RG, 05.07.1884 - V 29/84
Bedeutung des im §. 150 des preuß. Allgem. Berggesetzes vom 24. Juni 1865 gewählten Ausdruckes "bei Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit".
Aus den Gründen
"Der Berufungsrichter hat den Einwand des Beklagten, daß dem Kläger zur Zeit der Anlage des Brunnens die durch den Bergbau der Königsgrube drohende Gefahr bei Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit nicht habe unbekannt bleiben können, verworfen. Er nimmt an, daß im §. 150 Abs. 1 des Allgem. Berggesetzes vom 24. Juni 1865, lautend:
"Der Bergwerksbesitzer ist nicht zum Ersatze des Schadens verpflichtet, welcher an Gebäuden oder anderen Anlagen durch den Betrieb des Bergwerkes entsteht, wenn solche Anlagen zu einer Zeit errichtet worden sind, wo die denselben durch den Bergbau drohende Gefahr dem Grundbesitzer bei Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit nicht unbekannt bleiben konnte"
, mit den Worten "bei Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit" die Vermeidung eines groben Versehens (§. 18 A.L.R. I. 3) zur Pflicht gemacht sei, und daß sich der Kläger eines solchen nicht schuldig gemacht habe.
Der Beklagte führt aus, daß nach dem angeführten §. 150 Abs. 1 schon ein mäßiges Versehen des Grundeigentümers den Entschädigungsanspruch ausschließe. Dieser Ausführung kann nicht beigetreten werden. Bekanntlich ist bei der Redaktion des Allgem. Berggesetzes vom 24. Juni 1865 es als zweckmäßig erachtet worden, die Aufstellung abweichender Vorschriften vom Civilrechte "auf das Bergrecht im eigentlichen Sinne, also auf diejenigen Gegenstände zu beschränken, welche wegen der eigentümlichen Natur des Bergbaues und seiner besonderen Bedürfnisse eine von dem allgemeinen Rechte abweichende rechtliche Behandlung erheischen." Alles dasjenige, was mit den Eigentümlichkeiten des Bergbaues nichts gemein hat, sollte ausgeschieden und den betreffenden Gebieten der allgemeinen Gesetzgebung zugewiesen werden.1
In Übereinstimmung hiermit ist auch von der Ausnahmebestimmung im §. 116 b A.L.R. II. 16 Abstand genommen, durch welche angeordnet wird, daß derjenige, welcher eine neue Anlage macht, bei welcher die Ausdehnung eines umgehenden Bergbaues bis zu derselben "vernünftigerweise vorausgesehen werden konnte", ohne sich von dem Bergamte die Stelle, wo es ohne seine Gefahr geschehen kann, anweisen zu lassen, zu keiner Vergütung berechtigt sein soll. Die Motive halten diese Vorschrift für unpraktisch, dem Interesse des Bergbaues für widerstreitend, auch die in neueren deutschen Berggesetzen gegebenen Vorschriften für ungeeignet und sagen:
"Unter diesen Umständen verdient die ebenfalls von vielen Seiten vertretene und auch im französischen Bergrechte maßgebende Ansicht den Vorzug, wonach jede singuläre Ausnahmebestimmung von der bergrechtlich festgestellten Entschädigungspflicht des Bergbautreibenden gegenüber dem Grundbesitzer zu vermeiden und vielmehr auf die allgemeine Rechtsregel zurückzugehen ist, daß der Beschädigte, welchem ein eigenes grobes Versehen bei der Beschädigung zur Last fällt, keinen Schadensersatz beanspruchen kann, sofern nicht etwa auf seiten des Beschädigers ebenfalls grobes Versehen vorliegt (vgl. §. 20 A.L.R. I, 6).
Damit aber über die Anwendbarkeit dieses Grundsatzes dadurch kein Zweifel verursacht wird, daß das Berggesetz die Entschädigungspflicht des Bergbautreibenden im übrigen weiter ausdehnt, als das Civilrecht, erscheint es zweckmäßig, jene Rechtsregel, angewandt auf den Fall des Bergbaues, im Berggesetze selbst auszudrücken."2
Demgemäß ging der Vorschlag der Regierung dahin:
§. 150:
"Der Bergwerksbesitzer ist nicht zum Schadensersatze verpflichtet, wenn durch den Betrieb des Bergwerkes solche Gebäude oder andere Anlagen beschädigt werden, bei deren Errichtung dem Grundbesitzer die bereits durch den Bergbau drohende Gefahr nicht ohne eigenes grobes Versehen unbekannt bleiben konnte."
Die Absicht der Regierung - die civilrechtlichen Vorschriften als maßgebend einzuführen - fand in beiden Häusern des Landtages Zustimmung. In dem Berichte der Kommission des Herrenhauses, ist angenommen, daß der §. 159 a, a. O. denselben Grad von Aufmerksamkeit fordert, wie der §. 116 b A.L.R. I. 16. Insbesondere heißt es:
"Was vernünftigerweise vorausgesehen werden kann, dürfte mit dem, was ohne grobes Versehen nicht unbekannt bleiben kann, auf eins hinauslaufen."3
In der Kommission des Herrenhauses wurde von einer Seite behauptet, der §. 150 a. a. O. beschwere im Verhältnisse zum bisher geltenden Rechte den Bergwerksbesitzer. Von einer anderen Seite wurde eine größere Beeinträchtigung des Grundbesitzers befürchtet. Die diesfälligen Amendements wurden abgelehnt und schließlich sonst noch erhobenen Bedenken durch die Fassung des §. 150 a. a. O. erledigt, welche gegenwärtig Gesetz geworden ist. Es ist in keiner Weise erkennbar, daß mit den Worten des Gesetzes: "bei Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit nicht unbekannt bleiben konnte" eine Abänderung der Regierungsvorlage, wonach es auf ein grobes Versehen ankommen sollte, beabsichtigt worden ist. Weshalb eigentlich die Kommission des Herrenhauses diese Abänderung im Ausdrucke vorgenommen hat, ist aus dem Berichte nicht zu entnehmen. Vielleicht ist dies geschehen, weil das Allgem. Berggesetz für den ganzen Umfang der Monarchie bestimmt war, also auch für Geltungsbereiche des gemeinen und des rheinischen Rechtes, und weil man den mit der landrechtlichen dreigliedrigen Einteilung des Versehens zusammenhängenden Ausdruck: "grobes Versehen", der jenen Rechtsgebieten fremd ist, vermeiden wollte.
Das Abgeordnetenhaus hat den §. 150 a. a. O. in der vom Herrenhause vorgeschlagenen Fassung unverändert angenommen. In dem diesfälligen Kommissionsberichte ist bei Nr. 2 gesagt, daß das Prinzip, wonach der Grundbesitzer keine Entschädigung beanspruchen kann, wenn er selbst sich in einem groben Versehen befindet, Anerkennung finden müsse,4 und es heißt dann S. 80:
"Dem als richtig erkannten, vorstehend bei Nr. 2 hervorgehobenen Prinzip entsprechend, ist dann die Annahme der Alinea des §. 150 in der jetzt vorliegenden Fassung erfolgt. Der Unterschied von der ursprünglichen Fassung des Regierungsentwurfes beruht darin, daß anstatt der Worte des letzteren "nicht ohne eigenes grobes Versehen" die Worte "bei Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit" gesetzt sind. Beides ist sowohl nach dem Sprachgebrauche des gewöhnlichen Lebens als nach der landrechtlichen Definition des groben Versehens (Ein Versehen, welches bei gewöhnlichen Fähigkeiten ohne Anstrengung der Aufmerksamkeit vermieden werden konnte, heißt "ein, grobes Versehen", §. 18 A.L.R. I. 3) ziemlich dasselbe.
Der Berufungsrichter hat sich also keiner Rechtsverletzung schuldig gemacht, wenn er den Ausdruck in §. 150 a. a. O. "Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit" für gleichbedeutend mit "Vermeidung eines groben Versehens" hält, und wenn er die tatsächlichen Umstände von diesem Gesichtspunkte aus prüft. Der Beklagte beruft sich zwar für seine Annahme, daß schon ein mäßiges Versehen die Verhaftung ausschließt, auf die entsprechende Ausführung von Strohn in Brassert's Zeitschrift Bd. 7 S. 113, auf Daubenspeck, Die Haftpflicht des Bergwerksbesitzers " S. 47, und auf Dernburg, Lehrbuch des preuß. Privatrechtes 4. Aufl. Bd. 1 §. 271 S. 690 Note 12. Es hat sich aber bereits der V. Senat des Reichsgerichtes in den Erkenntnissen vom 24. Mai 1882 Nr. 245/81 und vom 21. Februar 1883 Nr. 54/82 in Übereinstimmung mit dem preußischen Obertribunale, mit Oppenhoff, Allgem. Berggesetz Nr. 851 mit Klostermann, Lehrbuch des preuß. Bergrechtes S. 326, und Klostermann, Allgem. Berggesetz Note 339 zu §. 150, für die gegenwärtig zur Geltung gebrachte Annahme entschieden."
- 1. Vgl. Motive zur Regierungsvorlage - Drucksachen des Herrenhauses, Sitzungsperiode 1865 Nr. 6 S. 11.
- 2. Vgl. Motive a. a. O. S. 88 zu 7 S. 89.
- 3. Vgl. Drucksachen des Herrenhauses, Sitzung 1865 Nr. 36 S. 54.
- 4. vgl. Drucksachen des Hauses der Abgeordneten II. Session 1865 Nr. 183 S. 79 zu § 150 Nr. 2,