RG, 22.11.1881 - III 193/81
Sind die in der 1. 68 pr. Dig. ad leg. Falc. 35, 2 für die Berechnung der falcidischen Quart gegebenen Vorschriften auch anwendbar in sonstigen Fällen, und besonders in Haftpflichtsachen hinsichtlich der Entscheidung über die Dauer der als Entschädigung für die Tötung des Ernährers zuzuerkennenden Rente?
Kann in Haftpflichtsachen der Witwe eines Getöteten, welche während ihrer Ehe keine Erwerbsgeschäfte betrieben hat, auf die ihr zu gewährende Entschädigung ein ihr zuzumutender Erwerb in Abzug gebracht werden?
Tatbestand
Die Klägerin war mit einem in der Eisengießerei der Beklagten angestellten Former verheiratet. Das Einkommen der Eheleute bestand nur in dem Arbeitsverdienste des Ehemannes; der Klägerin lag nur die Besorgung des ehelichen Haushaltes ob. Die Ehe war kinderlos. Der Ehemann starb im Alter von 49 Jahren an einer bei seiner Arbeit erlittenen Verletzung. Die Beklagte wurde in Gemäßheit des Haftpflichtgesetzes verurteilt, der Klägerin zu ihrer Entschädigung eine Rente zu gewähren, und zwar so lange, als der Verstorbene ohne diese Verunglückung wahrscheinlich noch gelebt haben würde, oder bis zu ihrem früheren Tode. Hiernach erkannte die zweite Instanz in Anwendung der Vorschriften, welche in 1. 68 pr. Dig. ad leg. Falc. 35, 2 über die Veranschlagung der Lebensdauer gegeben sind, daß die Rente spätestens in dem Zeitpunkte aufzuhören habe, in welchem der Verstorbene sein 60. Lebensjahr vollendet haben würde. Die Höhe der Rente bestimmte sie in der Weise, daß sie von dem Betrage, welchen der Verstorbene nach Verhältnis seines Standes und seines Einkommens für den Unterhalt der Klägerin aufzuwenden verpflichtet gewesen sei, den Betrag in Abzug brachte, welchen nach ihrer Annahme die Klägerin, wie unten näher angegeben, durch Lohnarbeit zu verdienen imstande sei. Auf die Nichtigkeitsbeschwerde der Klägerin wurden beide Entscheidungen vernichtet aus folgenden Gründen:
Gründe
"Die Meinung der Klägerin, daß die Anwendbarkeit der 1.68 pr. cit. für Haftpflichtsachen ausgeschlossen sei durch das in §. 7 bezw. §. 6 des Haftpflichtgesetzes dem Richter eingeräumte freie Ermessen, ist nicht richtig; die betreffende Bestimmung dieser Paragraphen bezieht sich nur auf die prozessualischen Befugnisse des Richters und läßt das materielle Civilrecht, welchem die Vorschriften der 1. 68 angehören, unberührt.1
Aber die Vorschriften dieser Gesetzesstelle sind nur gegeben für einen speziellen Fall, nämlich für die Berechnung der falcidischen Quart, und sie lassen daher eine ausdehnende Anwendung auf sonstige Fälle, in welchen es auf die Bestimmung der wahrscheinlichen Lebensdauer eines Menschen ankommt, wenigstens auf nicht erbrechtliche Fälle, und insbesondere auf die Ermittelung des Betrages von Schadensersatzansprüchen nicht zu.2
Hat sonach die I. 66 für den vorliegenden Fall außer Anwendung zu bleiben, so kann die Dauer der Zeit, welche der Verstorbene ohne die in Rede stehende Verunglückung wahrscheinlich noch gelebt haben würde, nur bestimmt werden auf Grund der nach den Ergebnissen der Statistik einem Menschen seines Alters durchschnittlich zuzuschreibenden Lebensdauer, und daneben unter Berücksichtigung desjenigen, was in betreff solcher Verhältnisse seiner Person, wegen deren für ihn eine längere oder kürzere Lebensdauer, als die durchschnittliche, in Aussicht genommen werden durfte (Gesundheitszustand, Beruf, Lebensgewohnheiten), beigebracht worden ist."...
(Es folgt eine auf Grund der Angaben neuerer Mortalitätstabellen nach freiem Ermessen getroffene Festsetzung der Dauer der Rente.)
"Die Vorinstanz hat ferner rechtlich geirrt, indem sie der Meinung ist, daß von dem Betrage, welchen der Verstorbene für den Unterhalt der Klägerin aufzuwenden verpflichtet war, derjenige Betrag in Abzug zu bringen sei, welchen die Klägerin "mit derselben Arbeitskraft, welche sie zu Gunsten des gemeinsamen Hausstandes aufwendete", fortan durch eigene Arbeit "ohne Beschwerung" verdienen könne. Die Verhältnisse der Ehe der Klägerin waren nicht der Art, daß ihr zugemutet werden mußte und von ihrem Ehemann zugemutet worden ist, zur Vermehrung der ehelichen Einnahmen und somit zugleich zur Bestreitung ihres eigenen Unterhaltes durch eigene Lohnarbeit etwas beizutragen. Da somit während ihrer Ehe alle zu ihrem Unterhalte erforderlichen Mittel aus dem Verdienste ihres Ehemannes zu bestreiten waren und diese Mittel ihr jetzt durch dessen Tod gänzlich entzogen wurden sind, so müssen ihr dieselben in Gemäßheit der Bestimmung des §. 3 Nr. 1 des Haftpflichtgesetzes jetzt unverkürzt durch die Beklagte ersetzt werden. Der Umstand, daß die Dienste, welche die Klägerin während ihrer Ehe in dem ehelichen Haushalte zu leisten hatte, durch den Tod ihres Ehemannes teilweise in Wegfall gekommen sind, kann nicht dahin führen, ihr, gleichsam zur Kompensation hierfür, aufzuerlegen, daß sie nunmehr ihre somit freigewordene Arbeitskraft behufs des Erwerbes ihres Unterhaltes in einer Weise zu bethätigen habe, zu welcher sie während ihrer Ehe nicht verpflichtet war." ...
- 1. Diese Frage ist hinsichtlich der Anwendbarkeit der Bestimmungen des §. 35 des sächs. V.G.B.'Z unentschieden gelassen in den Entsch. des R.O.H.G.'s Bd. 14 Nr. 128 S. 411. D. E.
- 2. Über den Umfang der Anwendbarkeit der I. 68 pr. vgl. namentlich Pfeiffer im Arch. f. civil. Pr. Bd. 28 S. 295 flg., und besonders wegen ihrer Anwendbarkeit auf Bemessung des Schadensersatzes wegen Tötung des Ernährers S. 345 - 349. D. E.