das hätte sich allerdings schon durch das Verbot eines Versäumnisurteils gegen den säumigen Streitgenossen erreichen lassen, aber dadurch wäre diesem die Möglichkeit eröffnet worden, durch fortgesetzte Säumnis die Entscheidung erheblich zu verzögern oder überhaupt zu vereiteln. Um dieser Gefahr im Interesse sowohl des Gegners als auch des nichtsäumigen Streitgenossen zu begegnen, wurde bestimmt, daß der säumige als durch den nichtsäumigen Streitgenossen vertreten anzusehen sei. Wenn dabei auch in erster Linie die Erwägung bestimmend gewesen sein mag, daß im Regelfalle die Interessen der Streitgenossen gleichlaufende sein und die nichtsäumigen Streitgenossen daher auch die Interessen der säumigen genügend wahren würden, so ließ sich doch der erstrebte Zweck, ungeachtet der Säumnis einzelner Streitgenossen sofort eine einheitliche und endgültige Entscheidung zu ermöglichen, nur durch Aufstellung eines für alle Fälle gleichmäßig geltenden Grundsatzes erreichen. Da es sich bei der Vorschrift des § 62 nicht nur um den Schutz der säumigen Streitgenossen, sondern wesentlich auch um die Wahrung der Interessen der übrigen Prozeßbeteiligten handelt, würde die von der Revision vertretene einschränkende Auslegung nicht als dem Willen des Gesetzes entsprechend anzusehen sein. Denn die Gefahr einer mutwilligen Verzögerung des Rechtsstreits durch die Versäumnis der Termine durch einzelne Streitgenossen, der durch § 62 vorgebeugt werden soll, besteht besonders in den Fällen, in denen zwischen den Streitgenossen Uneinigkeit über das Verhalten im Prozesse herrscht. Gerade für diese Fälle lag also Grund zu einer gesetzlichen Maßnahme vor, die die Möglichkeit einer alsbaldigen einheitlichen und endgültigen Entscheidung gewährleistet, und deshalb läßt sich nicht annehmen, daß diese Fälle von der Vorschrift des § 62 trotz des allgemein gehaltenen Wortlauts nicht haben getroffen werden sollen. Es kann aber ferner auch nicht darauf ankommen, ob der nichtsäumige Streitgenosse den Willen hat, den säumigen zu vertreten und dessen Rechtsstandpunkt zu wahren. Das Gesetz knüpft die im § 62 bestimmte Wirksamkeit der Prozeßhandlungen des nichtsäumigen Streitgenossen für und gegen den säumigen nicht an die Voraussetzung, daß sie von dem Handelnden mit dem Vertretungswillen vorgenommen sind, es schreibt vielmehr schlechthin vor, daß diese Handlungen zugleich als in Vertretung des säumigen Streitgenossen geschehen zu behandeln sind, und stellt damit eine Fiktion dahin auf, daß der säumige Streitgenosse durch den nichtsäumigen vertreten werde. Bei der notwendigen Streitgenossenschaft muß daher jeder Streitgenosse, der aus der Art der Prozeßführung des andern Nachteile für sich befürchtet und diese vermeiden will, seine Interessen wahrnehmen. Versäumt er eine Frist oder einen Termin, so muß er die ihm aus der Prozeßführung des andern entstehenden Nachteile als gesetzliche Folgen seiner Säumnis auf sich nehmen. Im vorliegenden Falle hat aber der Oberstaatsanwalt tatsächlich die Interessen der Frau G. vertreten. Denn er hat nach der Feststellung des Berufungsurteils den gesamten Prozeßstoff, insbesondere das Beweisergebnis und alle bisher von der Streitgenossin aufgestellten tatsächlichen Anführungen vorgetragen und sich zu eigen gemacht. Daß er den Sachverhalt anders gewürdigt und zur Rechtfertigung der Berufung nicht als ausreichend bezeichnet hat, kommt nicht in Betracht. Denn die Schlußfolgerungen, welche aus dem vorgetragenen Sachverhalt zu ziehen waren, unterlagen der Nachprüfung des Gerichts, das in dieser Hinsicht an die Beurteilung des Oberstaatsanwalts nicht gebunden war. Auch der Umstand, daß der Oberstaatsanwalt die Zurückweisung der Berufung beantragt hatte, bildete kein prozessuales Hindernis, daß der Berufung hätte stattgegeben werden können. Zum Vortrage des Sachverhalts gehörte nach Lage der Sache die Mitteilung der Tatsache, daß die Streitgenossin Berufung eingelegt, und des Antrags, den sie in der Berufungsinstanz gestellt hatte. Damit war den prozessualen Voraussetzungen für den Erlaß eines der Berufung stattgebenden Urteils genügt. Eine Zurücknahme der Berufung oder des Berufungsantrags der Frau G. konnte den Umständen nach in dem Antrage des Oberstaatsanwalt S auf Zurückweisung der Berufung nicht gefunden werden. Es braucht deshalb nicht erörtert zu werden, ob der Oberstaatsanwalt zu einer wirksamen Zurücknahme des Rechtsmittels überhaupt in der Lage gewesen wäre.
Hiernach hat das Berufungsgericht ohne Rechtsirrtum angenommen, daß Frau G. im Termine vom 29. Juni 1916 gemäß § 62 ZPO. als durch den Oberstaatsanwalt vertreten anzusehen und demgemäß der Erlaß eines Versäumnisurteils gegen sie unzulässig war, vielmehr unter Würdigung des gesamten Prozeßstoffs eine sachliche Endentscheidung erlassen werden mußte. Das Urteil vom 29. Juni 1916 ist hiernach kein Versäumnisurteil und unterliegt nicht dem Einspruche, sondern der Anfechtung im Wege der Revision." ...