RG, 01.07.1884 - III 93/84
Bedeutung der Vorschrift in §. 120 der Reichsgewerbeordnung. Wird die Schadensersatzpflicht des Fabrikbesitzers für die durch den Mangel der erforderlichen Schutzvorrichtungen entstandenen Unfälle dadurch beseitigt, daß der Fabrikinspektor bei der Revision der Maschinen den Mangel dieser Vorrichtung nicht gerügt hat?
Tatbestand
Der in der Papierfabrik des Beklagten als Arbeiter beschäftigte Kläger erlitt am 4. Januar 1881 bei der Bedienung der Lumpenschneidemaschine dadurch eine Verletzung der rechten Hand, daß er beim Einschieben der Lumpen in die Maschine mit der Hand in die Walzen und Messer geriet. Er verlangt von dem Beklagten Schadensersatz wegen der infolge dieser Verletzung eingetretenen Verminderung seiner Erwerbsfähigkeit, weil die Maschine eine veraltete Konstruktion gehabt habe, und namentlich weil verschiedene, zur Beseitigung der Gefahren für Leben und Gesundheit der Arbeiter notwendige und geeignete Schutzvorrichtungen gefehlt haben.
Das Landgericht verurteilte den Beklagten zum Schadensersatze. Es ging davon aus, daß zwar die Klage auf §. 120 R.G.O. nicht gestützt werden könne, da diese Bestimmungen lediglich präventiv-polizeilicher Natur seien, während für den hier in Frage stehenden privatrechtlichen Entschädigungsanspruch nur das gemeine Recht der lex Aquila maßgebend sei; es nahm aber an, daß die Voraussetzungen des letzteren Gesetzes im vorliegenden Falle gegeben seien.
Das Oberlandesgericht wies auf Berufung des Beklagten die Klage ab.
Auf Revision des Klägers wurde jedoch dieses Urteil aufgehoben und die Berufung des Beklagten verworfen, aus folgenden Gründen.
Gründe
"Die Annahme des Landgerichtes, daß die Vorschrift in §. 120 R.G.O., wonach der Gewerbeunternehmer verpflichtet ist, alle diejenigen Einrichtungen auf seine Kosten herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Fabrikstätte zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit notwendig sind, lediglich präventivpolizeilicher Natur sei und daß für den privatrechtlichen Entschädigungsanspruch des Klägers nur das gemeine Recht der lex Aquila maßgebend sei, kann nicht für zutreffend erachtet werden. Der §. 120 R.G.O. hat, wie dieses auch bereits vielfach vom Reichsgerichte erkannt worden (vgl. z. B. Urteil in Sachen Möhle zu Hannover w. Moldenhauer & Otto daselbst vom 16. Mai 1882; in Sachen C. A. Meyer zu Linden w. die Wollwäscherei und Kämmerei in Döhren vom 25. Januar 1884; auch Entsch. des R.G.'s in Civils. Bd. 5 S. 73, Bd. 8 S. 149), die dem Gewerbeunternehmer aus dem Dienstmietvertrage obliegenden Verpflichtungen, insoweit es sich um die zum Schutze der Arbeiter gegen die mit dem Gewerbebetriebe verbundenen Gefahren für Gesundheit und Leben handelt, gesetzlich normiert, und bildet die Nichtbefolgung dieser gesetzlichen Vorschrift einen privatrechtlichen Grund für den Anspruch auf Schadensersatz im Falle von Verletzungen, welche die Arbeiter infolge der Nichterfüllung dieser Verpflichtung des Gewerbeunternehmers erlitten haben. Der Berufungsrichter erkennt auch an, daß der gedachten Bestimmung in §. 120 R.G.O. nicht lediglich der Charakter einer präventiv-polizeilichen Vorschrift beigelegt werden könne, daß derselben vielmehr nach dem allgemein gehaltenen Wortlaute die Bedeutung zugesprochen werden müsse, daß sie dem Gewerbeunternehmer allgemein eine auf privatrechtlichem Gebiete wirksame Pflicht auferlegt habe, er nimmt aber mit dem Landgerichte an, daß die Klage auf §. 120 a. a. O. nicht gestützt werden könne, daß ein Entschädigungsanspruch des durch die Unterlassung der Vornahme möglicher Sicherungsmaßregeln verletzten Arbeiters unmittelbar aus §. 120 a. a. O. sich nicht herleiten lasse, sondern daß für die Beurteilung des vom Kläger erhobenen Anspruches die Grundsätze der lex Aquila maßgebend seien. Obgleich der Berufungsrichter dann als feststehend hinstellt, daß an der Maschine, an welcher der Kläger beschäftigt war, zur Zeit der Verletzung desselben die nach dem Gutachten der vernommenen Sachverständigen zur Abwendung von Gefahren geeigneten Einrichtungen gefehlt haben, daß auch ein Zweifel darüber nicht bestehe, daß beim Vorhandensein dieser Einrichtungen die Verletzung des Klägers voraussichtlich nicht eingetreten wäre, so verneint er doch die Frage, ob dem Beklagten die Versäumung der Herstellung dieser Schutzvorrichtungen zur Schuld anzurechnen sei, und weist deshalb die Klage ab. Dabei geht der Berufungsrichter davon aus, daß ein Verschulden des Gewerbeunternehmers nicht ohne weiteres schon dann anzunehmen sei, wenn nicht alle diejenigen Maßnahmen getroffen seien, welche in dem speziellen Gewerbe, insbesondere bei der Konstruktion der Maschinen, als zum Schutze der Arbeiter zweckmäßig an anderen Orten angewendet seien, daß vielmehr nach den Umständen des einzelnen Falles zu untersuchen sei, ob in der Nichtanbringung der Schutzvorkehrungen ein Verschulden zu befinden sei, und daß die Annahme einer Verschuldung stets voraussetze, daß der Fabrikherr die vermißten Schutzvorrichtungen gekannt habe oder doch bei ordnungsmäßigem Betriebe hatte kennen müssen. Das erstere erachtet er als nicht erwiesen, bezüglich des letzteren erkennt er zwar an, daß der Beklagte imstande gewesen sein würde, durch Anfrage bei Sachkundigen, insbesondere bei Inhabern anderer Fabriken, Kenntnis von geeigneten Schutzvorrichtungen zu erlangen, und daß §. 120 a. a. O. unter Umständen auch die Pflicht zur Einziehung von Erkundigungen in sich schließe, nimmt aber an, daß dem Beklagten im vorliegenden Falle, wenn er Erkundigungen nicht eingezogen habe, ein hinreichender Entschuldigungsgrund zur Seite stehe, weil die Fabrik des Beklagten öfter der Inspektion des Gewerbepolizeibeamten, Gewerberates E. in H., unterzogen sei, und auf dessen Veranlassung Verbesserungen an der Maschine vorgenommen seien, dagegen das Fehlen der hier fraglichen Schutzvorrichtungen und die veraltete Konstruktion der Maschine, aus welcher gerade E. jetzt den Vorwurf der Pflichtvernachlässigung herleite, von demselben nicht gerügt sei. Diese für die getroffene Entscheidung maßgebenden Erwägungen des Berufungsgerichtes beruhen auf unrichtiger Beurteilung der Bedeutung der Vorschriften in §. 120 R.G.O. und der danach dem Gewerbeunternehmer obliegenden Verpflichtungen, insbesondere erscheinen die Erwägungen, aus denen das Verschulden des Beklagten verneint worden ist, rechtsirrtümlich.
Da der Gewerbeunternehmer schon vermöge der ihm nach dem Dienstmietvertrage obliegenden Diligenz für die Sicherung von Leben und Gesundheit der von ihm beschäftigten Arbeiter zu sorgen hat, nach §. 120 R.G.O. ihm aber allgemein die Verpflichtung auferlegt ist, alle diejenigen Einrichtungen auf seine Kosten herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Fabrikstätte zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit notwendig sind, so haftet derselbe für den durch Verletzung seiner Arbeiter entstandenen Schaden, sobald das zur thunlichsten Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr, für Leben und Gesundheit mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Fabrikstätte Notwendige objektiv nicht besteht, der Kausalzusammenhang zwischen diesem Mangel und dem eingetretenen Unfalle anzunehmen ist und nicht besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergiebt, daß auch bei Aufwendung aller Sorgfalt und Sachkunde, welche ein ordentlicher Gewerbetreibender besitzen und anwenden muß, die zum Schutze der Arbeiter geeigneten und notwendigen Schutzvorrichtungen zur Zeit des Unfalles nicht getroffen werden konnten.1
Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Gewerbeunternehmer die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der betreffenden Schutzvorrichtungen kannte, und ob dieselben allgemein bekannt und in anderen Fabriken angewendet wurden, es ist vielmehr seine Pflicht, nach denjenigen Einrichtungen sich zu erkundigen, welche für den Gewerbebetrieb, in welchem er Arbeiter beschäftigt, zum thunlichsten Schutze derselben geeignet und notwendig sind.2
Da nun im vorliegenden Falle feststeht, daß keine der drei von dem Kläger und von dem Sachverständigen angegebenen Schutzvorrichtungen an der Lumpenschneidemaschine, an welcher der Kläger von dem Beklagten beschäftigt worden, zur Zeit des dem Kläger zugestoßenen Unfalles vorhanden gewesen, daß dieselben zum Schutze der Arbeiter gegen die mit der Beschäftigung an dieser Maschine verbundene Gefahr für Leben und Gesundheit geeignete Vorrichtungen sind, und daß beim Vorhandensein der einen oder der anderen dieser Schutzvorrichtungen, von denen der Beklagte bei Anwendung der ihm obliegenden Sorgfalt durch Erkundigungen an geeigneter Stelle, insbesondere bei den Besitzern anderer Papierfabriken, in denen bald die eine, bald die andere dieser Schutzvorrichtungen zur Anwendung gebracht ist, sich Kunde hätte verschaffen können, die Verletzung des Klägers voraussichtlich verhütet sein würde, so liegen diejenigen Voraussetzungen vor, unter welchen eine Schadensersatzpflicht des Beklagten nach §. 120 R.G.O. und nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen gegeben ist. Der Grund aber, aus welchem der Berufungsrichter die Nichtanwendung der dem Beklagten gesetzlich obliegenden Sorgfalt eines ordentlichen Gewerbetreibenden für entschuldigt erachtet, kann nicht gebilligt werden. Der Umstand, daß der Gewerberat E. bei der wiederholten Inspektion der Fabrik des Beklagten und bei der Besichtigung der hier speziell in Frage stehenden Lumpenschneidemaschine die Mängel der Konstruktion dieser Maschine und namentlich das Fehlen der erwähnten Schutzvorrichtungen nicht gerügt hat, würde von Bedeutung sein, wenn es sich um die nach §. 147 R.G.O. angedrohten Strafen handelte, die civilrechtliche Verhaftung des Gewerbeunternehmers für den durch Nichtherstellung der zum Schutze der Arbeiter notwendigen Einrichtungen entstandenen Schaden, kann aber dadurch nicht ausgeschlossen werden, daß von dem Gewerbepolizeibeamten die Notwendigkeit dieser Vorrichtungen dem Gewerbeunternehmer bei der Revision der Fabrik nicht angezeigt ist. Denn der Gewerbeunternehmer hat nach dem Gesetze selbständig die Verpflichtung, für die zum Schutze der Arbeiter notwendigen Einrichtungen in seinem Gewerbebetriebe Sorge zu tragen, jedes fahrlässige Nichterkennen der Notwendigkeit der Schutzvorrichtung und das Unterlassen der Herstellung derselben verpflichtet den Gewerbeunternehmer zum Schadensersatze. Die Verletzung der Sorgfalt eines ordentlichen Gewerbeunternehmers, welche darin liegt, daß der Beklagte darüber, welche Einrichtungen zur Verhütung der mit der Beschäftigung an der Lumpenschneidemaschine verbundenen Gefahren geeignet und notwendig seien, Erkundigungen nicht eingezogen hat, wird dadurch nicht beseitigt, daß der Gewerberat E. bei der Inspektion der Fabrik des Beklagten diese Mängel nicht gerügt hat. Beklagter durfte dabei sich nicht beruhigen und kann durch ein etwaiges Versehen des Gewerbepolizeibeamten bei der Inspektion seine eigene Verletzung der ihm obliegenden Sorgfalt nicht decken." ...