BVerfG, 06.05.1970 - 2 BvR 158/70
Der Grundsatz der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl verlangt nicht, daß bei einem Volksentscheid nach Art. 29 Abs. 3 GG abstimmungsberechtigt auch derjenige ist, der nur im Abstimmungsgebiet geboren ist.
Beschluß
des Zweiten Senats vom 6. Mai 1970
- 2 BvR 158/70 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn Horst P... gegen § 22 Absatz 1 des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid bei Neugliederung des Bundesgebietes nach Artikel 29 Absatz 2 bis 6 des Grundgesetzes in der Fassung des Gesetzes über den Volksentscheid im Gebietsteil Bades des Landes Baden-Württemberg gemäß Artikel 29 Absatz 3 des Grundgesetzes vom 26. Februar 1970 (BGBl. I S. 201).
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.
Gründe
A.
I.
Der Gebietsteil Baden des Landes Baden-Württemberg hat nach dem 8. Mai 1945 seine Landeszugehörigkeit im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 GG geändert (BVerfGE 5, 34 [42 f.]). Das Bundesverfassungsgericht ordnete durch Urteil vom 30. Mai 1956 (BVerfGE 5, 34) aufgrund der vorgenannten Vorschrift die Durchführung eines von dem Heimatbund Badenerland e. V. in Karlsruhe beantragten Volksbegehrens an, das auf die Wiederherstellung des alten Landes Baden gerichtet war. Das Volksbegehren wurde daraufhin in der Zeit vom 3. bis 16. September 1956 durchgeführt und war mit einem Eintragungsergebnis von 15,1 v.H. der seinerzeit wahlberechtigten Bevölkerung erfolgreich (vgl. Buchst. A. der Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung über den Volksentscheid im Gebietsteil Baden des Landes Baden- Württemberg nach Art. 29 Abs. 3 GG, BTDrucks. VI/211). Nachdem der im Dezember 1962 von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Neugliederung des Bundesgebietes gemäß Art. 29 Abs. 1 bis 6 des Grundgesetzes (BTDrucks. IV/834), das als erste Phase einer allgemeinen Neugliederung eine Entscheidung über den Fortbestand des Landes Baden-Württemberg vorsah (a.a.O., A. II. der Begründung), vom Bundestag nicht mehr verabschiedet und in der darauffolgenden Wahlperiode nicht erneut eingebracht worden war (BTDrucks. VI/211, Buchst. A. der Begründung), wurde durch das Art. 29 betreffende 25. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1241) eine Frist zur Regelung der Badenfrage gesetzt. Art. 29 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG n.F. bestimmt nunmehr:
(3) Ist ein Volksbegehren nach Absatz 2 zustande gekommen, so ist in dem betreffenden Gebietsteil bis zum 31. März 1975, im Gebietsteil Baden des Landes Baden-Württemberg bis zum 30. Juni 1970 ein Volksentscheid über die Frage durchzuführen, ob die angestrebte Änderung vorgenommen werden oder die bisherige Landeszugehörigkeit bestehen bleiben soll. Stimmt eine Mehrheit, die mindestens ein Viertel der zum Landtag wahlberechtigten Bevölkerung umfaßt, der Änderung zu, so ist die Landeszugehörigkeit des betreffenden Gebietsteiles durch Bundesgesetz innerhalb eines Jahres nach Durchführung des Volksentscheides zu regeln....
Zur Durchführung des Volksentscheides (Art. 29 Abs. 6 Satz 2 GG n.F.) im Gebietsteil Baden des Landes Baden-Württemberg beschloß der Bundestag das Gesetz über den Volksentscheid im Gebietsteil Baden das Landes Baden-Württemberg gemäß Art. 29 Abs. 3 des Grundgesetzes vom 26. Februar 1970 - VolksentscheidsG Bad.-Württ. - (BGBl. I S. 201). Gemäß Art. 1 § 3 VolksentscheidsG Bad.-Württ. kommt der Volksentscheid zugunsten einer Wiederherstellung des früheren Landes Baden als selbständiges Land entsprechend der Regelung des Art. 29 Abs. 3 Satz 2 GG n.F. dann zustande, wenn eine Mehrheit, die mindestens ein Viertel der zum Landtag wahlberechtigten Bevölkerung im Gebietsteil Baden umfaßt, die Frage nach der Wiederherstellung bejaht. Im übrigen finden nach Art. 1 § 4 VolksentscheidsG Bad.-Württ. auf das Verfahren die Vorschriften der §§ 20 ff. des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid bei Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 Abs. 2 bis 6 des Grundgesetzes vom 23. Dezember 1955 - NeugliederungsG - (BGBl. I S. 835) in der Fassung des Art. 2 VolksentscheidsG Bad.-Württ. Anwendung.
§ 22 Abs. 1 NeugliederungsG geht hinsichtlich des Rechts zur Teilnahme am Volksentscheid vom Wohnsitz aus. Als stimmberechtigt wird derjenige bezeichnet, der am Abstimmungstage seinen Wohnsitz oder seinen dauernden Aufenthalt im Abstimmungsgebiet hat und nach den landesgesetzlichen Vorschriften zum Landtag wahlberechtigt ist. § 22 Abs. 2 NeugliederungsG a.F., nach dem u. a. auch derjenige für den in Baden bevorstehenden Volksentscheid stimmberechtigt gewesen wäre, der in dem Abstimmungsgebiet geboren und zum Bundestag wahlberechtigt ist, ist durch Art. 2 Nr. 2 VolksentscheidsG Bad.-Württ. ersatzlos gestrichen worden. Für den Fortfall dieser an den Geburtsort anknüpfenden Stimmrechtsregelung, deren Streichung in dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Neugliederung des Bundesgebietes gemäß Art. 29 Abs. 1 bis 6 des Grundgesetzes (BTDrucks. IV/834) ebensowenig vorgesehen war (vgl. § 4 a.a.O.) wie in Art. 2 des Regierungsentwurfs für das VolksentscheidsG Bad.-Württ. (BTDrucks. VI/211), war in erster Linie die Erwägung maßgebend, daß andernfalls der in Art. 29 Abs. 3 Satz 2 GG n.F. für das Quorum festgelegte Personenkreis von dem Personenkreis der Abstimmungsberechtigten abgewichen wäre (vgl. Kurzprotokoll der 6. Sitzung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages vom 28. Januar 1970 S. 7 f.). In dem Schriftlichen Bericht des Innenausschusses (BTDrucks. VI/303) ist insoweit ausgeführt (A. II. Art. 2 Nr. 1a a.a.O.):
Das Problem des § 22 (erg.: NeugliederungsG) besteht darin, daß nach Abs. 2 auch stimmberechtigt ist, "wer in diesem Gebiet geboren und und zum Bundestag wahlberechtigt ist". Bei Beibehaltung dieser Regelung könnte das Quorum von einem Viertel der Wahlberechtigten des Gebietsteiles Baden nicht ermittelt werden, da die Zahl aller Stimmberechtigten eine unbekannte Größe wäre. Art. 29 Abs. 3 GG läßt deshalb für die Ermittlung des Quorums nur die zum Landtag Wahlberechtigten zu. Der Ausschuß hält es aus diesem Grunde für verfassungsrechtlich geboten, den Personenkreis der Abstimmungsberechtigten ebenfalls auf die zum Landtag Wahlberechtigten zu beschränken.... (Vgl. auch den Mündlichen Bericht des Berichterstatters des Innenausschusses im Rahmen der zweiten und dritten Beratung des Entwurfs eines VolksentscheidsG Bad.-Württ., BT 6. WP StenBer. S. 1219).
II.
Der in Pforzheim geborene, jetzt in Tübingen wohnhafte Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen diejenigen gesetzlichen Bestimmungen, die die Stimmberechtigung für den Volksentscheid über die Zugehörigkeit des Gebietsteiles Baden zum Lande Baden-Württemberg ausschließlich an den Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt im Abstimmungsgebiet knüpfen (§ 22 Abs. 1 NeugliederungsG in der Fassung des Art. 2 Nr. 2 VolksentscheidsG Bad.-Württ.). Er meint, daß sein "Bürgerrecht" verletzt sei, wenn zwar die zugezogenen Neubürger, nicht aber er als gebürtiger Badener abstimmen dürften. Bei der Ostpreußenabstimmung 1920 seien ebenfalls alle gebürtigen Ostpreußen stimmberechtigt gewesen. Wäre heute in Ostpreußen, Pommern oder Schlesien eine Volksabstimmung durchzuführen, so hätte nach Ansicht des Beschwerdeführers niemand Verständnis dafür, wenn man nur die in diesen Gebieten noch wohnenden Bürger daran teilnehmen lassen würde.
B.
I.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Sie ist innerhalb der Jahresfrist des § 93 Abs. 2 BVerfGG erhoben worden. Der Beschwerdeführer ist durch die angegriffene Norm unmittelbar betroffen. Er bezeichnet zwar nicht ausdrücklich ein bestimmtes Grundrecht als verletzt. Seinen Ausführungen ist jedoch in einer den Anforderungen des § 92 BVerfGG genügenden Weise zu entnehmen, daß eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG behauptet werden soll.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist indessen offensichtlich unbegründet. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 22 Abs. 1 NeugliederungsG in der Fassung vom 26. Februar 1970 bestehen keine Bedenken.
1.
Die Stimmrechtsgrundsätze, die in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für das Bundestagswahlrecht und in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG für das Wahlrecht in den Ländern, Kreisen und Gemeinden ihren verfassungsrechtlich verbindlichen Ausdruck gefunden haben, gelten als ungeschriebenes demokratisches Verfassungsrecht auch für den in dem Gebietsteil Baden durchzuführenden Volksentscheid (vgl. BVerfGE 13, 54 [91 f.]).
2.
Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, der durch die von dem Beschwerdeführer beanstandeten Normen berührt sein könnte, ist ein Anwendungsfall des allgemeinen, als Grundrecht des Einzelnen in Art. 3 Abs. 1 GG garantierten Gleichheitssatzes. Er unterscheidet sich von dem allgemeinen Gleichheitssatz durch seinen formalen Charakter und fordert, daß jeder seine staatsbürgerlichen Rechte in formal möglichst gleicher Weise ausüben kann.
Diese Formalisierung im Bereich des Wahlrechts ist allerdings nicht mit einem Verbot jeglicher Differenzierung verbunden. Solche Durchbrechungen sind verfassungsrechtlich zulässig, sofern für sie ein zwingender Grund besteht (BVerfGE 4, 375 [382]; 11, 266 [271 f.] mit weiteren Nachweisen).
3.
Art. 29 Abs. 3 Satz 2 GG n.F. legt das Quorum für einen erfolgreichen Volksentscheid auf mindestens ein Viertel der zum Landtag wahlberechtigten Bevölkerung fest. Damit hat der Gesetzgeber gleichzeitig hinsichtlich des Rechts auf Teilnahme am Volksentscheid die Entscheidung zugunsten des Wohnsitzprinzips getroffen. Die danach tatsächlich zwischen Art. 29 Abs. 3 Satz 2 GG n.F. und § 22 Abs. 2 NeugliederungsG a.F. gegebene Diskrepanz auszugleichen, war eine legitime gesetzgeberische Aufgabe.
4.
Wenn die Übereinstimmung nicht durch eine Änderung des Art. 29 Abs. 3 Satz 2 GG n.F., sondern durch Streichung des § 22 Abs. 2 NeugliederungsG a.F. herbeigeführt worden ist, so ist das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Urteil vom 23. Oktober 1951 (BVerfGE 1, 14 [57]) ausgesprochen, aus dem Grundgesetz lasse sich kein Anhaltspunkt dafür entnehmen, daß sich bei einer Volksabstimmung der Kreis der Abstimmungsberechtigten allein oder zusätzlich nach dem Geburtsprinzip bestimmen muß . Wenn es danach insoweit grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen ist, den Kreis der Abstimmungsberechtigten festzulegen, so gilt das gleichermaßen für den Volksentscheid. Anhaltspunkte dafür, daß dieser Kreis durch §§ 22 NeugliederungsG n.F. so eng gezogen ist, daß von einem "Entscheid des Volkes" keine Rede mehr sein kann, sind nicht ersichtlich. Die Zahl derjenigen, die in dem Abstimmungsgebiet geboren, aber nicht ansässig sind, und die dennoch von einem Abstimmungsrecht Gebrauch machen würden, ist vergleichsweise klein und konnte daher bei der Festlegung der Stimmberechtigung unberücksichtigt bleiben.
5.
Gegen den Ausschluß des in dem Abstimmungsgebiet Geborenen, aber nicht Ansässigen lassen sich Bedenken auch nicht daraus herleiten, daß der Neubürger, dem es unter Umständen an einer Bindung an das Abstimmungsgebiet fehlen mag, die der des dort Geborenen vergleichbar ist, bei dem Volksentscheid stimmberechtigt ist, wenn er die Voraussetzungen des jeweiligen Landeswahlrechts im übrigen erfüllt. Die Frage, ob ein Gebietsteil selbständiges Land werden soll, berührt in erster Linie den in dem Gebietsteil ansässigen Aktivbürger. Seine Lebensgestaltung - anders als die des dort zwar geborenen, aber nicht mehr wohnhaften Bürgers - ist in vielfältiger Weise mit der konkreten politischen Ordnung des engeren Bereichs, in dem er lebt, verknüpft. Diese Besonderheiten rechtfertigen die Differenzierung.
6.
Der Streichung des § 22 Abs. 2 NeugliederungsG a.F. kann schließlich bereits im Hinblick auf die ihr zugrunde liegende Motivation nicht entgegengehalten werden, daß der Gesetzgeber auf diesem Wege das Ergebnis des Volksentscheids in einem Einzelfall - nämlich in der Badenfrage - habe manipulieren wollen. Es ist vielmehr lediglich eine Neuregelung getroffen worden, die für alle bis zum 31. März 1975 noch durchzuführenden Volksentscheide (Art. 29 Abs. 3 Satz 1 GG) Geltung beansprucht.
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