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RG, 21.01.1889 - VI 269/88

Daten
Fall: 
Unterhalt nach vermuteter Lebensdauer des Getöteten
Fundstellen: 
RGZ 23, 217
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
21.01.1889
Aktenzeichen: 
VI 269/88
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Oels
  • OLG Breslau

Ist der nach §§. 99 flg. A.L.R. I. 6 wegen verschuldeter Tötung eines Menschen den Hinterbliebenen desselben zu gewährende Unterhalt nach der sonst zu vermuten gewesenen Lebensdauer des Getöteten zu bemessen?

Tatbestand

Wie thatsächlich festgestellt ist, war der Tod des Ehemannes der Klägerin von dem Beklagten schuldhafter Weise dadurch verursacht, daß er in schneller Gangart über eine Brücke, mit deren Ausbesserung jener damals beschäftigt war, gefahren war. Das Oberlandesgericht hatte in dieser Handlungsweise des Beklagten mindestens ein mäßiges Versehen gefunden und hatte dabei unentschieden lassen können, ob sogar ein grobes Versehen darin liege, bezw. ob damit im Sinne des §. 26 A.L.R. I. 6 gegen ein auf Schadensverhütungen abzielendes Polizeigesetz verstoßen sei, weil der Schadensersatz nur nach Maßgabe der Bestimmungen über mäßiges Versehen gefordert war und zugesprochen wurde. Dabei wurden dem Beklagten monatliche Alimentenzahlungen an die Klägerin für deren Lebenszeit auferlegt, obgleich der Beklagte unter Beweis gestellt hatte, daß der Ehemann der Klägerin auch ohne den fraglichen Unfall voraussichtlich nicht viel länger gelebt haben würde. Insoweit wurde auf Revision des Beklagten das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen, aus folgenden Gründen.

Gründe

... "Als begründet erschien die Rüge des Beklagten, daß bei der Festsetzung der von ihm der Klägerin zu leistenden Alimentenzahlungen die vermutliche Lebensdauer, welche ohne den Unfall ihrem verstorbenen Ehemanne zuzuschreiben gewesen sein würde, als unerheblich behandelt und ohne weiteres der Klägerin die monatlichen Unterhaltsgelder auf ihre Lebenszeit zugesprochen seien. Die §§. 99-109 A.L.R. I. 6 lassen nach ihrer Wortfassung zunächst dem Zweifel Raum, ob die daselbst demjenigen, welcher aus Vorsatz oder aus grobem oder aus mäßigem Versehen den Tod eines Menschen verursacht hat, zu Gunsten der Hinterbliebenen desselben auferlegten Leistungen durchaus nur insoweit geschuldet werden sollen, als durch die vorzeitige Herbeiführung jenes Todes die Hinterbliebenen der entsprechenden Leistungen von seiten des Verstorbenen wirklich verlustig gegangen sind, oder ob den Hinterbliebenen jene Ansprüche, abgesehen von besonderen Aufhebungsgründen (wie z. B., was die Witwe betrifft, deren Wiederverheiratung), schlechtweg für ihre Lebensdauer, bezw. bis zu den sonstigen in jenen Gesetzesbestimmungen angegebenen Endpunkten (Volljährigkeit der Kinder etc), insbesondere ohne Rücksicht auf die sonst anzunehmen gewesene Lebensdauer des Entleibten zustehen sollen. In der älteren preußischen Praxis scheint diese Frage wenig zur Sprache gekommen zu sein. In neuerer Zeit ist von Förster-Eccius (Preuß. Privatrecht Bd. 2 [5. Aufl.] §. 151 Anm. 10, S. 479) die Ansicht vertreten, daß es auf die sonst zu vermuten gewesene Lebensdauer des Getöteten nicht ankomme; auch in den Motiven zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich (Bd. 2 S. 786) scheint diese Auffassung für die dem preußischen Allgem. Landrechte wirklich entsprechende erklärt zu werden. Dagegen vertreten Dernburg (Preuß. Privatrecht Bd. 2 [3. Aufl.] §. 297 S. 859) und Rehbein (Entsch. des vormaligen Obertribunales Bd. 1 S. 604 flg. Anm.) die entgegengesetzte Ansicht. Für die letztere hat der Beklagte sich auch auf die Analogie der das Reichshaftpflichtgesetz betreffenden Rechtsprechung berufen, wie sie sich z.B. in den Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichtes (Bd. 14 S. 410 flg. und in den Entscheidungen des Reichsgerichtes in Civilsachen (Bd. 5 S. 109 flg. und Bd. 7 S. 50 flg.) darstellt. Diese Analogie kann freilich nicht unbedingt maßgebend sein. Denn während der §. 3 Nr. 1 des Haftpflichtgesetzes von vornherein dem Alimentationsberechtigten nur soweit einen Ersatzanspruch beilegt, "als ihm infolge des Todesfalles der Unterhalt entzogen worden ist," heben die §§. 99 flg. A.L.R. I. 6 bei ihren Vorschriften über die von dem Schuldigen den Hinterbliebenen des Entleibten zu machenden Leistungen nicht so deutlich den Grundsatz als maßgebend hervor, daß gerade nur Ersatz für dasjenige gewährt werden solle, was den Hinterbliebenen durch den fraglichen Todesfall an materiellen Leistungen von seiten des Familienhauptes entgehe. Andererseits ist es zu weit gegangen, wenn das Berufungsgericht nach dem Vorgange von Förster-Eccius a. a. O. für die entgegengesetzte Ansicht entscheidendes Gewicht auf den Umstand legt, daß nach §. 108 A.L.R. I. 6 die Pflichten des Beschädigers nur unter den gleichen Voraussetzungen aufhören sollen, unter welchen der Entleibte selbst, wenn er noch lebte, davon frei werden würde. (Ähnlich auch in §. 101 daselbst.- "wenn er noch am Leben wäre".) Denn nicht nur läge hier für die Anwendung des argumentum a contrario doch nicht gerade eine zwingende Notwendigkeit vor, sondern es liehen sich sogar die Worte: "wenn er noch lebte," allenfalls auch auf den Zeitpunkt des hypothetisch erst später erfolgenden Todes des in Wirklichkeit schon früher Getöteten mitbeziehen. Immerhin läßt sich nicht leugnen, daß bei streng wörtlicher Auslegung die §§. 99-109 in ihrem Zusammenhange eher dahin führen würden, auf die sonst anzunehmen gewesene mutmaßliche Lebensdauer des Getöteten keine Rücksicht zu nehmen; insbesondere bestimmt allerdings der §. 106 den Worten nach sogar positiv uneingeschränkt, daß der eines mäßigen Versehens schuldige Beschädiger solche Kinder des Entleibten, welche wegen körperlicher oder Geistesschwäche auch nach erlangter Volljährigkeit sich selbst ihren Unterhalt zu erwerben nicht imstande seien, "bis zu ihrem Tode oder ihrer Wiederherstellung" verpflegen müsse. Es war aber nichtsdestoweniger der Auffassung der Vorzug zu geben, wonach die §§. 99-109 doch nur unter der durch die Rücksicht auf die voraussetzlich sonst anzunehmen gewesene Lebensdauer des Getöteten gegebenen Einschränkung zur Anwendung zu gelangen haben. Denn grundlos ist jedenfalls die Annahme des Berufungsgerichtes, daß die hier in Betracht kommenden landrechtlichen Bestimmungen nicht als bloße Schadensersatznormen, sondern zugleich als Strafvorschriften gedacht seien; ganz abgesehen davon, daß dann die Frage entstehen würde, ob sie, insoweit sie letzteres sein sollten, nicht durch den §. 2 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum deutschen Strafgesetzbuche beseitigt seien,1 da die fahrlässige, wie die vorsätzliche Tötung zu den im Strafgesetzbuche geregelten Materien gehört. Daß die §§. 98 flg. A.L.R. I. 6 nur das Maß des im Falle verschuldeter Tötungen zu ersetzenden Schadens im einzelnen näher bestimmen wollen, geht aus dem ganzen Zusammenhange des angeführten sechsten Titels deutlich hervor, welche als einzige Rechtsfolge unerlaubter Handlungen die Verpflichtung zum Schadensersatze erwähnt und, nachdem er in den §§. 10-81 die allgemeinen Grundsätze über diese Ersatzleistung aufgestellt hat, von §. 82 an dazu übergeht, einzelne Kategorien von hierher gehörigen Fällen noch näher zu regeln. Daher sind, wie schon das vormalige preußische Obertribunal ausgeführt hat,2 die allgemeinen Grundsätze vom Schadensersatze soweit möglich vorkommenden Falles neben diesen letzteren Vorschriften zur Anwendung zu bringen. Darauf beutet auch die in den §§. 98 flg. wiederholt vorkommende Bezeichnung des Thäters als des "Beschädigers" hin. Hieraus ergießt sich also, daß im Sinne der fraglichen Gesetzesbestimmungen die Verbindlichkeit des an dem vorzeitigen Tode Schuldigen zum Unterhalte der Hinterbliebenen des Getöteten nicht länger dauern kann, als dieser anderen Falles voraussichtlich noch gelebt haben würde; umsomehr als die hierher gehörigen Einzelbestimmungen in anderen Beziehungen ausdrücklich das Maß des vom Getöteten selbst zu leisten Gewesenen als Begrenzung setzen: so die §§. 99.101, 102. 104. 105. 108. Gegen dieses aus dem Zusammenhange des Gesetzes selbst zu ziehende Ergebnis würde auch eine aus den Vorarbeiten etwa nachweisbare abweichende Absicht der Verfasser desselben nicht wesentlich ins Gewicht fallen; für eine solche liegen aber auch keine Anhaltspunkte vor. Aus den Mitteilungen bei Bornemann (Preu0. Civilrecht Bd. 2 §. 132 S. 201 flg. und in der "Gesetzrevision" zum Allgem. Landrechte Tl. I. Tit. 3. 4. 5. 6 S. 191 flg.) geht vielmehr hervor, daß man von Anfang an davon ausging, über die sonst zu vermutende Lebensdauer des Getöteten hinaus solle keine Verbindlichkeit des Thäters zur Unterhaltsgewährung festgesetzt werden, und daß man nur darüber verschiedener Meinung war, wie jene vermutliche Lebensdauer gesetzlich bestimmt werden solle; aus der schließlichen Redaktion des Landrechtes ist dann freilich jede ausdrückliche Bestimmung solchen Inhaltes fortgelassen, jedoch ohne daß man über den Grund etwas erführe. Übrigens findet sich von seiten Suarez' die allgemeine Absicht ausgesprochen, sich in dieser Materie an das gemeine Recht anzuschließen, und in der Praxis des letzteren wurde - was auch an sich schon in Zweifelsfalle einigermaßen ins Gewicht fallen würde - die Dauer der fraglichen Unterhaltsgewährung nach der sonst anzunehmen gewesenen Lebensdauer des Getöteten bemessen.3

Ob nach preußischem Landrechte unter besonderen Umständen (wenn etwa nach Lage der Sache anzunehmen wäre, daß der Entleibte, falls er das natürliche Ziel seines Lebens erreicht hätte, seiner Familie ein größeres Kapital zur weiteren Bestreitung des Unterhaltes hinterlassen haben würde) die Verpflichtung des Beschädigers zur Unterhaltsgewährung doch noch über diese zeitliche Grenze hinaus anzuerkennen sein möchte, bedarf hier keiner Entscheidung." ...

  • 1. vgl. Entsch. des R.G.'s in Civils. Bd. 11 S. 244 flg. und Bd. 18 S. 218 flg.
  • 2. vgl. Striethorst, Archiv Bd. 66 S. 310 flg.
  • 3. Vgl. die Zusammenstellung älterer gemeinrechtlicher Entscheidungen bei Gruchot, Beiträge Jahrg. 4 S. 166 flg.