RG, 11.11.1918 - VI 242/18
Bildet bei vorhandener Beiwohnungsfähigkeit der Mangel der Zeugungs- oder Gebärfähigkeit unter keinen Umständen einen Eheanfechtungsgrund?
Tatbestand
Die Parteien, die in beiderseits zweiter Ehe am 27. Februar 1912 geheiratet haben, leben seit dem 25. Oktober 1913 getrennt. Zur Zeit der Eheschließung war der Kläger 32 Jahre, die Beklagte 25 Jahre alt. Der Kläger hat zunächst auf Grund des § 1568 BGB. die Scheidung der Ehe begehrt. Gegen das die Klage abweisende Urteil legte er Berufung ein und beantragte nunmehr in erster Linie, die Ehe für nichtig zu erklären, eventuell aber zu scheiden. Er ficht die Ehe wegen Irrtums und gröblicher Täuschung durch die Beklagte an, weil er nicht gewußt, vielmehr erst im Laufe des Rechtsstreits erfahren habe, daß bereits vor Eingehung seiner Ehe mit der Beklagten deren Gebärmutter durch einen operativen Eingriff entfernt war, was ihm die Beklagte arglistigerweise verschwiegen habe. Diese hat zwar zugegeben, daß ihre Gebärmutter durch einen operativen Eingriff bereits vor Eingehung der Ehe entfernt war, behauptet aber, auf diesen Umstand habe der Kläger bei der Verheiratung kein Gewicht gelegt.
Die Berufung des Klägers wurde zurückgewiesen. Seine Revision war von Erfolg.
Gründe
"Das Berufungsgericht weist die Eheanfechtungsklage mit der Erwägung zurück, daß, wie nach herrschender Rechtsprechung und Rechtslehre Zeugungsunfähigkeit des Mannes bei vorhandener Beiwohnungsfähigkeit keinen Eheanfechtungsgrund bilde; so auch bei der Frau, der nach Entfernung der Gebärmutter die Beiwohnungsfähigkeit geblieben sei, das Fehlen der Gebärmutter nicht als Anfechtungsgrund anerkannt werden könne.
Schon dieser Ausgangspunkt des angefochtenen Urteils ist rechtsirrtümlich, da er auf einer Verletzung der §§ 1333, 1334 BGB. beruht. Nach der ersteren Vorschrift ist ein Eheanfechtungsgrund dann gegeben, wenn ein Ehegatte sich bei der Eheschließung über solche Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von deren Eingehung abgehalten haben würden. Dem sittlichen Wesen der Ehe wird aber die Erwägung des Berufungsgerichts nicht gerecht. Wenngleich nämlich das Bürgerliche Gesetzbuch eine ausdrückliche Vorschrift des Inhalts, wie sie in dem von der Ehe handelnden II. Teil des Allg. Landrechts an die Spitze gestellt ist (§ 1. "Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und die Erziehung der Kinder"), nicht enthält, so muß doch auch nach jetzigem Rechte die Kindererzeugung als dem sittlichen Zwecke und Wesen der Ehe entsprechend angesehen werden. Von diesem Gedanken ausgehend, ist denn auch von jeher die "Impotenz" des Mannes als ein Eheanfechtungsgrund angesehen worden (vgl. Mot. zum 1. Entw. des BGB. Bd. 4 S. 77). Der Entwurf glaubte aber, daß die "Beiwohnungsunfähigkeit", wie er das Wort "Impotenz" verdeutscht hat, dem davon Betroffenen in der Regel bekannt sein werde, so daß alsdann § 1259 Nr. 1 des Entwurfs Platz greife. Da, wo dies nicht der Fall, sei eine Abweichung von dem Grundsatze des § 102 des Entwurf, der einen Irrtum im Beweggründe für unbeachtlich erklärt, nicht geboten. Demgegenüber ist aber durch die Fassung des Gesetzes, wie sie bei der Beratung des Entwurfs durch die II. Kommission (Prot. Bd. 4 S. 7 2 flg.) umgestaltet worden ist, auch die Berücksichtigung der "Beiwohnungsunfähigkeit" als einer die Anfechtung der Ehe begründenden Eigenschaft in vollem Umfang ausdrücklich anerkannt worden (a .a. O. S. 78).
Nun hat zwar die Rechtsprechung und Rechtslehre den Begriff der "Impotenz" insofern umgestaltet, als sie zwischen der "Beiwohnungsunfähigkeit" auf der einen und der "Zeugungs- (oder Gebär-)unfähigkeit" auf der anderen Seite unterscheidet. So heißt es in dieser Hinsicht in der Entscheidung des RGZ vom 11. April 1906, IV. 504/05 (teilw. abgedr. Jur. Wochenschr. 1906 S. 389 Nr. 15):
... "Es ist nicht als rechtsirrtümlich anzusehen, wenn das Berufungsgericht zum Ergebnis gelangt ist, der hier in Betracht kommende trotz ungeschmälerter Beiwohnungsfähigkeit von jeher bestehende Mangel der Fortpflanzungsfähigkeit des einen Ehegatten stelle bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe nicht eine solche persönliche Eigenschaft dar, die den anderen Ehegatten ohne weiteres und unter allen Umständen von der Eingehung der Ehe bei Kenntnis der Sachlage abgehalten haben würde."
In dieser Fassung ist dem Satze unbedenklich zuzustimmen, da; wie schon die amtliche Begründung zum I. Entw. des BGB. (Bd. 4 S. 74) mit Recht hervorhebt, "nicht unter allen Umständen die Annahme gerechtfertigt sein wird, daß die Ehe in der sicheren Erwartung der Beiwohnungsfähigkeit geschlossen ist. Eine solche Erwartung wird z. B. bei der Eheschließung zwischen betagten Personen nicht selten zu verneinen sein". Immerhin ist aber daran festzuhalten, daß es der Regel nach, und von einem gegenteiligen erkennbaren Willen beider Ehegatten abgesehen, dem wahren Wesen der Ehe entspricht, daß diese insbesondere auch und vornehmlich zum Zwecke der Kindererzeugung abgeschlossen wird. Es würde also dem sittlichen Wesen der Ehe geradezu widersprechen, wenn lediglich die Fähigkeit, den Geschlechtsakt auszuüben, also einen rein sinnlichen Trieb befriedigen zu können, für ausreichend erachtet würde, um der auf § 1333 BGB. begründeten Klage den Erfolg zu versagen, so daß also die Tatsache der mangelnden Zeugungs- oder Gebärfähigkeit völlig außer Betracht bliebe.
Der oben mitgeteilte in der Entscheidung vom 11. April 1906 aufgestellte Satz ist in der Rechtslehre vielfach mißverstanden worden. Es wird nämlich unter Berufung auf diesen Satz die Ansicht vertreten, daß regelmäßig das Vorhandensein der Beiwohnungsfähigkeit im Sinne der Fähigkeit zur Ausübung des Geschlechtsaktes genüge und daß deshalb der Mangel der Zeugungs- und Gebärfähigkeit keinen Eheanfechtungsgrund im Sinne des § 1333 BGB. darstelle. Käme es für die eheliche Lebensgemeinschaft lediglich auf die Vornahme des Geschlechtsaktes an, so würde es sich auch kaum rechtfertigen lassen, das Verlangen eines Ehegatten, bei der Beischlafsvollziehung ein sog. Präservativ zu benutzen, als Verweigerung des Geschlechtsverkehrs im Sinne des § 1568 BGB. anzusehen, wie dies indessen in der Entscheidung des RG.s vom 2. Mai 1901, IV. 62/1901 mit Recht angenommen worden ist. Diesem Standpunkt ist um so mehr beizupflichten, als gerade während der Zeit des gegenwärtigen Weltkriegs die Bedeutung einer richtigen Bevölkerungspolitik immer mehr hervorgetreten ist, und als auch schon gesetzgeberische Arbeiten im Gange sind, die darauf abzielen, jede künstliche Verhinderung der Fortpflanzung mit allen Mitteln des Straf- und Verwaltungsrechts zu bekämpfen."1 ...
- 1. In der Rechtslehre haben Staudinger, Kommentar zum BGB. Anm. 3 b zu § 1383 und Gaupp im Arch. für die ziv. Praxis Bd. 104 S. 865 flg. sowohl die Zeugungsunfähigkeit des Mannes wie die Unfruchtbarkeit der Frau als Eheanfechtungsgrund bezeichnet; in letzterer Hinsicht ebenso Planck, Anm. 3a zu § 1333 BGB. A. A. Komm. von RGR. Anm. 5 zu § 1333; Dernburg, Bürgerliches Recht Bd. 4 § 19 Nr. 8; Meißner, Amn. 4a zu § 1338; Endemann, Lehrbuch Bd. 2 § 162 Nr. 22 (S. 208); Schmidt, Familienrecht Anm. 3cß zu § 1333: Eck-Leonhardt, Vorträge über das BGB. S. 376; Wolff bei Enneccerus Bd. Il, 2 (6-9. Aufl.) § 25 Anm. 28 S. 79. D. E.